Der Galgen auf der Akte: polizeiliche Empfehlung zur
Überweisung an das Standgericht. Wurde jemand exekutiert, kam ein Kreuz hinzu.
9. Februar 2014, 17:55
Der Galgen auf der Akte: polizeiliche Empfehlung zur
Überweisung an das Standgericht. Wurde jemand exekutiert, kam ein Kreuz hinzu.
"Exzesstötungen" und Übergriffe: Polizeiakten von
1934 offenbaren die Brutalität des Dollfuß-Regimes - samt geschönter
Opferstatistik
Es ist eine drastische Art der Kennzeichnung, auf die sich
die Polizisten verständigt haben: Auf manchen Akten von Personen, die sie
gerade vernommen hatten, malten sie eine kleine Zeichnung hin. Rechts oben im
Eck, nur skizziert, aber in der Botschaft eindeutig - und in der Konsequenz
potenziell tödlich - prangt da ein Galgen. Die Ermittler gaben so auf der
Aktenhülle bekannt, was später mit dieser Person zu geschehen habe: Es ist die
polizeiliche Empfehlung fürs Standgericht.
1933 eingeführt, galt dieses Schnellverfahren für Mord,
Brandstiftung und böswillige Sachbeschädigung. Schon am 12. Februar 1934 -
unmittelbar nach Ausbruch der Kampfhandlungen zwischen dem sozialdemokratischen
Schutzbund und den ständestaatlichen Heimwehren und dem Bundesheer - kommt das
Delikt "Aufruhr" hinzu.
In einem Büro in der Wiener Spiegelgasse durchforsten
momentan Historiker Polizei- und Justizunterlagen dieser Zeit, die sie in
Kisten im Staatsarchiv gefunden haben. Es ist der erste Versuch in der Zweiten
Republik, die historischen Akten systematisch aufzuarbeiten. Das Hauptinteresse
gilt den Fällen von 12. Februar (Beginn der Kampfhandlungen) bis 22. Februar
1934.
Schreiben des Sicherheitsbüros der Bundespolizeidirektion an
die Staatsanwaltschaft I, Wien: Anlässlich der Ausschreitungen der ehemaligen
Mitglieder des aufgelösten Republikanischen Schutzbundes am 12. Februar 1934 am
Margarethner Gürtel beim Gemeindebau Reumannhof rotteten sich abends auch
mehrere Burschen im Haydnpark nächst dem Reumannhof zusammen. [...] Das Militär
wurde, als es zur Räumung [...] schritt, mit Handgranaten, Gewehr- und
Pistolenfeuer aus dem Parke heraus empfangen und es wurden auch mehrere
Wehrmänner durch Handgranaten verletzt. Schließlich wurde der Haydnpark von den
Aufrührern gesäubert.
Der Februar 1934 in Fallzahlen: 7000 Festnahmen, mehr als
dreihundert Tote, eine unbekannte Zahl an Verwundeten - darunter viele Opfer
behördlicher Übergriffe. Diese wiesen etwa Anzeichen von Kolbenhieben im Nacken
oder Bajonettstichen im Rücken auf. Bis 1938 erfasst die Polizei mehr als
50.000 Personen.
Von einer empirischen Auswertung seien sie zwar noch
"meilenweit entfernt", sagt Zeithistoriker Florian Wenninger (Das
Dollfuß/ Schuschnigg-Regime 1933-1938, Böhlau-Verlag), der das Projekt einer
Plattform von außeruniversitären und universitären Instituten zur Repression
der Jahre 1933-1938 koordiniert. Aber "Erste Stichproben etwa aus
Wien-Meidling liefern klare Indizien dafür, dass die amtlichen Quellen die
Opferzahlen des Februar 1934 viel zu niedrig ausweisen", so Wenninger:
"Es gab wesentlich mehr Tote und Verwundete. Die große Zahl der
Zivilverletzten verdeutlicht zudem auch systematische Übergriffe der
Regierungsseite. Das Regime reagiert von Beginn an mit rücksichtsloser
Brutalität."
Von Oberösterreich und der Steiermark sind
"Exzesstötungen" bekannt, "Vergleichbares hat es mit hoher
Wahrscheinlichkeit auch in Wien gegeben. So berichteten Schutzbündler davon,
dass in Floridsdorf wahllos in die Menge geschossen worden ist."
Polizeiakte Amantus Polak, Gießergehilfe, geb 1912: Polak
befindet sich im Franz-Josef-Spital G 22 mit einem Bajonettstich in der rechten
Brustseite, welchen er am 14. 2. nachm. in Siebenhirten beim Bahnhof von
Mitgliedern der Heimwehr, als er sich der Aufforderung weiterzugehen
widersetzte, erhalten hat.
Gesucht wird auch in den Landesarchiven. Oberösterreich
forscht bereits, Niederösterreich will bald beginnen, und Wien soll 2015
folgen. Die angefragten Landesarchive seien "sehr interessiert". Wo
man scheitere, seien die Aktenlager der Diözesen. Der Historiker glaubt den
Grund dafür zu kennen: "Der Kirche ist das Thema zu brisant." Denn
hinter der Heimwehr und dem Militär hatte schon im Februar 1934 der Klerus
Stellung bezogen. In vielen der eroberten Gemeindebauten wurden
"Notkirchen" eingerichtet. Jene im Sandleitenhof steht noch heute -
damals abwertend als "Herz-Jesu-Garage" tituliert. Die Pfarrer
sollten die aufgeheizte Stimmung entschärfen, sie waren aber auch als Zensoren
tätig.
Parallel zur Forschungsarbeit bemüht sich die zuvor erwähnte
Plattform um ein Denkmal zur Erinnerung an die Februarkämpfer. Angedacht ist
eine mobile Installation, Wien soll zumindest schon ein grundsätzliches Placet
deponiert haben.
Vernehmung des Bezirkspolizeikommissariat Simmering: Karl
Amsüss, Heizer des Gaswerkes, geb. 1896, gibt an: Um 10 Uhr gingen wir in die
Kantine und frühstückten. Am Gang des Gaswerks sah ich ein einzelnes Gewehr
lehnen und dieses sah ich mir an, da es mich als Jäger interessierte. [... ]
Ich stelle entschieden in Abrede auf irgendjemanden geschossen oder hiezu
Beihilfe geleistet zu haben.
Neben den Polizeiakten wollen sich die Forscher den
Gerichten widmen. Dann wird man wissen, wie groß die Repression insgesamt war.
Was die 50.000 personenbezogenen Unterlagen für die Nationalsozialisten
bedeutet haben, liegt auf der Hand: Sie waren Ermittlungsgrundlage für die
Gestapo. (Peter Mayr, DER STANDARD, 8.2.2014)