Kriminalsoziologe Reinhard Kreissl übt Kritik am Polizeieinsatz bei den Anti-Akademikerball-Demos
Der Polizeieinsatz bei den Anti-Akademikerball-Protesten sei "sicher nicht 'state of the art'" gewesen, nachträgliche Stellungnahmen der Polizeispitze würden dazu beitragen, die Situation zusätzlich hochzuschaukeln, meint Kriminalsoziologe Reinhard Kreissl. Österreich habe es bisher versäumt, sich mit legitimen Protestformen auseinanderzusetzen.
derStandard.at: Im
Zuge der Demonstrationen gegen den Akademikerball war viel von Gewalt und
Gewaltbereitschaft die Rede. Was ist Gewaltbereitschaft?
Kreissl: Nehmen wir eine Formation wie die Polizei: Da gibt
es schon so etwas wie eine politisch induzierte Gewaltbereitschaft. Wenn ich
mir die Rhetorik des Wiener Polizeipräsidenten anschaue, etwa in der
Diskussionssendung Im Zentrum, wo er sagt, man solle Demonstranten "zur
Strecke bringen", dann zeigt diese Rhetorik eine gewisse Missachtung des
Gegenübers. Und diese Missachtung kann bei einzelnen Beamten sehr schnell
gewisse zivilisatorische Schranken außer Kraft setzen - "auf die kann man ja einschlagen".
derStandard.at: Ist
das bewusste Provokation oder ungeschickte Rhetorik?
Kreissl: Zumindest ist es unbedacht - und es ist taktisch
und politisch unklug.
derStandard.at: Wie
beurteilen Sie die Vorbereitung des Einsatzes, das Platzverbot und die Vermummungsverbots-Zone?
Kreissl: Die taktische Vorgehensweise war sicher nicht
"state of the art". Sie haben in solchen Situationen ja ein
überschaubares und leicht identifizierbares Potenzial an Leuten, die einfach
Krach machen wollen. Die sind da, machen wir uns da nichts vor. Nun geht es
darum, wie ich sie herausholen kann. Da gibt es Erfahrungen aus Städten wie
Berlin oder Hamburg.
derStandard.at: Hat
die Wiener Polizei einfach zu wenig Erfahrung mit größeren Protesten?
Kreissl: Österreich war sicher bisher eine Insel der
Seligen, was Gewalt bei Protesten anbelangt. Die traditionellen Opernball-Demos
waren halt ein Event, das jedes Jahr wiederholt wurde, da konnte man sich drauf
einstellen. Aber wirklich massive, robuste Protestformen, wie Sie es in Hamburg
oder Berlin hatten oder bei den G7-Protesten, gab es in Wien nicht. Nun kommen
plötzlich 50 oder 150 Hanseln, die Rambazamba machen, und die Polizei fällt aus
allen Wolken.
derStandard.at: Alle
sprechen von Deeskalation, aber wie kann sie in der Praxis aussehen?
Kreissl: Ich bin alt genug, um es selbst erlebt zu haben.
Bei den ersten Studentenprotesten in München Anfang der Sechzigerjahre saß die
Polizei auf zehn Pferden, sie hatte VW-Käfer und komische Plastikhelme und war
völlig überfordert. Die Polizisten gingen mit den Pferden dazwischen und haben
reingeprügelt. Und der Polizeipräsident hat dann Polizisten ausgewählt, die auf
die Demonstrierenden zugegangen sind und gesagt haben: "Wir verstehen eure
Anliegen, man kann gegen den Staat sein, das ist okay, aber ihr müsst doch
irgendwie versuchen, friedlich zu bleiben." Diese Diskussionskommandos,
die dann den technischen Namen "Laber-Kommandos" bekamen, waren eine
sehr kluge Innovation.
derStandard.at: Was
aber, wenn niemand bereit ist zu diskutieren?
Kreissl: Man könnte schon viel von der Spannung rausnehmen,
wenn man nicht sofort mit dieser Worst-Case-Ausrüstung hinkommt. Man muss das
ja auch einmal aus der Perspektive der Polizeibeamten betrachten: Hunderte
junge Kollegen sitzen stundenlang in Combat Gear in VW-Bussen, die Luft ist
schlecht, der Kaffee ist kalt, die Stimmung auf dem Tiefpunkt, es ist eng und
man schwitzt. Und dann werden die rausgelassen. Und da drüben steht der Anlass,
warum es ihnen so schlecht geht. Das schafft natürlich eine gewisse
Einstellung.
derStandard.at:
Welche Einstellung ist das?
Kreissl: Es wird eher eine konfrontative als eine
verständnisvolle Haltung kultiviert. Wenn man sagt, es handelt sich hier nicht
um eine legitime Form zivilen Ungehorsams, sondern um Chaoten und Krachmacher,
die dafür verantwortlich sind, dass ich Nachtschichten schieben muss, dann ist
das natürlich problematisch. Es gibt Untersuchungen über die Castor-Transporte:
Da gibt es viele Polizisten, die sagen, sie würden eigentlich lieber auf der anderen
Seite stehen – diese ganze Atompolitik und so. Dort gibt es dann oft eine
humanere Umgangsweise mit zivilen Protesten. Wenn man da differenzierter
vorginge, nicht nur Combat-Truppen vorschicken, sondern auch andere
Einsatzformen entwickeln würde, könnte man sicher einiges vermeiden. Die
Polizei ist eine notwendige Institution in modernen Gesellschaften, aber sie
muss von diesem männerbündlerischen Selbstmissverständnis weg. Und sie muss von
diesem Freund-Feind-Denken weg. Natürlich gibt es Leute, die wollen Krach
machen. Aber Sie könnten schon diesen Trupp isolieren, ohne damit gleich die
ganze Demonstration zu kriminalisieren.
derStandard.at: Nach
den Vorfällen gab es dutzende Aufforderungen, sich "von Gewalt zu
distanzieren".
Kreissl: Ja, man kann natürlich immer politisches Kleingeld
mit solchen Dingen machen. Aber ich kann auch auf Polizistenseite Anlässe
finden. Nehmen Sie den Fall Bakary J. – ich kann das auch hochrechnen und
sagen: Lauter Sadisten, Rassisten bei der Polizei. Ich argumentiere so: Jede
Menschenrechtsverletzung bei der Polizei ist eine Form misslungener
Problemlösung. Es gibt auch in der Polizei diese zwei, drei, fünf Prozent
Psychopathen, wie in der Gesamtgesellschaft. Aber zusätzlich gibt es
Organisationsversagen: Wenn Sie bei einem Supermarkt-Einbruch in Krems um drei
Uhr morgens zwei blutjunge Kollegen ohne Backup hinschicken, dann sind die
überfordert.
derStandard.at: Wie
stehen Sie zu Sprüchen wie "Unseren Hass könnt ihr haben"?
Kreissl: Wenn man sich daran aufhängt, muss ich sagen:
Leute, bitte um etwas mehr Souveränität. Wir leben in einer Gesellschaft, wo
man sich viel bieten lassen muss. Und da gehört so eine Rhetorik auch dazu. Die
ist genauso bescheuert und banal wie Mölzers Rede von den „ordentlichen
Bürgern, die hier in Ruhe ihren Ball feiern wollen". Natürlich ist der
Akademikerball ein politisches Statement. Wenn Mölzer jetzt sag, „Wir wollen
doch nur tanzen und ein Flascherl Champagner trinken", dann stellt er sich
dümmer, als er ist.
derStandard.at: Am
Ende der Ball- und Demonstrationsnacht und der Medienberichte blieb eine
Botschaft übrig: hier Ballgäste beim Tanzen, dort eingeschlagene
Fensterscheiben.
Kreissl: Erstens weiß ich nicht, was die Burschenschafter
hinterlassen, wenn sie einmal ordentlich zugedröhnt sind. Und zweitens: Die
zerschlagenen Fensterscheiben sind sozusagen die Kosten einer modernen
Gesellschaft. Aber ich will mich auf dieses Aufrechnen gar nicht einlassen –
sonst müsste man fragen: Was sind 20 zerschlagene Fensterscheiben gegen die
Hypo Alpe Adria?
derStandard.at: Warum
wird das Prädikat "gewaltbereit" eigentlich nur in Verbindung mit
sozialen Bewegungen verwendet und beipielsweise nie für Eltern oder Lehrer?
Kreissl: Es stimmt, dass am meisten Gewalt vom sozialen Nahraum
ausgeht. Eltern schlagen Kinder, Männer schlagen Frauen, Lehrer tun irgendwas
mit ihren Schülern, was sie nicht tun sollten. Aber diese Formen von Gewalt
treten nicht so stark ins Rampenlicht. Es ist ja eine nicht zu unterschätzende
Errungenschaft der Frauenbewegung, das Thema Gewalt in der Familie überhaupt
auf die Agenda gesetzt zu haben.
derStandard.at: Gibt
es Formen der Gewalt, die als legitimer empfunden werden als andere?
Kreissl: Die Frage, was man legitimerweise tun darf, wo
Gewalt beginnt, sollte öffentlich verhandelt werden. Es ist zu billig, sich in
solchen Fällen auf das Gesetz zurückzuziehen. Das Recht ist wie ein
Werkzeugkasten, das können Sie so oder so verwenden. Ziviler Ungehorsam ist
eine öffentliche Aufforderung, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen. Da hat
Österreich sicher ein Defizit. Öffentliche Debatten darüber gibt es hier nicht.
Da wird gleich von Gewalttätern geschrieben.
derStandard.at:
Worüber sollten wir diskutieren?
Kreissl: Zum Beispiel darüber, wie weit wir das politische
Handlungsrepertoire definieren. Ist es legitim, in Wien den Ring zu blockieren,
um darauf hinzuweisen, dass Roma und Sinti schlecht behandelt werden? Ist es
legitim, das Parlament zu besetzen? Für solche Diskussionen eignet sich kein
Gerichtssaal, da brauchen wir andere Foren. Die öffentliche Artikulation von
Meinung ist da durchaus ein legitimes Verfahren. Insofern könnte man sagen: Der
24. Jänner war Demokratie in Aktion.
derStandard.at: Wo
liegt die Grenze des polizeilichen Gewaltmonopols?
Kreissl: Die Polizei soll einschreiten, um Gewalt zu
verhindern. In vielen Fällen kann sie es nicht – vor allem in der Familie, in
Wirtshäusern. Das Gewaltmonopol der Polizei heißt nur, dass sie die einzigen
sind, die notfalls dürfen – das heißt aber nicht, dass sie müssen. Ich bin
überzeugt davon, dass eine gute Polizei in einem demokratischen Rechtsstaat
sehr viel selbst entscheiden kann. Bei uns passiert das Gegenteil. Stellen Sie
sich vor, der Gesundheitsminister sagt: Morgen werden nur noch Blinddärme operiert
und keine Katheter mehr gesetzt, denn Blinddärme sind gerade das größte
Problem. Bei der Polizei sagt man: Ab morgen macht ihr Aktion scharf da und
Soko Ost dort. Man sollte gewisse gesellschaftliche Probleme der Polizei
überlassen – natürlich im Rahmen der Gesetze und unter aller Transparenz und
Nachprüfbarkeit. Dann kann die Polizei das besser, als wenn die Politik ständig
dazwischenfunkt. (Maria Sterkl, derStandard.at, 4.2.2014)
Reinhard Kreissl ist
wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie in
Wien.