Freitag, 3. August 2012

Studentenzeitungen und die RAF

AGIT 883

Agit 883 56 51, später zum geläufigeren Agit 883 verkürzt, war eine anarchistisch-libertäre Zeitschrift aus der Linken Szene West-Berlins, die mit wechselnden Untertiteln und in wechselnder Zusammensetzung der Redaktion von Februar 1969 bis Februar 1972 erschien. Sie gilt in Bezug auf die gewählten Themen, ihre Sprache und die Aufmachung (Illustrationen mit Fotomontagen und Comics, libertäre Agitation) als typisches Blatt der späten Studentenbewegung. Die Zahl im Titel der Zeitschrift war die Telefonnummer der Redaktion bzw. der Wohngemeinschaft und des Mitherausgebers Dirk Schneider in der Uhlandstraße 52 in Berlin-Wilmersdorf. Das kollektive Zeitungsprojekt wurde von Schneider, nach der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg durch die Polizei am 2. Juni 1967, als Plattform einer linken Gegenöffentlichkeit konzipiert und vorangetrieben. Anfangs war Agit 883, mit einer Auflage von bis zu 6000 Exemplaren, eher marxistisch orientiert und von der Kritischen Theorie inspiriert. Sie wandelte sich später in ein explizit anti-leninistisches Blatt mit anarchistischer Ausrichtung. In Ausgabe 62 vom 5. Juni 1970 erschien in der Zeitschrift als erste öffentliche programmatische Erklärung der RAF der Text RAF, Die Rote Armee aufbauen! [Gründungspapier und Strategieanweisung], dessen Abdruck Holger Meins durchgesetzt hatte. Das Heft kam auf den Index und der verantwortliche Redakteur Karl musste untertauchen. Über die Frage der aktionistischen Linie und der Einstellung gegenüber der RAF zerstritt sich die letzte Redaktion und es kam im April/Mai 1971 zur Abspaltung einer Gruppe, die fortan die Zeitung Fizz herausgab. Fizz war eine Kreuzberger anarchistisch-libertäre Zeitschrift, gegründet von Peter-Paul Zahl, mit starken Sympathien für die Stadtguerilla. Die Repressionen seitens der Justiz und der Polizeiorgane, begleitet von wiederholten Beschlagnahmen der Auflagen, trugen wesentlich zum Ende beider Projekte bei. Unmittelbare Nachfolger der Agit 883 waren die kurzlebigen 883 Hannover, 883 Bremen sowie die lokalen Zeitschriften Bambule, Berliner Anzünder und Hundert Blumen. Der Titel „Hundert Blumen“ stammt aus dem Mao-Ausspruch: „Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern“ (siehe Hundert-Blumen-Bewegung), der auch das Motto der Zeitschrift bildet.









Das ist das Deckblatt jener Nummer 62, in der die RAF (Rote Armee Fraktion) ihr Gründungspapier veröffentlicht (siehe unten):



5. Juni 1970 in "883"
Die Rote Armee aufbauen!
Genossen von 883 - es hat keinen Zweck, den falschen Leuten das Richtige erklären zu wollen. Das haben wir lange genug gemacht. Die Baader-Befreiungs-Aktion haben wir nicht den intellektuellen Schwätzern, den Hosenscheißern, den Allesbesser-Wissern zu erklären, sondern den potentiell revolutionären Teilen des Volkes.  Das heißt denen, die die Tat sofort begreifen können, weil sie selbst Gefangene sind. Die auf das Geschwätz der »Linken« nichts geben können, weil es ohne Folgen und Taten geblieben ist. Die es satt haben! Den Jugendlichen im Märkischen Viertel habt ihr die Baader-Befreiungs-Aktion zu erklären, den Mädchen im Eichenhof, in der Ollenhauer, in Heiligensee, den Jungs im Jugendhof, in der Jugendhilfsstelle, im Grünen Haus, im Kieferngrund. Den kinderreichen Familien, den Jungarbeitern und Lehrlingen, den Hauptschülern, den Familien in den Sanierungsgebieten, den Arbeiterinnen von Siemens und AEG-Telefunken, von SEL und Osram, den verheirateten Arbeiterinnen, die zu Haushalt und Kindern auch noch den Akkord schaffen müssen - verdammt!  Denen habt ihr die Aktion zu vermitteln, die für die Ausbeutung, die sie erleiden, keine Entschädigung bekommen durch Lebensstandard, Konsum, Bausparvertrag, Kleinkredite, Mittelklassewagen. Die sich den ganzen Kram nicht leisten können, die da nicht dran hängen. Die alle Zukunftsversprechen ihrer Erzieher und Lehrer und Hausverwalter und Fürsorger und Vorarbeiter und Meister und Gewerkschaftsfunktionäre und Bezirksbürgermeister als Lügen entlarvt haben und nur noch Angst vor der Polizei haben. Denen - und nicht den kleinbürgerlichen Intellektuellen - habt ihr zu sagen, daß jetzt Schluß ist, daß es jetzt los geht, daß die Befreiung Baaders nur der Anfang ist!  Daß ein Ende der Bullenherrschaft abzusehen ist! Denen habt ihr zu sagen daß wir die Rote Armee aufbauen, das ist ihre Armee. Denen habt ihr zu sagen, daß es jetzt losgeht. -Die werden nicht blöde fragen, warum gerade jetzt? Die haben die tausend Wege zu Behörden und Ämtern schon hinter sich - den Tanz mit Prozessen -, die Wartezeiten und -zimmer, das Datum, wo es bestimmt klappt und nichts geklappt hat. Und das Gespräch mit der netten Lehrerin, die die Überweisung an die Hilfsschule dann doch nicht verhindert hat und der hilflosen Kindergärtnerin, wo auch kein Platz frei wurde. Die fragen euch nicht, warum gerade jetzt - verdammt.  Die glauben euch natürlich kein Wort, wenn ihr selbst nicht mal in der Lage seid, die Zeitung zu verteilen, bevor sie beschlagnahmt wird. Weil ihr nicht die linken Schleimscheißer zu agitieren habt, sondern die objektiv Linken, habt ihr ein Vertriebsnetz aufzubauen, an das die Schweine nicht rankommen. Quatscht nicht, das sei zu schwer. Die Baader-Befreiungs-Aktion war auch kein Deckchensticken. [...]  Was heißt: Die Konflikte auf die Spitze treiben? Das heißt: Sich nicht abschlachten lassen. Deshalb bauen wir die Rote Armee auf. Hinter den Eltern stehen die Lehrer, das Jugendamt, die Polizei. Hinter dem Vorarbeiter steht der Meister, das Personalbüro, der Werkschutz, die Fürsorge, die Polizei. Hinter dem Hauswart steht der Verwalter, der Hausbesitzer, der Gerichtsvollzieher, die Räumungsklage, die Polizei. Was die Schweine mit Zensuren, Entlassungen, Kündigungen, mit Kuckuck und Schlagstock schaffen, schaffen sie damit. Klar, daß sie zur Dienstpistole greifen, zu Tränengas, Handgranaten und MPs, klar, daß sie die Mittel eskalieren, wenn sie anders nicht weiterkommen. Klar, daß die GIs in Vietnam auf Guerilla-Taktik umgeschult wurden, die Green-Berretts auf Folterkurs gebracht. Na und? Klar, daß der Strafvollzug für Politische verschärft wird.  Ihr habt klarzumachen, daß das sozialdemokratischer Dreck ist, zu behaupten, der Imperialismus samt allen Neubauers und Westmorelands, Bonn, Senat, Landesjugendamt und Bezirksämtern, der ganze Schweinkram ließe sich unterwandern, nasführen, überrumpeln, einschüchtern, kampflos abschaffen. Macht das klar, daß die Revolution kein Osterspaziergang sein wird. Daß die Schweine die Mittel natürlich so weit eskalieren werden, wie sie können, aber auch nicht weiter. Um die Konflikte auf die Spitze treiben zu können, bauen wir die Rote Armee auf.  Ohne gleichzeitig die Rote Armee aufzubauen, verkommt jeder Konflikt, jede politische Arbeit im Betrieb und im Wedding und im Märkischen Viertel und in der Plötze und im Gerichtssaal zu Reformismus, d. h.: Ihr setzt nur bessere Disziplinierungsmittel durch, bessere Einschüchterungsmethoden, bessere Ausbeutungsmethoden. Das macht das Volk nur kaputt, das macht nicht kaputt, was das Volk kaputt macht!  Ohne die Rote Armee aufzubauen, können die Schweine alles machen, können die Schweine weitermachen: Einsperren, Entlassen, Pfänden, Kinder stehlen, Einschüchtern, Schießen, Herrschen. Die Konflikte auf die Spitze treiben heißt: Daß die nicht mehr können, was die wollen, sondern machen müssen, was wir wollen.  Denen habt ihrs klar zu machen, die von der Ausbeutung der Dritten Welt, vom persischen Öl, Boliviens Bananen, Südafrikas Gold - nichts abkriegen, die keinen Grund haben, sich mit den Ausbeutern zu identifizieren. Die können das kapieren, daß das, was hier jetzt losgeht, in Vietnam, Palästina, Guatemala, in Oakland und Watts, in Kuba und China, in Angola und New York schon losgegangen ist. Die kapieren das, wenn ihr es ihnen erklärt, daß die Baader-Befreiungs-Aktion keine vereinzelte Aktion ist, nie war, nur die erste dieser Art in der BRD ist. Verdammt.  Sitzt nicht auf dem hausdurchsuchten Sofa herum und zählt eure Lieben, wie kleinkarierte Krämerseelen. Baut den richtigen Verteilerapparat auf, laßt die Hosenscheißer liegen, die Rotkohlfresser, die Sozialarbeiter, die sich doch nur anbiedern, dies Lumpenpack.  Kriegt raus, wo die Heime sind und die kinderreichen Familien und das Subproletariat und die proletarischen Frauen, die nur darauf warten, den Richtigen in die Fresse zu schlagen. Die werden die Führung übernehmen. Und laßt euch nicht schnappen und lernt von denen, wie man sich nicht schnappen läßt - die verstehen mehr davon als ihr.
Gudrun Ensslin
Die Klassenkämpfe entfalten. Das Proletariat organisieren.
Mit dem bewaffneten Widerstand beginnen!
DIE ROTE ARMEE AUFBAUEN!