LiveRegierungsgegner erklären Machtübernahme in Kiew +++ Polizei wechselt die Seiten +++ Janukowitsch flieht aus der Hauptstadt und vergleicht Siuation mit Machtergreifung der Nazis
Regierungsgegner übernehmen die Macht in der Hauptstadt Kiew. Auch die Polizei schließt sich ihnen offiziell an.
- Das ukrainische Parlament setzt Janukowitsch ab und Neuwahlen für den 25. Mai an.
- Die inhaftierte Oppositionsführerin Julia Timoschenko ist nach einem Parlamentsbeschluss wieder in Freiheit.
- Viktor Janukowitsch flüchtet nach Charkiw. In einer TV-Rede lehnt der Präsident einen Rücktritt ab - und vergleicht die Ereignisse der vergangenen Tage mit der Machtergreifung der Nazis 1933.
- Regierungsgegner besetzen auch Privatvilla von Präsident Viktor Janukowitsch.
Anhänger jubeln
Die frühere Regierungschefin verließ am Samstag das Krankenhaus, in dem sie zuletzt festgehalten worden war, wie ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP berichtete. Sie winkte ihren jubelnden Anhängern aus dem Auto zu. Das Parlament in Kiew hatte zuvor die sofortige Freilassung Timoschenkos beschlossen.Timoschenkos Vertrauter Arseni Jazenjuk sagte der Nachrichtenagentur Interfax, die scharfe Gegnerin von Janukowitsch wolle umgehend zu den seit Wochen demonstrierenden Regierungskritikern auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) im Zentrum der Hauptstadt reisen.
Timoschenko für EU-Beitritt
Timoschenko will bei der nächsten Präsidentenwahl antreten. Das sagte die Politikerin am Samstag kurz nach ihrer Freilassung der Agentur Itar-Tass zufolge. Timoschenko erklärte weiter, dass eine Diktatur gestürzt worden sei. Sie forderte nach dem Tod von Demonstranten in Kiew eine Bestrafung der Täter. Es gelte, das Andenken der Menschen zu ehren, die für die Freiheit der Ukraine gestorben seien, sagte Timoschenko am Samstagabend nach ihrer Landung in Kiew. Die Behörden sprachen am Samstag von 82 Menschen, die im Zuge des blutigen Machtkampfes gestorben waren. Timoschenko erklärt laut Interfax, sie sei sich sicher, dass die Ukraine in naher Zukunft der EU beitreten werde. Dies werde „alles verändern“.Opposition: Janukowitsch wollte fliehen
Janukowitsch hat nach Angaben der Opposition versucht, das Land in Richtung Russland zu verlassen. „Er hat versucht, ein Flugzeug in Richtung Russland zu nehmen, wurde aber vom Grenzschutz daran gehindert“, teilte der neue Parlamentspräsident Alexander Turtschinow, ein Vertrauter von Timoschenko, nach Angaben der Nachrichtenagentur Interfax mit. „Er versteckt sich derzeit irgendwo in der Region von Donezk“, hieß es weiter. Janukowitsch hatte die Hauptstadt Kiew zuvor verlassen und war in die östliche Stadt Charkiw gereist.Experten wiesen darauf hin, dass der Staatschef trotz eines Parlamentsbeschlusses formal weiter im Amt sei. Ein juristisch korrektes Amtsenthebungsverfahren müsse mehrere Hürden überwinden. Mehrere Kabinettsmitglieder sollen ins Ausland geflohen sein,
Timoschenkos Zustand in Haft verschlechtert
Timoschenko war im Jahr 2011 in einem international kritisierten Prozess wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich während ihrer Haftzeit dramatisch. Sie litt unter starken Rückenschmerzen und trat wiederholt aus Protest gegen ihre Haftbedingungen in den Hungerstreik. Deutsche Ärzte reisten mehrmals zu Timoschenko, um ihren Gesundheitszustand zu überprüfen. Die deutsche Regierung setzte sich für eine medizinische Behandlung in Deutschland ein.Die Freilassung von Timoschenko ist nach den Worten von EU-Parlamentschef Martin Schulz ein „historischer Augenblick für die Ukraine und für Europa“. Schulz verwies auf die Vermittlungsbemühungen des Ex-EU-Parlamentschefs Pat Cox und des früheren polnischen Staatspräsidenten Aleksander Kwasniewski. Beide Politiker hatten sich im Auftrag des Europaparlaments bei vielen Reisen in die Ukraine für die Freilassung Timoschenkos eingesetzt. Oppositionspolitiker Vitali Klitschko sprach von einem „politischen K.O.“ für Janukowitsch.
Janukowitsch verweigert Rücktritt
Janukowitsch blieb indes in einem Fernsehinterview hart: „Ich werde das Land nicht verlassen. Ich habe nicht vor zurückzutreten“, sagte er am Samstag in Charkiw. Er sei weiterhin der „rechtmäßig gewählte Präsident“ des Landes.Was sich derzeit in der Ukraine abspiele, gleiche einem Staatsstreich. Alle Entscheidungen des Parlaments seien illegal. Er werde den jüngsten Entscheidungen des Parlaments nicht zustimmen: „Alles, was derzeit in diesem Parlament geschieht, ist Banditentum. Wir sehen die Wiederholung des nationalsozialistischen Umsturzes der 1930er Jahre in Deutschland.“
Er habe das Gefühl, dass seine Sicherheit und die seiner Vertrauten von den Demonstranten in Kiew bedroht werde. Hunderte Büros seiner Regierungspartei seien angezündet worden, er und ranghohe Politiker seien bedroht worden: „Auf mein Auto wurde geschossen. Aber ich habe keine Angst.“ Janukowitsch hatte Kiew schon Freitagabend Richtung Charkiw verlassen.
Abgeordnete argumentieren Absetzung
Zunächst hatte es am Samstag nach Aussagen des Oppositionspolitikers Arseni Jaznejuk noch danach ausgesehen, dass Janukowitsch zurücktrete, und man nur noch auf die schriftliche Bestätigung warte. Kurz nach der Weigerung des Präsidenten zurückzutreten erklärte ihn das Parlament für abgesetzt. Der Staatschef übe sein Amt nicht aus und habe sich widerrechtlich Vollmachten angeeignet, argumentierten die Abgeordneten.Zuvor hatten Janukowitsch und Oppositionsführer ein von der EU vermitteltes Abkommen zur Lösung der Staatskrise unterzeichnet. Die Oberste Rada setzte danach umgehend erste Beschlüsse durch. So sollte die Rückkehr zur Verfassung von 2004 die Machtfülle des Staatschefs erheblich beschneiden - eine Kernforderung der Opposition. Das Abkommen sieht zudem vorgezogene Präsidentenwahlen bis zum Dezember vor. Geht es nach dem Parlament, sollen diese nun am 25. Mai stattfinden. Außerdem wurden mit dem Abkommen eine Übergangsregierung unter Beteiligung der Opposition und eine Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie vereinbart.
Lawrow stellt sich hinter Janukowitsch
Janukowitsch spricht nun davon, dass ihm die internationalen Vermittler, die bei der Unterzeichnung dieses Abkommens halfen, „Sicherheitsgarantien“ gegeben hätten. Schützenhilfe bekam er vom russischen Außenminister Sergej Lawrow. Dieser warf der ukrainischen Opposition vor, sich nicht an die Abmachung mit Janukowitsch zu halten. Die Opposition werde von „bewaffneten Extremisten und Pogrom-Anstiftern“ angeführt, deren Aktionen eine direkte Bedrohung für die Souveränität und die verfassungsrechtliche Ordnung der Ukraine seien.Allerdings gab es auch andere Töne aus Russland. Die jüngsten Ereignisse in der Ukraine seien Beweis für den Machtverlust des Staatschefs, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma, Alexej Puschkow. Moskau rückte am Samstag erstmals öffentlich von Janukowitsch ab: „Ein trauriges Ende für einen Präsidenten.“
Timoschenko-Vertrauter nun Regierungschef
Das ukrainische Parlament wählte am Samstag mit Turtschinow einen Vertrauten von Timoschenko zum Präsidenten des Parlaments und zum amtierenden Regierungschef. In der Früh war Parlamentspräsident Wolodimir Rybak, ein Vertrauter von Präsident Janukowitsch, zurückgetreten. Rybak gab gesundheitliche Gründe für den Schritt an. Wenig später bestimmte das Parlament den Oppositionsführer Arsen Awakow zum neuen Innenminister. Er soll das Amt so lange bekleiden, bis eine neue Koalitionsregierung gebildet wird.Innenministerium wechselte Seite
Die Armee betonte, sich nicht in den politischen Konflikt einzumischen. „Als Offizier werde ich keine verbrecherischen Befehle erteilen“, sagte Generalstabschef Juri Iljin. Die Armee wolle „dem ukrainischen Volk aufrichtig dienen“. Die Verfassung des Landes untersage den Streitkräften eine Einmischung in innere Konflikte.Das Innenministerium wechselte indes auf die Seite der Opposition und forderte diese zur Kooperation mit der Polizei auf. Zugleich betonte das Innenministerium, dass es den Wunsch der Opposition nach einem „raschen Wandel“ unterstütze. Auch die Chefs von vier Sicherheitsdiensten, darunter die Bereitschaftspolizei Berkut, die die Auseinandersetzung mit den Demonstranten anführte, versicherten am Samstag im Parlament, dass sie nicht gegen die Bevölkerung vorgehen würden.
Land vor Spaltung?
Demonstranten konnten so die Luxusresidenz des Präsidenten, den Mezhyhria-Komplex, betreten. Einem BBC-Bericht zufolge war dort keine Polizei an Ort und Stelle. Auch der Amtssitz des Präsidenten ist offenbar bereits in den Händen der Demonstranten. Zuvor hatten die radikalen Vertreter der Opposition, die „Volksverteidigungskräfte“, gedroht, mit Waffen den Amtssitz des Präsidenten zu stürmen, sollte Janukowitsch nicht umgehend zurücktreten.In den prorussischen Regionen im Osten und Süden der Ukraine hingegen wird die Legitimität des Parlaments angezweifelt. „Die Ereignisse in der ukrainischen Hauptstadt haben zur Lähmung der Zentralmacht und zur Destabilisierung der Regierung geführt“, sagten Vertreter örtlicher Regierungen und Parlamente am Samstag in Charkiw. Das Parlament werde bei seiner Arbeit „durch Waffen und Mord“ bedroht.
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