Donnerstag, 8. Mai 2014

Ansichten einer Salonrevolutionärin

NATÜRLICH KANN GESCHOSSEN WERDEN

Ulrike Meinhof über die Baader-Aktion

Den Aufbau einer "Roten Armee" will die linksextreme Gruppe um Ulrike Meinhof betreiben, die an der Baader-Befreiung beteiligt war. Ihre Überlegungen hat die steckbrieflich gesuchte Journalistin auf Tonband gesprochen. Der SPIEGEL veröffentlicht nachstehend unredigierte Auszüge, die mit der Antwort auf die Frage beginnen, warum Baader befreit worden sei:
Man kann sagen: aus drei Gründen. Erst mal natürlich deswegen, weil Andreas Baader ein Kader ist. Und weil wir bei denjenigen, die jetzt kapiert haben, was zu machen ist und was richtig ist, nicht davon ausgehen können -- auf irgendeine luxuriöse Art und Weise -, daß einzelne dabei entbehrlich seien.
Das zweite ist, daß wir als erste Aktion eine Gefangenenbefreiung gemacht haben, weil wir glauben, daß diejenigen, denen wir klarmachen wollen, worum es politisch heute geht, welche sind, die bei einer Gefangenenbefreiung überhaupt keine Probleme haben, sich mit dieser Sache selbst zu identifizieren -- insofern diejenigen proletarischen Familien oder der Teil des Proletariats, von dem wir glauben, daß er potentiell revolutionär ist, daß diese Leute gar keine Schwierigkeiten haben, sich mit einer Gefangenenbefreiung zu identifizieren ...
Das dritte ist, wenn wir mit einer Gefangenenbefreiung anfangen, dann auch deswegen, um wirklich klarzumachen, daß wir es ernst meinen. Das heißt, daß diejenigen, die jetzt angefangen haben, zu arbeiten und solche Aktionen machen zu wollen, natürlich Leute sind, die sich in gar keinem Fall gegenseitig draufgehen lassen; für die es eben kein Spiel ist und wo natürlich das Moment von Solidarität von vornherein klar sein muß: Weil die Bedingungen, unter denen diese Auseinandersetzungen nur geführt werden können, natürlich sehr schwierig sind ...
Die intellektuelle Linke hat die Aktion Im großen und ganzen abgelehnt. Wir gehen davon aus, daß die Intellektuellen natürlich als Initiatoren von politischen Auseinandersetzungen gar nicht zu entbehren sind. Es ist ja auch eine Tatsache, daß es die Intellektuellen gewesen sind, auch in Deutschland und in Berlin, die die politischen Auseinandersetzungen zu dem Punkt gebracht haben, wo wir jetzt sind. Wir sehen aber auch, daß eben diese Intellektuellen mit ihren theoretischen Konzepten soweit sind, zu wissen, daß Bewaffnung notwendig ist und daß die Revolution nicht gemacht werden wird, ohne daß sich die Revolutionäre bewaffnen; daß sie aber gleichzeitig Leute sind, die den nächsten Schritt, der jetzt zu machen ist -- nämlich das, wovon sie reden, auch zu tun -, nicht machen werden.
Weil alle Erfahrungen dafür sprechen, daß sie die Situation zwar zu erkennen in der Lage sind, aber aufgrund ihrer eigenen Klassenlage nicht imstande sind, den nächsten Schritt selbst zu machen, ganz sicher deswegen, weil sie aufgrund ihrer eigenen Klassenlage immer noch sehr viel zu verlieren haben, sehr viel vom Leben zu verlieren haben; daß jeder einzelne von ihnen innerhalb seiner bürgerlichen Existenz natürlich eine Perspektive zu leben hat, so daß es für sie keinen objektiven Grund gibt, den Schritt zu machen -- außer dem, daß sie die Erkenntnis haben, daß er gemacht werden muß.
Womit natürlich auch implizit gesagt werden muß, daß es natürlich einzelne gibt, die den Schritt machen, denn unsere eigene Herkunft ist ja auch die Herkunft bürgerlicher Intellektueller. Wir glauben aber, daß es jetzt auch richtig ist, sich in dieser Situation von den Autoritäten der linken Intellektuellen zu trennen, sich nicht mehr von ihnen bestimmen zu lassen, sondern jetzt die politische Arbeit wirklich auf diejenigen Gruppen zu richten oder darauf hinzuarbeiten, diejenigen Teile des Proletariats zu organisieren, die nicht nur in der Lage sind, die politischen Notwendigkeiten zu erkennen, sondern auch ihrer Klassenlage nach in der Lage sind, daraus Konsequenzen zu ziehen und zu Handlungen zu kommen.
Der Hauptvorwurf, und sicherlich nicht zufällig ebenso der linken Intellektuellen wie der bürgerlichen Zeitungen, ist die Behauptung, wir seien Anarchisten, womit bezweckt wird, uns in eine Reihe zu stellen mit denjenigen Intellektuellen, die auch früher schon bestimmte Auseinandersetzungen zu provozieren versucht haben, aber dabei nicht aus der Isolation herausgekommen sind. Wenn man uns Anarchisten nennt, dann ist es der Versuch, die Aktion zu isolieren, uns zu isolieren, diese Form der politischen Auseinandersetzung zu isolieren ...
Wir sind also der Meinung, die intellektuelle linke Kritik an der Aktion ignorieren zu können, weil wir uns an ganz andere Gruppen wenden. Wir glauben, daß man zu einer politischen Zusammenarbeit kommen muß, organisierend und im Bezug auf Aktionen mit dem Teil des Proletariats, der keine Gratifikationen dafür erhält in dieser Gesellschaft, daß er sich ausbeuten läßt.
Das sind also die kinderreichen Familien, das sind die Frauen, die Haushalt und Kinder haben und gleichzeitig in der Fabrik arbeiten müssen. Das sind die proletarischen Jugendlichen, die keine Perspektive haben, aber auch noch nicht Familie haben, womit sie gezwungen werden, angepaßt zu leben. Das sind die Leute in den Neubau-Gegenden der Großstädte ...
Wovon wir ausgehen und was ja auch die Linken, die intellektuellen Linken begriffen haben, das ist, daß die Revolution nicht von ihnen gemacht werden wird, sondern vom Proletariat; das ist, daß man also in die Fabriken zu gehen hat und in die Stadtteile und daß die Organisierung stattzufinden hat. Nur sind wir der Auffassung, daß die Organisierung des Proletariats ein Popanz dann ist, wenn man nicht gleichzeitig anfängt, das zu machen, was wir jetzt tun, nämlich die Rote Armee aufzubauen; ... wenn man sich nicht gleichzeitig darauf vorbereitet und gleichzeitig die Voraussetzungen schafft, bei solchen Auseinandersetzungen bestehen zu können -- mit anderen Worten, jede politische Arbeit einfach perspektivlos ist und über einige Reformen nicht hinauskommen kann, also genau das nicht erreichen kann, was notwendig ist zu erreichen, wenn nicht die Form der Ausbeutung und die Form der Unterdrückung nur verändert werden sollen; daß man das überhaupt nicht erreichen kann, wenn man nicht gleichzeitig mit der Organisierung des Proletariats, mit der Arbeit im Betrieb und den Stadtteilen auch die Bewaffnung betreibt, das heißt, die Möglichkeiten schafft, Auseinandersetzungen durchzustehen: die Auseinandersetzungen, die kommen werden in dem Moment, wo ein Konzern eben nicht mehr in der Lage ist, einen Streik auf seine Art, durch Aussperrung, kaputt zu machen; wo natürlich die Staatsgewalt einsetzen wird, wo natürlich die Bullen kommen, und daß es von vornherein revisionistisch ist und reiner Reformismus, wenn man glaubt, erst das Proletariat organisieren zu können und erst später die Bewaffnung machen zu sollen ...
Es gibt ein Problem bei uns, wo man eigentlich immer wieder staunt, wenn man drauf stößt. Das ist ganz klar, daß, wenn über Black Panthers berichtet wird, die Polizei Pigs genannt werden, mit dem englischen Wort "pigs", daß man das übernimmt und daß man es richtig findet. Wohingegen immer wieder das Problem auftaucht, daß, wenn man es hier mit den Bullen zu tun hat, argumentiert wird, die sind ihrer Funktion nach natürlich brutal, ihrer Funktion nach müssen sie prügeln und schießen, und ihrer Funktion nach müssen sie Unterdrückung betreiben, aber das ist ja auch nur die Uniform, und es ist nur die Funktion, und der Mann, der sie trägt, ist vielleicht zu Hause ein ganz angenehmer Zeitgenosse.
So daß in der Auseinandersetzung. wenn es zur Auseinandersetzung mit den Bullen kommt, immer wieder die Leute unsicher sind und daß, wo sie gar keine Schwierigkeiten haben, bei den Panthers, deren Wort für Bullen, nämlich das Wort Schweine zu übernehmen, nicht anwenden auf die Polizei, die ihnen selber auf der Straße begegnet, mit der sie es zu tun kriegen, die sie einsperrt und die sie zusammenknüppelt und die in Berlin ja auch schon geschossen hat.
Das ist ein Problem, und wir sagen, natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden.
Denn wir haben nicht das Problem, daß das Menschen sind, insofern es ihre Funktion ist, beziehungsweise ihre Arbeit ist, die Verbrechen des Systems zu schützen, die Kriminalität des Systems zu verteidigen und zu repräsentieren. Und wenn wir es mit ihnen zu tun haben, dann sind das eben Verbrecher, dann sind das eben Schweine, und das ist eine ganz klare Front. Diejenigen, die sagen, nicht die Bullen sind schuld, die Bullen sind auch irgendwie Menschen, sie haben nur diese beschissene Funktion, diejenigen, die sagen, wir wollen den Kapitalismus abschaffen und den Imperialismus bekämpfen, aber wir machen einen Unterschied zwischen dem System, das wir bekämpfen und den Bullen, die uns bekämpfen -- die kommen natürlich überhaupt nicht dazu, das System da zu bekämpfen, wo das System uns bekämpft, Das heißt eben: Sie kommen nicht darüber hinweg, ihre Theorie zur Praxis zu machen, ihre Theorie, die richtig ist. Aber die Praxis hat natürlich zu sein, davon auszugehen, daß die Polizei als Repräsentant des Systems zu bekämpfen ist, und natürlich rücksichtslos zu bekämpfen, und natürlich skrupellos und bedenkenlos zu bekämpfen ist.
Was wir machen und gleichzeitig zeigen wollen, das ist: daß bewaffnete Auseinandersetzungen durchführbar sind, daß es möglich ist, Aktionen zu machen, wo wir siegen und nicht wo die andere Seite siegt. Und wo natürlich wichtig ist, daß sie uns nicht kriegen, das gehört sozusagen zum Erfolg der Geschichte.
DER SPIEGEL 25/1970

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