1967 macht ein Draufgänger den Traum vom eigenen Staat wahr und ruft Mitten in der Nordsee das Fürstentum Sealand aus. Noch heute ein Kuriosum.
So habe ich noch nie eine Grenze passiert: Von einer Seilwinde werde ich vom Deck eines schaukelnden Boots in die Höhe gehievt, bevor ich 15 Meter über der Wasseroberfläche meinen Fuss auf das kleinste Land der Welt setze: Sealand. Von Land zu sprechen ist allerdings etwas irreführend, denn unter meinen Tritten scheppern stählerne Platten. Sealand thront auf zwei wuchtigen Betonpfeilern, die wiederum auf einem versenkten Frachtkahn verankert sind. Die Plattform hat etwa die Grösse zweier Tennisplätze. Gegen Osten blickt man auf die graue Nordsee hinaus. Im Westen zeichnet sich die Küste Englands ab; sieben nautische Meilen oder rund 13 Kilometer ist sie entfernt.
Ein bulliger Typ mit kurzgeschorenem Haar und einer auffälligen Lücke zwischen den Schneidezähnen begrüsst mich jovial. Er ist hier der Chef, Michael of Sealand, seines Zeichens Prinzregent. Mit bürgerlichem Namen heisst er Michael Bates. Es ist das Jahr 2003, in dem mir die Ehre zukommt, seine kräftige Hand mit den Wurstfingern zu schütteln. Und Michael zeigt mir alles, was es auf Sealand zu sehen gibt. Den sogenannten Thronsaal, eine Kammer mit ein paar ausgesessenen Fauteuils und der Fahne Sealands an der Wand, eine Küche, von deren Decke zwei Plüschpapageien hängen, ein paar Zimmer, darunter dasjenige des Sicherheitschefs mit Schrotflinte und Patronen auf dem Schreibtisch und griffbereiten Handschellen. Alles unterm Blechdach der Baracke in der Mitte der Plattform. Von dort aus geht es auch in die beiden Betontürme hinab. Während im einen Kompressoren wummern und es ausser einer Gefängniszelle nicht viel zu sehen gibt, blinken im andern regalweise Server, und das auf mehreren Stockwerken. Sealand ist zu dieser Zeit ein sicherer Hafen für Unternehmen und Personen, die ihre Daten gerne vor dem Zugriff staatlicher oder anderer neugieriger Instanzen schützen möchten.
Der Radiopirat
Doch die Gründungsgeschichte von Sealand ist mit einer anderen Technologie verbunden, mit dem Radio. Und Michael ist bloss der Erbe des Titels, den sein schneidiger Papa begründet hat. Paddy Roy Bates ist so ziemlich das Gegenteil seines Sohns. Seine Sprache hat den leicht nasalen Tonfall des englischen Gentleman, den er gegenüber dem Gast auch perfekt spielt. Mit über 80 sind seine buschigen Augenbrauen zwar weiss wie die Kämme der Nordseewellen. Gleichzeitig aber drücken sie noch immer jene Entschlossenheit aus, die eine Staatsgründung zweifellos voraussetzt.
1966 war Roy Bates ein Pirat, ein Radiopirat. Er hatte die grösste private Radiostation in England, Radio Essex, gegründet und damit der BBC den Kampf angesagt. Zusammen mit einem anderen Radiobetreiber, Ronan O’Rahilly, beschloss er, auch aus der ehemaligen Flugzeugabwehrbasis vor der englischen Küste eine Sendestation zu machen. So landete die Truppe auf dem verlassenen Fort. Als ehemaliger Major der britischen Armee wusste Roy, wie man das macht.
Allerdings zerstritten sich die Partner bald. Als Roy Bates die künstliche Insel als sein Eigentum deklarierte, kam es zum offenen Konflikt. O’Rahilly versuchte, die Plattform zu stürmen. Roy und seine Schar schossen scharf zurück und warfen Benzinbomben. Das rief die Marine auf den Plan. Doch auch den Schiffen ihrer Majestät erging es nicht besser. Und anstatt sich zu ergeben, rief Roy Bates am 2. September 1967 schliesslich das Fürstentum Sealand aus, machte sich zum Prince of Sealand und schickte die Marine mit scharfer Munition zum Teufel. Der Wahlspruch des neuen Staates: «E Mare Libertas» – von der See die Freiheit.
Natürlich liessen sich das die Engländer nicht einfach gefallen. Sobald Roy Bates seinen Fuss auf echten Boden setzte – schliesslich wächst auf Sealand keine Bohne, und Vorräte müssen mühsam herangeschippert werden –, wurde er wegen illegalen Waffenbesitzes festgenommen. Als es zur Verhandlung kam, erklärte sich das Gericht aber für nicht zuständig, denn Sealand befand sich ausserhalb der damaligen Hoheitsgewässer Grossbritanniens, die sich bloss drei Meilen von der Küste aus erstreckten – erst 1987 wurden diese auf zwölf Meilen erweitert.
Roy Bates interpretierte das Urteil kurzerhand in eine formale Anerkennung Sealands um. Seitens der britischen Regierung sah man das freilich anders. Aber man liess die Sealander seitdem in Ruhe. Das bedeutete aber nicht, dass auch Ruhe auf Sealand einzog. Wer sich wie die Bates in der Grauzone der Legalität aufhält, zieht merkwürdige Gestalten an. Eine davon war ein Deutscher, Alexander Achenbach, der sich als Aussenminister Sealands ausgab. Achenbach hatte einen cleveren Plan, um Sealands Anerkennung als Staat voranzutreiben. Er wollte seinen deutschen Pass abgeben und ganz Sealander werden. Allein, die deutschen Gerichte machten nicht mit. In seinem abschliessenden Urteil befand das Kölner Verwaltungsgericht am 3. Mai 1978, Sealand sei kein Land, weil es nicht Teil der Erdoberfläche oder ein Landgebiet sei – kein «Kegelausschnitt aus der Erde» eben. Zudem fehle Sealand ein eigentliches Staatsvolk und eine Staatsgewalt, obgleich sich Roy Bates als Fürst ausgab, der eine Verfassung erlassen und auch Nationalflagge und Nationalhymne eingeführt hatte.
Schlacht um Sealand
Achenbachs zweiter Plan war weniger clever. Er beschloss kurzerhand, das künstliche Eiland zu übernehmen. Im August 1978 – Roy und seine Frau Joan hatte man zuvor nach Wien weggelockt, nur Michael war zurückgeblieben – überfiel Achenbach mit Hilfe von deutschen und holländischen Söldnern die Plattform. Michael wurde zunächst in die Zelle im Betonturm gesteckt und anschliessend in Belgien an den Strand geworfen – «wie Treibgut», erzählt er mit grimmigem Gesicht. Aber so leicht liess sich der Fürst nicht vertreiben. Und unter den Freunden der Bates waren auch solche, auf die man zählen konnte. Etwa ein Stuntpilot, der bei den frühen Bond-Filmen mitgewirkt hatte. Er flog Roys Truppe auf die Insel, die sie im Handstreich zurückeroberten. «Es gab ein paar blaue Augen und geplatzte Lippen», kommentiert Michael die Schlacht um Sealand mit breitem Grinsen.
Diesmal wanderte Achenbach in die Zelle, und weil zumindest die Sealander ihn als Sealander anerkannten, sollte ihm der Prozess wegen Landesverrats gemacht werden. Da intervenierte die deutsche Botschaft in England, und nach langwierigen Verhandlungen stattete der Botschafter der Plattform einen Besuch ab. «Wir haben ihn erst einmal gefilzt», berichtet der Sicherheitschef von Sealand, der den Charme eines Preisboxers verströmt. Aber Achenbach kam frei. Trotzdem war das Ereignis ein Erfolg für Roy und Michael Bates, denn dass sich der Botschafter eines Landes an ihren Tisch gesetzt habe, beweise doch, dass man als Staatsgebilde anerkannt werde, argumentiert Michael.
Natürlich wollten die Bates in erster Linie Geld mit der Plattform verdienen. Doch weder das Steuerparadies Sealand noch Sealand als Erholungsort für Promis noch Sealand als Spielcasino liess sich realisieren. Gewinne strichen andere ein, zum Beispiel Passfälscher, die Tausende sealändische Diplomatenpässe ausstellten. «Wir hatten damit nichts zu tun», sagt Roy Bates und wölbt seine buschigen Augenbrauen. Trotzdem mussten alle Sealand-Pässe, auch die, die Roy selbst ausgestellt hatte, annulliert werden. Mit den Server-Plätzen soll nun endlich der Rubel rollen. Allerdings sind nicht die Bates die Betreiber des Daten-Hafens, sondern eine kalifornische Firma namens HavenCo, deren Gründer, Rayn Lackey, auf Sealand nach dem Rechten sieht. Der Extrem-Kurzhaarschnitt ist das Einzige, was Lackey und Michael verbindet, wobei derjenige Lackeys noch extremer ist. Die Gesichtsfarbe des Amerikaners verrät zudem konsequente Sonnenabstinenz, und er ist auch deutlich zugeknöpfter als seine englischen Gastgeber. «Wer hostet denn nun Daten hier?» – «Viele», sagt Lackey. – «Und wer?» – «Zum Beispiel die tibetische Exilregierung.» Mehr ist aus ihm nicht rauszukriegen. Michael springt ein: «Wir tolerieren alles ausser Kinderpornographie und Junk-Mails.» Doch wolle jemand Auskunft über die gespeicherten Daten, so heisse es: «Bugger off!» Der Sicherheitschef nickt geflissentlich.
«E Crypto Libertas»
Ich werde nach ein paar Stunden durchaus freundlich von Michael verabschiedet, der bei der «Ausreise» eigenhändig meinen Schweizer Pass stempelt. Darüber, was sich in den folgenden Jahren auf Sealand zutrug, habe ich von ferne erfahren: So sollen sich auch Lackey und die Bates zerstritten haben. Der Amerikaner beklagte sich später, von seinen Partnern übers Ohr gehauen worden zu sein und seine gesamten Investitionen verloren zu haben. 2008 stellt HavenCo den Betrieb ein. Das Unternehmen erlebte allerdings im letzten Jahr eine Wiedergeburt – ganz unter Kontrolle der Bates und mit dem vom sealandischen Wahlspruch abgeleiteten Slogan «E Crypto Libertas» – von der Verschlüsselung die Freiheit.
Dynastiegründer Roy of Sealand ist ein Jahr zuvor, am 9. Oktober 2012, verstorben. Sein persönliches Motto lautete: «Ich mag jung oder alt sterben, aber nie aus Langeweile.»
Atlantium, Avalon oder Lovely – jedem sein Staat
Sealand ist nicht der einzige Mikrostaat in unserem Universum. Der «Lonely Planet Guide to Home-Made Nations» zählt über 30 solcher Gebilde auf, die zwar Staatsoberhäupter, Flaggen und Nationalhymnen besitzen, zuweilen gar Territorium für sich beanspruchen und Einwohner zählen, die aber von keinem anerkannten Staat anerkannt werden.
Unter den Mikronationen gibt es auch experimentelle Formen wie beispielsweise Atlantium. Ursprünglich von drei Teenagern in Australien ins Leben gerufen, definiert sich Atlantium als globaler Staat. Die geographische Verortung ist nicht mehr wichtig, denn in einer modernen Welt kann man ja überall leben, entsprechend könnte man auch Bürger eines globalen Staatsgebildes sein mit eigener Rechtsprechung und eigener Währung. So richtig abgehoben hat aber Atlantium noch nicht.
Auch in der Schweiz gibt es einen Staat im Staat. Unweit der Thur liegt Avalon. Der Industrielle Daniel Model hat in der Gemeinde Müllheim ein grosszügiges Anwesen errichtet und dieses zum Hauptsitz seines libertären «Staats» gemacht. Model hält nicht viel von sozialen Netzen und glaubt daran, dass es viele traditionelle Staaten nicht mehr lange machen. Dann sieht er seine Stunde gekommen. Man wird sehen.
Sympathischer war da Lovely, ein Projekt, das der englische Komiker Danny Wallace 2006 ins Leben gerufen hat. Inspiriert durch das Fürstentum Sealand, beschloss er, seinen eigenen Staat in seiner eigenen Wohnung auszurufen mit ihm als König. Auch seinem Staat konnte man beitreten, ganz einfach übers Internet, und als Staatsgebiet galt dann auch die eigene Wohnung frei nach dem Motto «My home is my country». Die BBC drehte eine Doku-Komödie über die Entstehung von Lovely – «How to Start Your Own Country» – und zeitweise zählte Wallace’ Staat fast 60 000 Bürger. Inzwischen scheint er offline gegangen zu sein.