Donnerstag, 29. Mai 2014

Ein Bericht aus Winterthur

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Der FC Winterthur ist ein Schweizer Fussballclub, der momentan in der zweithöchsten Liga spielt. Bei Spielen steht kein Polizist im Stadion. Die Fans dort sind Verweigerer des modernen Fußballs. Ein Besuch.

Winti! Winti! Winti!, dröhnte es mit hellen Stimmen aus der Sirupkurve. Der FC Winterthur hatte sich zur Saisonabschlussparty die Mannschaft von FC United of Manchester eingeladen. Die Sirupkurve ist eine überdachte Minitribüne für Kinder. Ein geräuschvolles Reich, Trommeln in der ersten Reihe. Oft und gern drischt der engagierte Nachwuchs auf die Schlagwerke, um seinen Anfeuerungsrufen entsprechenden Druck zu verleihen.

Knapp dreitausend Menschen feierten ein freudvolles Fußballfest mit allen Schikanen. Etwa vierhundert rote Fußballrebellen aller Altersklassen waren United in die Schweiz gefolgt. Der Club wurde 2005 von Manchester United Fans gegründet, die damit gegen die Übernahme des Klubs durch Malcolm Glazer demonstrierten.

Der FC United of Manchester hat seitdem weltweit viele Fans und Sympathisanten. Er ist das internationale Symbol gegen die Kommerzialisierung des Massensports Fußball.

FC Winterthur Geschäftsführer Andreas Mösli sagte vorm Spiel „Wir wollen Fussball für das Volk“. Er bringt damit die Verbindung der beiden Fußballvereine auf den Punkt. Sein FC Winterthur ist eine feste Größe in der 2. Liga. 1984 gab es ein kurzes Intermezzo in Liga eins, seither ist der Verein zweitklassig. Fußballerische Schmalhänse wie Jogi Löw und Uwe Rapolder schnürten in der Vergangenheit für Winterthur den biederen Stiefel.

Der FC Winterthur ist ein besonderer Verein. Er wurde Anfang der Nullerjahre vom derzeitigen FCW-Präsidenten vorm Bankrott gerettet. Für diese Aktion holte er sich engagierte Leute aus der Fankurve, die bis dahin im Verein nur als Konsumenten des mittelprächtigen Fußballs hervorstachen. Kaum dreihundert versprengte Enthusiasten besuchten in der düsteren Zeit das Stadion, die meisten alt und grau. Griesgramfußball. In der zugigsten Kurve stand ein Trupp alternativ geprägter Fans. Ironische Fußballfreunde, angepunkt bis langhaarig, in linken Kollektiven der Stadt unterwegs. Ihre Kurve nannten sie Bierkurve.

Das Trinken von Bier war Programm – und ist es noch immer. Der Schweizer an sich ist sehr heimatverbunden. Vielleicht hat das auch mit den unheimlich vielen Sprachen zu tun, die in der Schweiz geschwatzt werden. Schweizerdeutsch, rätoromanisch, italienisch, französisch. Dazu hat jedes Tal seinen eigenen Dialekt. Die Schweizer sagen, sie sprechen untereinander am liebsten englisch. Um sich überhaupt irgendwie verständigen zu können.

2001 war der Verein klinisch tot. Nun trat Hannes W. Keller auf den Plan. Genau am 11. 09. 2001 wurde er Präsident. Ein Physiker und Unternehmer. Seine Firma hatte ihren Sitz zur Miete auf einem Winterthurer Areal. Dort befanden sich außergewöhnlich viele Handyantennen. Das gefiel ihm nicht. Dagegen galt es etwas zu unternehmen. Strahlenschutz. Als Präsi merkte er schnell, beim FC stimmt etwas nicht. 2,5 Millionen verdeckte Schulden. Das hat er auf den Tisch gebracht.

Die alten Zöpfe machten sich flink davon, während Keller den Verein entschuldete. Der Club startete in die neue Saison mit acht Minuspunkten. Hielt trotzdem die Klasse, dank einer Ligareform gab es in dieser Saison keinen Absteiger. Am Saisonende trat DJ Minus 8 auf, die Bierkurve hatte 15.000 Franken für ihren Club gesammelt. Das überzeugte Keller endgültig. Er gibt seither pro Jahr eine Million Franken. Hat unangepasste, blitzgescheite Leute wie den Geschäftsführer Andreas Mösli verpflichtet. Direkt aus der Bierkurve. Auch die schmucke Vereinskneipe wird inzwischen von der Bierkurve genossenschaftlich bewirtschaftet. 2011 und 2012 gab es Freundschaftsspiele gegen den FC St. Pauli. Der FC Winterthur hat mit seinen Fans eine Sozialcharta erarbeitet. Von Armut betroffenen Menschen soll der Fußball nicht vorenthalten werden. Alle Kulturen, alle Hautfarben sind willkommen. Das ist der Ursprung des linken Images von Winterthur. Seither stieg die Zuschauerzahl, dreitausend Menschen bei einem Freundschaftsspiel gegen einen Siebtligisten sind deutlich. Der Verein ist in der Stadt verankert.

Demnächst wird eine neue Tribüne gebaut. Für zehn Millionen. Neun davon bezahlt die Stadt. Von einem Werbeplakat grüßt ein Kamel und kündet von der Verbindung des Clubs zum lokalen Kunstmuseum. Die Fans sind hoffnungsvolle Fußballromantiker. Die Anzeigetafel wird noch per Hand bedient, eine Wurstbude wurde in Erichs Wurststation umbenannt, als der verdiente Torwart Erich Hürzeler seine Pötten an den Nagel hing. Die Kids der Sirupkurve haben einen eigenen Stand. Dort gibt es Obst statt Fastfood. Im Salon Erika hinter der Bierkurve wird regelmäßig Kunst ausgestellt.

Was mir besonders auffiel. Im ganzen Stadion kein einziger Polizist. Kaum Ordner. Trotz hunderter feierwütiger Engländer. Kein Fußballpöbel. Dafür unheimlich viele Frauen und Kinder, normale, angenehme Leute. Dazwischen die Bierkurvler, die mit den Sirupkids und den Engländern eine überragende Fußballstimmung fabrizierten. Winterthur gewann 4:1, doch das Ergebnis war egal. Weil die Engländer in der siebten Liga kicken. Und neben der Physiotherapeutin auch eine fast originalgetreue Kopie von MU-Ryan Giggs (Zitat von Ryan Giggs' Vater "Ryan ist dumm wie ein Tellerwäscher") auflief. Rhodri Giggs. Ryans kleiner Bruder.

Die Engländer tranken durchgängig Bier, die Schweizer taten es ihnen gleich. Natürlich hatte sich längst die gesamte Mannschaft des FC United unters Volk gemischt. Dazwischen Leute mit Trikots von u.a. St. Pauli, Livorno, Union Berlin, SC Freiburg, BFC Dynamo. Friedvolle Feiergemeinde. Junge Pärchen kugelten auf dem Platz. Er war für Turnübungen, Nackt-Flitzereinlagen und Verlustieren aller Art freigegeben. Aus einem alten Transporter ertönte Ska und Reggea. Die Verweigerer des modernen Fußballs tanzten, feierten, küssten sich bis tief in die Nacht und bellten den Mann im Mond an. Der heißt Sepp Blatter. Auch ein Schweizer. Den viele für einen skrupellosen Geschäftemacher halten. Der für eine Art Fußball steht, mit dem die Leute aus Winterthur und Manchester so gar nichts gemein haben.

http://www.tagesspiegel.de/sport/willma ... 62284.html