Wie Kinder aus Neupommern eine Sprache erfanden
Am südöstlichen Rand des weiten Pazifiks, eintausendzweihundert Kilometer nördlich von Australien liegt das Bismarck-Achipel. Dessen größte Insel ist Neubritannien, das vor hundert Jahren noch Neupommern hieß. Dort umgeben aktive Vulkane die Stadt Rabaul. Einer ragt mitten aus dem Hafenbecken, sein Ausbruch 1937 tötete 200 Menschen und zerstörte große Teile der Stadt, darunter auch Gebäude aus der deutschen Kolonialzeit.
Alles begann in Kaiser-Wilhelm-Land
Denn Rabaul wurde unter dem deutschen Namen Simpsonhafen rund um die gleichnamige Hafenanlage erbaut. Neuguinea, vor dessen nordöstlicher Küste das Bismarck-Archipel liegt, war 1885 unter deutsche Herrschaft gelangt und wurde auf den Namen Kaiser-Wilhelm-Land getauft. 1909 verlegte der damalige Gouverneur von Deutsch-Neuguinea, Albert Hahl, seinen Sitz, das Bezirksgericht, das Oberpostgebäude und das Hospital aus dem 30 Kilometer entfernten Herbertshöhe (heute Kokopo) nach Rabaul. Daraufhin wurde es von den Kolonialbehörden als repräsentative Stadt mit vielen neuen Gebäuden, Alleen und Gärten geplant. Es gab sogar einen botanischen Garten, der laut dem "Deutschen Koloniallexikon" als "Anzuchtstelle für tropische Nutzpflanzen" fungierte.
Nur eines gab es in dieser kleinen deutschen Tropenidylle am Fuße der Vulkane nicht: weiße Frauen. Fast ausschließlich Männer kamen als Seeleute, Kolonialbeamte und Händler nach Rabaul. Viele von ihnen gingen Beziehungen mit Einheimischen ein, oft sogar Ehen. Nicht aus idealistischer Rassenverbrüderung, sondern aus reiner Not. Und das hat Spuren hinterlassen. Bis heute.
Zwar sind nur wenige mit Händen zu greifende Relikte aus der deutschen Zeit geblieben – nicht zuletzt, weil die Japaner 1942 die Stadt bombardierten und weil ein Ausbruch des sechs Kilometer entfernten Vulkans Tavurvur sie 1994 ein weiteres Mal zerstörte. Doch die koloniale Vergangenheit Rabauls lebt weiter in der Sprache von etwa 100 Menschen, die sich heute noch in einer ganz eigenen, auf Papua-Neuguinea entstandenen Variante des Deutschen unterhalten können: Sie nennen es "Falsche Deutsch", "Kaputtene Deutsch" oder "Unsere Deutsch". In der Forschung ist es als Unserdeutsch bekannt.
Craig Volker – ein australischer Germanist entdeckt Unserdeutsch
Lange war die Existenz von Unserdeutsch in Vergessenheit geraten. Die kleine deutsche Garnison von Rabaul wurde bereits zu Beginn des Ersten Weltkriegs von australischen Landungstruppen überwältigt. Schon im Oktober 1914 berichtet der "Sydney Morning Herald", dass Oberst Holmes, der Kommandant der Australier, dem Bürgermeister eine der dabei erbeuteten Flaggen des Kaiserreichs Deutschland als Schmuck fürs Rathaus übergeben habe. Mit der Eroberung endete de facto die Zeit Papua-Neuguineas als deutsche Kolonie.
Erst sechs Jahrzehnte später, Ende der Siebzigerjahre, machte der australische Student Craig Volker eine elektrisierende Entdeckung: Um Geld zu verdienen, gab er an der Ostküste Deutschunterricht. Eines Tages kam in der Stadt Goldcoast ein schwarzes Mädchen zu ihm, dass die Sprache schon recht gut konnte – nur mit einer merkwürdigen Grammatik. "Wo haben Sie Deutsch gelernt?", fragte Volker. "Bei uns zu Hause spricht man so", antwortete die junge Frau. "Zu Hause" – das war, wie Volker herausfand, einerseits die Familie, andererseits Papua-Neuguinea, von wo ihre Eltern gekommen waren. Der Linguist Volker begriff rasch, dass er ein unbekanntes Kreoldeutsch entdeckt hatte.
Volker, der nach Jahren in Japan mittlerweile in Papua-Neuguinea lebt und alsProfessor lehrt, gehört nun zu einem Team von Wissenschaftlern, das endlich – bevor die letzten Sprecher sterben – Unserdeutsch dokumentiert, aufzeichnet und erforscht. Organisiert und gelenkt wird das Projekt allerdings von zwei Germanisten der Universität Augsburg: Péter Maitz und Werner König. Maitz erklärt, was Unserdeutsch mit dem Standarddeutschen verbindet und wo die Unterschiede liegen: "Ungefähr neun Zehntel kann man als Deutscher verstehen, weil der Wortschatz zu neunzig Prozent mit dem Hochdeutschen identisch ist. Die Grammatik unterscheidet sich allerdings erheblich. Zum Beispiel gibt es kein Genus der Substantive – also kein Maskulinum, Femininum und Neutrum. Es gibt keine Zeiten: ,I geht' kann sowohl ,ich gehe' als auch ,ich ging' beziehungsweise ,ich bin gegangen' bedeuten." Andererseits wirken viele Einflüsse aus dem Tok Pisin, also aus dem Pidgin-Englisch, das in Papua-Neuguinea Umgangssprache ist – und das wiederum aus der Kolonialzeit bis heute einige deutsche Lehnwörter behalten hat, beispielsweise "raus" (rauswerfen) oder "gumi" (Gummischlauch).
Eine katholische Missionsschule im kaiserlichen Neuguinea
Unserdeutsch entstand unter den Kindern der 1897 gegründeten katholischen Missionsschule der Herz-Jesu-Mission in Vunapope, einen Ortsteil von Herbertshöhe, Kokopo. Diese Kinder waren – wie man heute wissenschaftlich sagt – "mixed race": Ihre Väter waren oft Deutsche oder andere Europäer. In einem Bericht für die "Missionshefte" schilderte der Autor Arnold Janssen 1912, dass "eine große Anzahl der Kinder englischsprechende Väter haben". Ihre Mütter waren meist indigene Frauen. Aber nicht immer: Es gab auch Kinder mit philippinischen, chinesischen oder japanischen Elternteilen. Das Wichtigste für die Mission war, dass die Kinder nicht schwarz waren, alle anderen wurden genommen. Einer der Männer, die Craig Volker schon 1979/80 interviewt hat, berichtet, dass sein Vater aus dem chinesischen Kanton kam.
http://www.welt.de/kultur/article153927764/Wie-Kinder-aus-Neupommern-eine-Sprache-erfanden.html