Samstag, 28. Juni 2014
28. Juni 1994
Schon 1974 wurde Unterweger (Bild: April 1994, beim Prozess in Graz) wegen Frauenmordes verurteilt. Im Gefängnis begann er zu schreiben, nach 16 Jahren kam er frei. / Bild: APA
20. Jahrestag: Jack Unterwegers rätselhaftes Ende
Am 28. Juni 1994 wurde Jack Unterweger als Serienkiller zu lebenslanger Haft verurteilt. Daraufhin beging er Suizid. Sein Psychiater meint, dies könnte ein „Unfall" gewesen sein.
Am Samstag ist es genau 20 Jahre her: Es war der 28. Juni 1994, als in Graz der Schuldspruch in einem der größten Kriminalfälle Österreichs gefällt wurde. Jack Unterweger, Sohn eines US-Besatzungssoldaten und einer Wienerin, wurde wegen neunfachen Prostituiertenmordes zu lebenslanger Haft verurteilt und in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Die Anklage lautete auf elffachen Frauenmord. Zwei Fälle ließen sich nicht beweisen. Rechtskräftig wurde der Spruch nie. Unterweger erhängt sich nach der Urteilsverkündung in seiner Zelle. Sein Fall war der erste Fall eines (mutmaßlich) sexuell motivierten Serienmörders in Europa. „Die Presse" sprach mit Unterwegers damaligem Gerichtsgutachter Reinhard Haller.
Die Presse: Sie haben vor 20 Jahren Jack Unterwegers Psyche analysiert. Gibt es etwas, an das Sie sich besonders erinnern?
Reinhard Haller: Den bei sexuellen Serienkillern beschriebenen „Charme des Psychopathen" habe ich in 30-jähriger Gutachtertätigkeit nie so klar gesehen wie bei Jack Unterweger. Beeindruckend war der krasse Gegensatz zwischen seinem angenehmen Äußeren und seiner schwer gestörten Innenwelt.
Würden Sie heute nach denselben Methoden psychiatrisch untersuchen wie damals? Und: Wie lautete damals Ihre Diagnose?
Die Frage der Zurechnungsfähigkeit, bei der es letztlich immer um die Freiheit des menschlichen Willens geht, ist zeitlos. Auch in 20 Jahren wird sich mit keiner Methode feststellen lassen, ob unsere Entschlüsse wirklich frei sind. Die Prognosestellung hat sich in den vergangenen Jahren durch die Einführung sogenannter Prognoseinstrumente wesentlich verbessert. Allerdings käme man bei Unterweger auch heute zu keinem anderen Ergebnis, als dass er ein beträchtliches Gefahrenpotenzial aufwies und deshalb in eine Anstalt für psychisch abnorme Rechtsbrecher eingewiesen werden müsste. Unterweger war nicht psychisch krank und mit einem Intelligenzquotienten von 112 recht begabt. Wie bei vielen Serienmördern lag bei ihm ein sogenannter „bösartiger Narzissmus" in geradezu klassischer Form vor. Diese Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch Sadismus, Dissozialität, Egozentrik und wahnähnliches Empfinden.
Würde Unterweger noch leben und könnten Sie ihm eine Frage stellen: Welche wäre das?
Am meisten interessierte mich, ob er sich tatsächlich umbringen wollte. Vieles spricht dafür, dass er nach der Verurteilung zu lebenslanger Haft einen Suizidversuch im Sinn eines Appells oder Protestes vortäuschen wollte, dies aber unglücklicherweise schiefgegangen ist. Persönlich würde ich ihn fragen, weshalb er sich von mir begutachten ließ, nachdem er zuvor sämtliche Psychiater abgelehnt hat.
Haben Sie durch Unterweger eine spezielle Erfahrung gemacht?
Unauslöschlich hat sich bei mir eingeprägt, dass große Verbrecher immer auch große Psychologen sind. Mit natürlicher Menschenkenntnis und instinkthaftem psychologischem Gespür sind sie uns Fachleuten oft weit überlegen. Seit Unterweger nähere ich mich der Psyche großer Verbrecher mit noch mehr Respekt und Neugier.
Zur Problematik von psychiatrischen Gutachten: Diese gelten als austauschbar, so als würden von Fall zu Fall dieselben Textbausteine verwendet werden. Ist daran etwas Wahres?
Entgegen der laienhaften Vorstellung muss der psychiatrische Gutachter keine komplexe tiefenpsychologische Durchleuchtung vornehmen, sondern lediglich feststellen, ob die untersuchte Person an einer von vier schweren psychischen Störungen leidet: psychische Behinderung, akute Geisteskrankheit, Vollrausch oder tief greifender Affekt. Bei der Beschreibung dieser Störungsbilder sind Wiederholungen unvermeidbar. Der Sachverständige muss komplizierte psychiatrische Zusammenhänge mit verständlicher Laiensprache in juristische Kategorien „übersetzen". Zudem fördert die Einführung von Richtlinien und Standards einen gewissen Schematismus.
Was müsste sich bei Erstellung von psychiatrischen Gerichtsgutachten ändern?
Die Psychiatrie ist keine Naturwissenschaft, psychiatrische Diagnosen können nie mit jener Sicherheit wie in der körperlichen Medizin getroffen werden. Für die gesamte Psychiatrie, nicht nur für die Forensik, wäre eine Objektivierung der Methoden wünschenswert. Hoffnungsvolle Ansätze zeichnen sich in den neuroradiologischen (bildgebende Verfahren, Anm.) ab. Heute hängt die Gutachtensqualität von diagnostischen Fähigkeiten des Psychiaters, vom Verständnis für rechtliche Denkweisen und von der Erfahrung des Gutachters ab.
Empfehlen psychiatrische Gutachter Einweisungen in eine Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher auch deshalb, weil sie nicht schuld sein möchten, wenn ein Täter freikommt und rückfällig wird?
In unserer Gesellschaft herrscht ein extremes Sicherheitsbedürfnis, das auch vor Richtern und Gutachtern nicht haltmacht. Wenn bereits im Zweifelsfall eine Sicherungsverwahrung erfolgt, lässt es sich nicht vermeiden, dass auch nicht wirklich gefährliche Personen ihrer Freiheit beraubt werden. Dies erklärt die derzeitige Überfüllung der Anstalten für psychisch abnorme Rechtsbrecher. Die psychiatrischen Gutachter müssten also die wirklich gefährlichen Verbrecher besser identifizieren und Alternativen zur Unterbringung aufzeigen, etwa ambulante Kontroll- und Behandlungsmöglichkeiten.
Wie sieht Ihre Gutachtensreform aus?
Dies beginnt bei der Ausbildung von Gutachtern. Um die Qualität zu heben, brauchte Österreich endlich einen Lehrstuhl und ein Forschungsinstitut für Forensische Psychiatrie. In schwierigen Fällen sollten generell mindestens zwei Gutachten eingeholt werden. Über Unterbringung und Entlassung von psychisch abnormen Rechtsbrechern sollten Kommissionen, nicht Einzelpersonen entscheiden.