Die Taten
der RAF-Terroristen hatten selbstverständlich auch Auswirkungen auf deren
Angehörige. Vor allem dann wenn - wie im Falle Ponto - die Patentochter in die
versuchte Entführung und Ermordung involviert war. Dem SPIEGEL gegenüber gab
Matthias Albrecht, Susanne Albrechts Bruder im Jahr 2008 erstmals ein Interview
zu diesem heiklen Thema:
01.12.2008 13:14
Terror-Vergangenheit "Die Ex-RAFler sollen sich endlich der Verantwortung
stellen"
Er ist der Bruder der Ex-RAF-Terroristin Susanne Albrecht, und noch
nie hat er sich öffentlich zu ihren Taten geäußert. Auf SPIEGEL ONLINE bricht Matthias Albrecht nun sein Schweigen. Er
appelliert an seine Schwester und andere Ex-Terroristen, die Morde der
siebziger Jahre endlich aktiv aufzuklären.
Hamburg - Als ich am 30. Juli 1977 während eines Essens mit Freunden
erfuhr, dass Jürgen Ponto von meiner Schwester Susanne Albrecht und anderen
RAFlern ermordet worden war, endete ein Kapitel meines Lebens. Unerwartet,
unvorbereitet und beeinträchtigt von einer nicht definierbaren Last, der man
sich nicht entledigen konnte, begann ein neues.
Welche
schwerwiegenden Konsequenzen und Konflikte sich als Folge der Tat meiner
Schwester für mich im Laufe der Jahrzehnte ergeben würden, konnte ich mir
damals nicht vorstellen. Freunde, die sich nicht trauten, mit mir darüber zu
sprechen, worüber die ganze Welt im Fernsehen berichtete. Die Verunsicherung
über die eigene Familie, die angesichts der Ungeheuerlichkeit des Geschehenen
sprachlos wurde - um nur einige anfängliche Aspekte zu nennen.
Susanne
Albrecht hat sich als Mitglied der RAF einen besonderen Status erworben, den
der Verräterin. Sie hat vor dem Mord an Jürgen Ponto unsere Eltern eingespannt
und benutzt, um sich bei Pontos einzuschleichen. Bis dahin waren Pontos und
Albrechts engste Familienfreunde, Jürgen Ponto Pate meiner jüngeren Schwester,
mein Vater Pate von Jürgen Pontos Tochter.
Der unfassbare Verrat und die Taten meiner
Schwester haben nicht nur die Familien ihrer Opfer, sondern auch ihre eigene
Familie nachhaltig zerstört. Tiefste Verunsicherung meiner Eltern und
Geschwister waren die Folge, und eine wirkliche Bewältigung des von Susanne
verursachten familiären GAUs hat es bis heute nicht gegeben.
Die
gegenwärtige Diskussion um das Thema RAF machen auch mir wieder akut bewusst,
wie wenig die damaligen Geschehnisse verarbeitet sind. Aber wie können sie
verarbeitet werden, wenn die Verursacher sich nicht daran beteiligen?
Meine
Schwester hat es vermieden, sich zu äußern. Auf meine detailliert fragenden, um
Klärung bittenden Briefe seit 1990 hat sie jahrelang nicht geantwortet. Einmal
schreibt sie dann im Jahr 2006: "die frage nach dem warum ist ja die
enthemmtheit, dass ich mich nicht scheute, meine Mutter auch noch zu benutzen,
um einen besten Familienfreund entführen zu wollen" und "das ist ja
nicht so mal eben wegen politischer einschätzungen, sicher auch, aber da ist ja
noch dieser andere teil, dieser ganz persönliche." Das war's. Aber es
genügt nicht.
Auf Briefe jahrelang keine Antwort
Hätte
sie Werte wie Moral oder irgendwelche Ansätze von Menschlichkeit, oder empfände
sie so etwas wie Reue, wären ihr Erklärung und Klärung ein Anliegen, um
zumindest mit den eigenen Angehörigen ins Reine zu kommen. Aber sie und andere
aus ihrer Generation stellen sich weder dieser menschlich-familiären
Verantwortung noch der historischen und gesellschaftlichen.
Über
die Morde und die Provokation des Staates, die sie damals als politisch
motiviert begründeten, sprechen sie nicht und tragen nichts dazu bei, dass das
von ihnen geschriebene RAF-Kapitel deutscher Geschichte eine bessere
Aufarbeitung erfährt. Noch immer sind Morde unaufgeklärt. Und noch immer ist
die RAF letztlich die - durchaus positiv besetzte - Bezugsgröße der ehemaligen
Täter. Dabei geht es doch um eine radikale Infragestellung der Ideologie der
RAF und damit um eine aktive Aufklärung des Geschehenen - um endlich anfangen
zu können, die Wunden zu heilen.
Ein wirkliches Interesse an den Auswirkungen nie gezeigt
Susanne
Albrecht hat sich nicht um Klärung oder gar Versöhnung bemüht. Die
Rekonsolidierung ihrer eigenen Existenz scheint bei ihr Priorität zu haben. Sie
hat nicht wahrnehmen wollen, dass unser Leben durch sie in unermesslichem Maße
beeinträchtigt wurde und wie groß der Schaden ist, den sie angerichtet hat. Ein
wirkliches Interesse an den Auswirkungen ihrer Handlungen und ihres Verrates
auf ihre Angehörigen hat sie nie gezeigt.
Sie
hat es bei ihren Opfern mit zwei Kategorien zu tun. Den Hinterbliebenen derer,
die durch ihre Taten ums Leben gekommen sind und uns, sozusagen die Opfer
zweiter Klasse, die sich von einem Grundgefühl der Mitschuld nie ganz befreien
konnten.
Die
zurzeit stattfindende lebhafte Auseinandersetzung mit dem Thema böte ihr ein
gutes Umfeld, um endlich zu beginnen, proaktiv an der Verarbeitung der von ihr
verursachten Umstände mitzuwirken.
Genauso
wie Matthias Albrecht versuchten auch andere Geschwister bzw. Kinder von
Terroropfern die Geschichte aufzuarbeiten. Hier die Geschichte von Corinna
Ponto und Julia Albrecht:
Das Ringen mit einem Phantom
Die Terroristin Susanne Albrecht war 1977 an dem RAF-Mord an
Jürgen Ponto beteiligt. Damit begann auch eine Tragödie zweier ehemals
befreundeter Familien. Nun verarbeiten die Schwester der Täterin und die
Tochter des Opfers dieses Trauma gemeinsam in einem Buch.
Noch
einmal ist Corinna Ponto hingefahren zu diesem Ort. Es war vor ein paar Wochen,
sie wollte sich den Prozess gegen Verena Becker ansehen, die angeklagt ist,
1977 am Anschlag auf den Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine
Begleiter beteiligt gewesen zu sein. Corinna Ponto war erstaunt, dass es diesen
Ort überhaupt noch gibt. Wie die vergessene Kulisse aus einem der RAF-Filme
liegt das Gefängnis da auf einem Feld am Ende der Ortschaft Stammheim, wie ein
Mahnmal für das Ringen eines Staates mit dem Terror.
"Dieser
Ort", sagt Corinna Ponto, "steht auch für die vergebliche Hoffnung
auf so etwas wie Wahrheit und eine ehrliche Aufarbeitung der
RAF-Geschichte." Zweimal
ist sie schon hier gewesen, aber das ist Jahrzehnte her, sie war als Zeugin
geladen im Prozess gegen die Mörder ihres Vaters, des Bankiers Jürgen Ponto,
den die RAF 1977 erschossen hat. An der Mordtat war auch Susanne Albrecht beteiligt.
Das Perfide war, dass Corinna und Susanne sich gut kannten. Ihre Väter waren
enge Freunde, Hans-Christian Albrecht, der Vater der Terroristin, war Corinnas
Patenonkel.
In
seiner Niedertracht ist dieser Mord schwer zu begreifen: Ein Familienfreundeskind
erschleicht sich zusammen mit ihren RAF-Komplizen Christian Klar und Brigitte
Mohnhaupt Zutritt zum Haus von "Onkel Jürgen", den Mohnhaupt dann im
Wohnzimmer mit mehreren Schüssen niederstreckt. Corinna war damals 20, Susanne
Albrecht 26. Das
Band zwischen den beiden Familien war bald zerschnitten. Die eine Familie
kämpfte mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen, die andere mit Trauer und
Fassungslosigkeit. Sie haben nie wieder miteinander gesprochen. Corinna
Ponto versuchte, ihr Leben zu leben, sie ging in die USA, sie wurde
Opernsängerin, gründete eine Familie. Sie sagt, die Erinnerungen an die Mordtat
habe sie weggesperrt. Jahrzehntelang äußerte sie sich nicht öffentlich zu der
Tat oder der RAF. Und bis 2007 hat sie niemand je gefragt. Heute ist sie 53. Susanne
Albrecht verließ zwei Jahre nach der Tat die RAF, die Stasi versteckte sie zehn
Jahre im Muff der DDR. Nach dem Mauerfall wurde sie gefasst und stand 1991 hier
in Stammheim vor Gericht. "Ich kann mich nicht erinnern, wie ich hier
ausgesagt habe", sagt Corinna Ponto. "Ich hatte einen kompletten
Blackout. Nur der Hohn der Zuschauer ist noch in meinem Kopf."
Dass
der Blackout verschwunden ist, hat auch mit Julia Albrecht zu tun. Sie ist die
Schwester der Ex-Terroristin Susanne Albrecht, die kleine Schwester, 13 Jahre
jünger. Jürgen Ponto war wiederum ihr Patenonkel.
Julia
Albrecht hat 2007 gewagt, Corinna Ponto einen Brief zu schreiben, es war der
erste Kontakt der Familien seit 30 Jahren. Was ihr Vater, der inzwischen
verstorbene Seerechtsanwalt Hans-Christian Albrecht, nie vermocht hatte, ihr
gelingt es. Es entsteht ein Briefwechsel. Die beiden Frauen treffen sich. Beim
ersten Treffen weint die eine, beim zweiten die andere. Sie berichten sich
gegenseitig, was diese große Erschütterung im Jahr 1977 mit ihren Leben gemacht
hat. Nun ist ein Buch daraus entstanden(*).
Der
Text ist ein Ringen um Verständnis einer für beide unfassbaren Tat, eine
Reflexion über Schuld und Verantwortung und der Versuch, sich einem für immer
verloren geglaubten Menschen wieder zu nähern. Beide Frauen sind Opfer der RAF,
doch die eine steht familiär auf der Täterseite. Zum ersten Mal in der
Geschichte des deutschen Terrorismus wagen es Angehörige von Tätern, mit
Angehörigen von Opfern in ein öffentlich dokumentiertes Gespräch zu treten. Die
Ungeschütztheit, mit der Ponto und Albrecht sprechen, schafft eine grandios
berührende Nahaufnahme einer Episode deutscher Geschichte, die, wie sich zeigt,
alles andere als verarbeitet ist. Und gleichzeitig ist das Buch ein Dokument
grandiosen Scheiterns, weil am Ende den beiden Angehörigen die Überwindung der
Tat nicht gelingt. Denn das Merkwürdige ist, die beiden Frauen sprechen über
Susanne Albrecht wie über eine Tote. Doch
Susanne Albrecht ist nicht tot. Susanne Albrecht lebt seit ihrer Haftentlassung
1996 unter einem anderem Namen in Bremen. Sie ist dort Lehrerin. Sie
schweigt heute über das, was sie damals getan hat und wie sie heute dazu steht.
Sie schweigt, wie die meisten RAF-Leute schweigen. Und so zeigt dieses Buch im
Kleinen, warum die RAF in Deutschland immer noch lebt und nicht Geschichte
geworden ist; warum in Stuttgart seit Monaten immer noch ein großer Prozess
gegen Verena Becker stattfindet und die Terrorgruppe weiterhin Stoff für Mythen
bietet.
Es
gibt einfach zu viele Lücken in dieser Erzählung der RAF, und Susanne Albrecht
ist die Lücke in diesem Buch.
Wer
die beiden Autorinnen trifft, spürt die Anstrengung, die dieses Buch gekostet
hat. Zwar kommen beide aus dem hanseatischen Großbürgertum, aber sie haben ihre
Leben sehr verschieden gelebt. Ponto ist groß und kräftig, eine ehemalige
Opernsängerin, die gern in Bildern spricht und inzwischen auf dem Land in
Bayern lebt. Sie hat zwei Kinder, ihr Mann war am Theater. Julia
Albrecht ist zart, dunkelhaarig, sie spricht vorsichtig und präzise, sie lebt
mitten in Berlin, kennt das linke Establishment. Sie hat ebenfalls zwei Kinder,
ihr Mann ist bei Google. Albrecht ist Juristin geworden wie ihr Vater, zuletzt
arbeitete sie für die Bundestagsfraktion der Grünen. Ihre Tonlage schwankt, es
ist einerseits die klare Stimme einer Juristin, die Plausibilitäten und
Verantwortungen abwägt, und andererseits sind es die zärtlich sehnsüchtigen
Worte einer Schwester. Zunächst
gelingt es Ponto und Albrecht, die große Lücke im Buch zu umschiffen. Sie
schildern den 30. Juli 1977, den Tag des Mordes, aus beiden Perspektiven: Die
13-jährige Julia in Hamburg, es ist ihr erster Sommerferientag, sie geht mit
ihren Eltern und einer Freundin zur Feier des Zeugnisses essen, eine heile
Welt, Hamburg-Blankenese. Die 20-jährige Corinna in London, ihr letzter Tag,
sie hat gerade einen Ferienflirt beendet, am nächsten Tag will sie mit den
Eltern nach Südamerika fliegen. In
Oberursel bei Frankfurt hat Ignes Ponto, die Ehefrau, schon die Koffer gepackt,
die Rollläden im Wohnzimmer sind heruntergelassen. Obwohl es der Familie wegen
der anstehenden Reise überhaupt nicht passt, hat sich Susanne Albrecht noch zum
Tee angemeldet, sie sei zufällig in Frankfurt, es sei wichtig.
Sie
kommt dann nicht allein, sie hat zwei Begleiter dabei. "Wie sehen die
aus?", fragt Jürgen Ponto den Fahrer, der die Haustür öffnet. "Ganz
manierlich", heißt die Antwort. Die Begleiter sind Christian Klar und
Brigitte Mohnhaupt, er trägt Krawatte, sie ein Kostüm. Corinna
Ponto sagt, dass sie sich bis heute abwenden muss, wenn sie an das Tatgeschehen
denkt. Im Buch lässt sie ihre Mutter erzählen, was passiert. Ignes Ponto ist
heute 81 Jahre alt.
Erstarrt sehe ich den bleichen Mann und Jürgen, vom Außenlicht nur
schwach beleuchtet, vor dem Esstisch stehen. Beide halten einen Arm
hochgestreckt, wo die Arme zusammenkommen, ragt eine Pistole. Jürgen hat die
Pistole in Selbstverteidigung dem Mann entwinden wollen. Ihr Lauf zeigt nicht
mehr auf ihn, als sich ein Schuss löst. Später rekonstruierte man, dass der
erste Schuss in das Fenster einschlug. Sekunden danach lebt er nicht mehr, denn
die andere Frau kommt durch die Terrassentür hereingestürmt, hereingestürzt und
feuert viele Male. Ich kann Jürgen nicht mehr sehen - er muss zurückgetreten
sein -, das Zimmer ist voller Pulverdampf. Es ist alles unheimlich leise und
geht rasend schnell. Doch wie bei einer Unfallerinnerung sind diese Bilder
zeitlupenlangsam in mir. Jürgen stürzt getroffen wenige Meter vor mir zu Boden.
Die Mörder rasen, angeführt von Susan ne, aus dem Zimmer.
Ein
Rettungshubschrauber wird gerufen, Ignes Ponto hockt neben ihrem Mann und
erinnert sich daran, wie sie mit 14 Jahren ihre Eltern bei einem Bombenangriff
verlor:
Ich werde zu Stein, als er seinen tosenden Flug in den Tod antritt.
Da ist er wieder, dieser lähmende Schlag - wie schon einmal. Es ist, als ende
alles Leben, alles Lebendige in mir.
In
Hamburg, als die Albrechts vom Essen heimkommen, klingelt schon das Telefon,
ein Bruder Pontos ist dran, auf Jürgen sei geschossen worden, Susanne sei dabei
gewesen, mit anderen von der RAF.
Meine
Schwester fiel in diesem Moment aus der Welt", sagt Julia Albrecht, und
das Berührende an ihren Schilderungen ist die Perspektive der kleinen Schwester
auf die Terroristin. Man kennt das Leid von Terroristeneltern, das gezeichnete
Gesicht des Pfarrers Ensslin, die stotternde Sprachlosigkeit der Eltern
Wolfgang Grams' in dem Dokumentarfilm "Black Box BRD". Aber eine
kleine Schwester? Sie hat eine Bewunderung, die Eltern nie haben können. Sie
kann die Schwester verteidigen, wie es Eltern nie könnten. Gleichzeitig muss
sie sich nicht verantwortlich fühlen wie die Eltern, sie muss sich nicht
schämen, aber Julia Albrecht schämt sich trotzdem. Denn natürlich sind da
Vorwürfe der Opferfamilie an die Täterfamilie. Corinna Ponto deutet sie nur an
in diesem von Vorsicht und Empathie geprägten Buch, aber sie sind da, und es
ist Julia Albrecht, die sie gleich im ersten Kapitel benennt: Wie konnten die
Eltern Albrecht den Kontakt zu den Pontos herstellen für ihre Tochter Susanne,
von der sie wussten, dass sie in der Hamburger Hausbesetzer-Szene aktiv war und
schon wiederholt festgenommen worden war? Der zweite Vorwurf betrifft die Zeit
nach dem Attentat. Gleich am nächsten Tag sind die Eltern Albrecht von Hamburg
nach Frankfurt geflogen, unter Schock trafen die Eltern, die gerade ihre
Tochter verloren hatten, mit Ignes Ponto zusammen, die ihren Mann verloren
hatte. Doch der Versuch gemeinsamer Trauer scheitert. Ignes Ponto schrieb bald
darauf an Hans-Christian Albrecht, jeder müsse seinen Verlust für die nächste
Zeit wohl besser allein tragen. Hans-Christian Albrecht hat sich daraufhin nie
wieder um die Pontos bemüht. Julia Albrecht erkennt beide Vorwürfe an, bei dem
ersten nimmt sie ihre Eltern in Schutz. Man wähnte Susanne in diesem Jahr 1977
auf den Weg zurück in die Gesellschaft, das Interesse an den Pontos
interpretierten die Eltern als das Bemühen, wieder in die Familie zu finden und
in den Familienfreundeskreis. Auf den zweiten Vorwurf hat Julia Albrecht keine
Antwort. Sie erwähnt aber einen im Nachlass ihres Vaters gefunden
"Brief" von 1992 an seinen toten Freund Jürgen Ponto. Er beschwört
darin die Freundschaft der beiden Männer, erinnert daran, wie sie sich in den
Kriegstrümmern gefunden hatten, wie sie ihre Frauen kennenlernten, Väter
wurden, wie sie sich gegenseitig anspornten und voneinander lernten, zu
gegenseitigen Vorbildern wurden: "Das klingt ein bisschen abstrakt, aber
es hilft doch, uns daran zu erinnern, was Du mir bedeutet hast, wie ich Dich
gern gehabt und wie ich Dich geachtet habe." Und er schreibt auch:
"Viel zu selten und viel zu oberflächlich habe ich Deiner und Deiner
Familie in all diesen Jahren gedacht. Ich hatte wohl nicht die Kraft oder den
Mut dazu." Ignes Ponto hatte Susanne Albrecht bei dem Anschlag natürlich
erkannt. Sogleich wurde nach ihr gefahndet, sie war nun die personifizierte
RAF, zumal sie auch noch das Bekennerschreiben mit ihrem Namen unterzeichnet
hatte. Darin heißt es in unnachahmlicher Kälte über den Patenonkel ihrer
Schwester: "Zu Pon- to und den Schüssen, die ihn jetzt in Oberursel
trafen, sagen wir: Uns war nicht klar genug, dass diese Typen, die in der
Dritten Welt Kriege auslösen und Völker ausrotten, vor der Gewalt, wenn sie
ihnen im eigenen Haus gegenübertritt, fassungslos stehen." Ignes Ponto hat
aber auch gleich gesagt, dass Klar und Mohnhaupt die Schüsse abgegeben hätten,
nicht aber Susanne. Das wurde zu einem Rettungsanker für die Familie Albrecht.
"Susanne hat nicht geschossen, Susanne hat nicht geschossen", rief
Julia schon am Abend der Tat, und vom ersten Augenblick an entwickelt die
damals 13-Jährige Strategien, ihre Schwester zu entlasten. Nicht Susanne machte
sie Vorwürfe, sondern den Eltern. Corinna Ponto kommen in den Tagen nach der
Tat furchtbare Erinnerungen ins Gedächtnis, die Übernachtungsbesuche von
Susanne bei den Pontos in den Monaten vor dem Mord. Sie erinnert sich, wie sie
auf einer Bank im Garten saßen und Susanne nach den Hunden fragte und nach
einer Alarmanlage. All das ergab plötzlich einen neuen Sinn. Julia Albrecht
erinnert sich an die Zeit, die folgte, als eine Zeit des Schweigens, jeder
wusste, wer sie war, doch niemand sprach mit ihr. Sie erinnert sich, wie sie
jahrelang täglich auf dem Schulweg an den RAF-Fahndungsplakaten vorbeilief,
Susanne war immer oben links, irgendwann bekam sie ein Einzelplakat. Julia
wollte das Plakat abfackeln, tat es nicht, und erst Jahre später lernte sie,
die Terroristin auf dem Plakat zu grüßen. "Hallo, Schwesterchen",
rief sie dann. Heute sagt sie: "Vom ersten Augenblick an war die maßlose
Sehnsucht nach der abwesenden Schwester ein fast so überwältigendes Gefühl wie
das Grauen über die Tat. Die Frage, wann ich sie wiedersehen würde, begleitete
mich quasi von der ersten Sekunde an." Das geschah 13 Jahre später, 1990.
Die Mauer war gefallen, und Susanne Albrecht wurde in Ost-Berlin festgenommen.
Julia, inzwischen 26, so alt wie die Schwester war, als sie verschwand,
jubilierte. All die Jahre hatte die Familie gehofft und irgendwie auch daran geglaubt,
dass Susanne wiederauftauchen würde und eine Geschichte zu erzählen hätte, die
aus ihrem ungeheuerlichen Verrat irgendwie ein Missverständnis machen würde.
"Das ist verrückt, dass man so etwas hofft. Aber es ist so", sagt
Julia Albrecht. Als sie die Schwester sogleich im Untersuchungsgefängnis in
Ost-Berlin besuchte, sagte ihre "geliebte Susanne" bloß "Hallo
Julia". Und dann erklärte Susanne Albrecht, dass sie sich eigentlich gar
nicht an Julia erinnern könne. Sie sei ja noch so klein gewesen. Die Schwester
sprach sächsisch, da war nichts Bekanntes mehr in ihrer Stimme, sie sah aus wie
eine DDR-Spießbürgerin. In ihrer Vernehmung durch die Bundesanwaltschaft äußert
sich Susanne Albrecht später über Julia so: "Als ich 1977 weggegangen bin,
war meine Schwester Julia 13 Jahre alt. Es gibt viele Sachen, die wir damals
gemeinsam getan oder erlebt hatten. Dieses dokumentiert sich z.B. in Fotos.
Wenn mir heute diese Fotos durch meine Schwester geschickt werden und dazu
Erinnerungen und Geschichten geschrieben werden, kann ich mich daran nicht
erinnern. Ich weiß lediglich, dass ich diese Schwester Julia habe." Susanne
Albrecht wurde in Stammheim angeklagt, sagte als Kronzeugin aus und wurde zu
nur zwölf Jahren verurteilt, nach drei Jahren wurde sie Freigängerin, nach
sechs entlassen. Die Schwester Julia verschob ihr Juraexamen und saß an jedem
einzelnen Verhandlungstag im Zuschauerraum, als Einzige der Familie. Der
Prozess war ein weiterer Schock. Nie hätte sich Julia Albrecht vorstellen
können, dass Susanne nach der Ponto-Katastrophe an weiteren RAF-Aktionen
beteiligt war. Doch es wurde ihr nachgewiesen, dass sie mitgeholfen hatte, den
Sprengstoffanschlag auf Nato-General Alexander Haig "anzuchecken",
wie es im RAF-Jargon hieß. Auch waren ihre Fingerabdrücke auf der von
Peter-Jürgen Boock gebauten Stalinorgel, mit der das Gebäude der
Bundesanwaltschaft beschossen werden sollte. "Susanne war nicht irgendwie
und aus Versehen RAF. Sie war RAF." Das war Julia Albrechts
niederschmetternde Erkenntnis aus dem Prozess. Aber ist in den Prozessakten
nicht auch folgende Aussage Albrechts zu finden, gleich vom zweiten
Verhandlungstag? "Letztlich ist mir klar, dass ich das Schlimmste tat, was
man tun konnte, dass ich das Leben der Familie Ponto und meiner Eltern zerstört
habe."
Reichte
das nicht?
Nein,
fand Julia Albrecht. "Ich vermisste eine aktuellere Bewertung."
Susanne
aber glaubte, ihre Schuldigkeit getan zu haben.
Susanne
Albrecht heißt inzwischen nicht mehr Albrecht, sie hat den Namen jenes Mannes
angenommen, den sie in der DDR geheiratet hat, mit dem sie einen Sohn hat, und
von dem sie inzwischen geschieden ist. Unter diesem Namen unterrichtet sie seit
mehr als zehn Jahren Migrantenkinder in der deutschen Sprache an verschiedenen
Schulen in Bremen. Als die "Bild"-Zeitung dies im Jahr 2007
herausfand, machte sie mehrere Tage lang gemeinsam mit der Bremer CDU einen
Skandal daraus - Terroristin unterrichtet unsere Kinder. Man kann die
Vorstellung von Susanne Albrecht als Lehrerin eigenartig finden, ein Mensch,
der sich eine derartige moralische Verfehlung geleistet hat, soll nun als
Lehrer ein Vorbild sein? Andererseits ist der Resozialisierungsgedanke, das
Konzept von Vergebung und die Annahme, dass Menschen sich ändern können, im
deutschen Strafrecht ein fundamentaler Gedanke. Als schließlich Albrechts
Rauswurf aus dem Schuldienst gefordert wurde, machten sich die Eltern der
Schüler für sie stark. Sie sei eine gute Lehrerin, die Kinder mögen sie. Die
Kampagne habe sie damals "psychisch massiv unter Druck gesetzt", sagt
auch ihr Hamburger Strafverteidiger Wolf Römmig. "Und das befürchte ich
jetzt auch, wenn das Buch ihrer Schwester veröffentlicht wird." Das möchte
Julia Albrecht nicht, sie hat sogar Angst davor. Doch sie findet, dass das
Thema, die Tat und deren Folgen bis heute nicht erledigt sind. "Sie hat
die Verantwortung den Pontos und uns gegenüber nicht authentisch
übernommen", sagt Julia Albrecht. "Bei solchen Katastrophen ist es
doch so: Da ist eine Verantwortung, die wabert so durch die Gegend, und jemand
muss sie sich greifen und sich auf die Schulter setzen. Doch die Verantwortung
blieb in der Luft hängen. Ich glaube, deswegen ist es für mich bis heute
schwer, mich von der Tat innerlich zu lösen." Susanne Albrecht hat ihre
Schwester nicht unterstützt, kein einziges Wort von ihr - außer den Zitaten aus
dem Prozess von 1991 - findet sich in dem Buch. Julia Albrecht hat ihrer
Schwester davon erzählt, und irgendwann hatte sie das Gefühl, die Schwester
habe irgendwie Verständnis für das Buch. Gleichzeitig ist sie sicher, dass
Susanne Albrecht es hasst, durch das Buch aus ihrem Leben herausgerissen zu
werden. Dann erzählt auch Julia Albrecht nicht weiter. Sie ist hilflos
gegenüber der Schwester. "Sie muss für sich selbst entscheiden, ob sie
bereit ist, sich mit den Folgen, die bis heute wirken,
auseinanderzusetzen." Es gibt da immer noch diese merkwürdige
Zerrissenheit in Julia Albrecht. Einerseits verlangt sie, dass die Täter
"selbst oder ihre Kinder sich an die Arbeit machen, die todbringende
Ideologie und deren Ursachen und Folgen aufzuarbeiten". Andererseits nimmt
sie die Weigerung Susanne Albrechts hin, genau dies nicht zu tun; einerseits
will Julia Albrecht die Schwester mit aller Macht schützen, andererseits
besteht sie darauf, ihre Traumatisierung mit diesem Buch öffentlich zu
behandeln. "Nichts ist geheilt", sagt Julia Albrecht. "Natürlich
hat unsere Familie versucht, die Folgen der Tat in privaten Gesprächen zu
bewältigen, aber wir haben festgestellt, dass wir immer nur bis zu einem
bestimmtem Punkt kamen. Wenn eine Tragödie, die mich im Privaten aufs Äußerste
getroffen hat, von Anfang an in der Öffentlichkeit bewertet wird, muss ich
darauf auch auf dieser Schnittstelle zwischen Öffentlichem und Privatem
reagieren."
Deswegen
dreht Julia Albrecht derzeit auch noch einen Dokumentarfilm über die Schwester.
Sie hat bereits Post bekommen von einem bekannten linken Anwalt aus Berlin, den
ihre Schwester beauftragt hat. Der Anwalt warnt Julia Albrecht davor, das
Persönlichkeitsrecht der ExTerroristin zu verletzen. So wird für Julia Albrecht
die Versöhnung am Ende an der Verweigerung der Schwester scheitern. "Liebe Corinna",
schreibt sie an ihre Mitautorin, "wo stehen wir heute?" Sie überlegt,
was sie eigentlich wollte und was davon erreicht ist. "Das Schweigen zu
durchbrechen war sicherlich ein Antrieb. Nicht nur dem Schweigen der
Jugendjahre etwas entgegenzusetzen, sondern auch dem Schweigen, das bis heute
die Aufklärung ganzer Tatkomplexe, aber auch der Motive, Ursachen und Gründe
überdeckt." Doch sie fürchtet sich, sie würde "am liebsten alles
zurücknehmen und ungesagt sein lassen. Es geht alles gleichzeitig viel zu weit und
springt doch viel zu kurz". Auch Corinna Ponto kann sich nicht versöhnen.
Bei ihr aber liegt es nicht an der Figur Susanne Albrecht. Die interessiert sie
am Ende gar nicht mehr. Corinna Ponto hat eine andere Agenda. Sie ist an diesem
Wintermorgen im Januar nach Stammheim gefahren, weil sie der angeblichen
Wahrheit über die Hintergründe der Mordtat und über die RAF nicht mehr glaubt.
Hier
im Neonlicht der weißen Mehrzweckhalle läuft der Prozess gegen Verena Becker.
Es geht nicht um den Mord an Corinna Pontos Vater, zumindest nicht direkt,
sondern um die Erschießung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback, ein paar
Monate zuvor im Jahr 1977. Doch weil das Gericht sich vorgenommen hat, in einer
gigantischen Beweisaufnahme die Geschichte der zweiten RAF-Generation noch
einmal aufzuarbeiten und fast alle damaligen Terroristen als Zeugen zu
vernehmen, geht es eben doch auch um Corinna Pontos Leben. Ponto hat, sagt sie,
jahrzehntelang an die offizielle, von den Gerichten ermittelte Wahrheit über
die RAF geglaubt. Doch als sie die Arbeit an dem Buch begann, hat sie bei der
Birthler-Behörde gefragt, was sie über ihren Vater hätten. Sie bekam nur zwei
Karteikarten. Das kam ihr merkwürdig vor. Sie hat weitergefragt. Schließlich
erhielt sie zahlreiche Akten, Tausende Seiten der Hauptabteilung XXII,
zuständig für "Terrorabwehr", die sich mit der RAF beschäftigen. Dort
fand sie Hinweise darauf, dass ihr Vater bereits seit 1969 im Fadenkreuz der
Stasi stand. Sie hat angefangen, sich durch den Stasi-Geheimkauderwelsch zu
quälen. Die Stasi habe die RAF möglicherweise schon in den siebziger Jahren
ausgebildet und gelenkt. Das ist Pontos Hypothese, die sie in dem Buch in mehreren
Kapiteln darlegt. Ponto sagt, sie habe keine Schlussfolgerungen. Die überlasse
sie anderen. Sie zeige nur die Lücken, die Fehler, das Unerklärliche in der
RAF-Geschichte auf. In Pontos Modell werden die Mörder plötzlich zu Marionetten
eines größeren, abstrakt-bösen Systems, das die Täter selbst nicht
durchschauten. Nicht nur die Opfer, die Familie Ponto, wurden getäuscht,
sondern auch die Täter. Diese Annahme scheint Corinna Ponto irgendwie zu
trösten. Auch das kann eine Art der Aufarbeitung sein. In Stammheim ist sie, um
Michael Buback beizustehen. Auch er ist das Kind eines RAF-Opfers, auch er
glaubt, dass es Lücken und Ungereimtheiten gibt. Er will wissen, wer auf seinen
Vater geschossen hat. Inzwischen, mit 66 Jahren, knüpft er seinen Seelenfrieden
an diese Auskunft. Er verdächtigt den Verfassungsschutz und das BKA,
Informationen bewusst zurückzuhalten - und es ist die womöglich letzte
tragische Volte der RAF-Geschichte, dass inzwischen die Kinder der ermordeten
Väter heute ausgerechnet jenen Staat bezichtigen, die Wahrheit über die RAF zu
unterdrücken, deren Väter in diesem Staat herausragende Positionen innehatten. Gleichzeitig
schweigen die Täter, die inzwischen allesamt aus der Haft entlassenen
RAF-Leute, die die Wahrheit kennen. Einige von ihnen reisen quer durch
Deutschland, sie besuchen sich gegenseitig und vergewissern sich ihres
Schweigens. Manche leben in Wohngemeinschaften zusammen, andere sind verfeindet
und liefern sich in ihrem Stalin-Deutsch bizarre Gefechte darüber, wer das
Vermächtnis der RAF heute legitim vertreten darf. Peter-Jürgen Boock, der
Einzige aus dem Führungskreis der RAF, der ausführlich redet, hat neulich im
Stammheimer Gerichtssaal seinen ehemaligen Mitstreitern ein schlagendes Paradox
vorgeworfen: Mit ihrem Schweigen verhielten sie sich wie jene Elterngeneration
von Auschwitz-Tätern, gegen die sie einst angetreten seien. Von Verena Becker,
die auch diesmal nicht aussagen will, gibt es immerhin eine Notiz: "Nein,
ich weiß noch nicht, wie ich für Herrn Buback beten soll. Ich habe kein
wirkliches Gefühl für Schuld und Reue. Natürlich würde ich es heute nicht mehr
machen - aber ist das nicht armselig, so zu denken u. zu fühlen?!" Corinna
Ponto sagt, sie brauche keine Reue. Sie will die faktische Wahrheit für ihren
Seelenfrieden. Aber sie bekommt sie nicht. Genauso wenig wie Julia Albrecht ein
Bekenntnis ihrer Schwester darüber bekommt, was Susanne heute denkt über ihre
Tat und ob sie vielleicht doch allem abgeschworen hat.
Corinna
Ponto verschwindet in der Mehrzweckhalle von Stammheim. Durch mehrere
Sicherheitsschleusen geht es hinaus aus Deutschland 2011, hinein die
verworrene, längst erloschene Welt der RAF, die dieses Land nicht loslässt.