Früher sah er rot, heute bleibt er cool
Nevio Palma gehörte zu den Basler
Ultras, den gewalttätigen Fans des FC Basel. Von einem Tag auf den anderen
hatte er den Schlägereien abgeschworen. Wegen seiner Kinder. Er sagt über sich,
er sei ein echter Italiener. «Chi va piano, va sano e lontano» (Wer langsam
geht, kommt weit und bleibt gesund). Und während Nevio Palma (45) das
italienische Sprichwort zitiert, bilden sich um seine Augen tiefe Lachfalten.
Seit 13 Jahren ist er bei der Stadt Basel angestellt. Im Winter dreht er mit
der Eisputz- maschine Runden im Eisstadion. Im Sommer steht er in weissen
Shorts und Shirt als Bademeister in der Badi am Beckenrand. In all den Jahren
hat er nie bei der Arbeit gefehlt, war nie krank, ist nie zu spät gekommen.
Disziplin, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit; Werte, die seine Eltern ihm
mitgegeben hätten. Er sagt aber auch
über sich, er sei ein echter Schläger. Er habe es in sich, «dieses
Kämpferische», und zeigt auf seine Brust. Es fing damit an, dass er sich als
Achtjähriger auf dem Schulhof prügelte. Später kamen Autodiebstahl, Hehlerei
und schwere Körperverletzung hinzu. In der Gewerbeschule schlug er einem
anderen Jugendlichen die Zähne aus.
Ich habe meiner Mutter viele Sorgen bereitet.
Nevio Palma träumte davon,
Fussballprofi zu werden. Doch weil er bereits boxen ging, durfte er keinem
Fussballklub beitreten. Er machte eine Lehre als Metzger. Als junger Mann zog
er dann zunächst mit den Hooligans um die Häuser. Voll hinter einer Mannschaft
und einer Stadt stehen, das gefiel ihm. Und als sich 1991 eine kleine Gruppe
von FCB-Fans mit den Basler Ultras zusammenschloss, war der damals 25-Jährige
eines der Gründungsmitglieder. Die Ultras waren bekannt für ihre Show in der
Basler Fankurve, ihre Gesänge und ihre Choreografien mit Fahnen und Banner. Und
sie waren bekannt für ihre Brutalität. Sie lieferten sich wilde Kämpfe mit
allen, die sich ihnen in den Weg stellten. Auf den Rängen, vor dem Stadion, in
den Strassen Basels. Doch anders als die Hooligans hatten sie keinen Kodex, der
besagt, dass man zu prügeln aufhört, sobald der Gegner am Boden liegt. Im
Gegenteil. «Wir kannten keine Gnade», sagt Nevio Palma. Ein Ultra hörte erst
auf, wenn der andere nicht mehr aufstehen konnte. «Ich habe meiner Mutter viele
Sorgen bereitet», sagt er. Seine Eltern kamen in den Sechzigerjahren aus
Apulien in die Schweiz. Sein Vater arbeitete auf dem Bau, seine Mutter in der
Fabrik, auch am Wochenende. Für die Kinder blieb keine Zeit. Nevio Palma und
sein Zwillingsbruder Paolo verbrachten ihre ersten Jahre im Kinderheim in
Birsfelden, wo sie von italienischen Nonnen betreut wurden. Dann, im
Kindergarten, geschah das, was Nevio Palma heute als einschneidendes Erlebnis
bezeichnet. Er und sein Zwillingsbruder wurden getrennt, weil sie sich von den
restlichen Kindern abkapselten und sich nur auf Italienisch unterhielten. Von
da an schliefen sie in anderen Sälen, assen zu unterschiedlichen Zeiten. «Ich
verstehe bis heute nicht, warum sie mich weggeschickt haben», sagt der
45-Jährige.
Gutes Verhältnis zum Bruder, obschon der
Muttis Liebling war
Als Sohn italienischer
Immigranten habe er sich vieles anhören müssen: Tschingge, die stingge, oder:
Schau mal die Italiener mit den billigen Kleidern. Provozierte ihn jemand,
schlug er zu und erhielt im Gegenzug Schläge — daheim, vom Vater: jedes Mal,
wenn er etwas angestellt hatte, oder als er ein Schuljahr wiederholen musste.
«Ich war das schwarze Schaf in der Familie.» Sein Bruder sei Muttis Liebling
gewesen. Als Paolo seine Autoprüfung bestanden hatte, sass Nevio vor Gericht
wegen Autodiebstahls. Das Verhältnis zwischen den beiden blieb trotz allem
ungetrübt. «Während ich mich mit den Hooligans traf, war mein Bruder bei den
Italos und bastelte an seinem Alfa Romeo.» Nevio Palma schaute hie und da
vorbei, jasste eine Runde mit. Gekleidet in eine Bomberjacke, das orange
Innenfutter nach aussen, an den Füssen schwarze Stiefel mit Stahlkappen, den
Kopf rasiert. Tagsüber war er der brave Arbeiter, nachts und am Wochenende der
knallharte Schläger. Austeilen oder einstecken, er mochte beides. Und natürlich
das Adrenalin — vor der «Schlacht», wie sie es nannten, und danach. Im
richtigen Moment zuschlagen, im richtigen Moment aufhören, das war seine
Devise. Wenn seine Kumpels zu fünft auf einen losgingen, trat er einen Schritt
zurück. Er passte auf, dass sie nicht von Aussenstehenden angegriffen wurden.
Ob er darüber nachdenke, wie viele er verletzt habe? Nein. Ob er bereue? Langes
Schweigen. «Ich stehe zu dem, was ich getan habe.»
Als Nevio Palma Vater wurde, veränderte er sich
komplett
Er war 29 Jahre alt, als seine
damalige Freundin schwanger wurde. Da wusste er, dass sich etwas ändern musste.
Ganz der Italiener, habe er sich immer eine Familie gewünscht. Er wollte für
seine Familie sorgen. Und er wusste, das würde schwierig werden, sässe er im
Gefängnis oder müsste er Bussen bezahlen. Also brach er den Kontakt zu den
Ultras ab, blieb den Kämpfen fern. Es sei ihm nicht schwergefallen. Er änderte
sein Leben von einem Tag auf den anderen: Disziplin, Zuverlässigkeit,
Pünktlichkeit. Heute ist er Vater von vier Kindern: Sohn Dwain (16) und die
Zwillingstöchter Myra und Tyra (11) aus erster Ehe. Eine weitere Tochter lebt
zusammen mit ihrer Mutter in Spanien. Nevio Palma lebt in einer neuen Beziehung
und will seinen Kindern ein guter Vater sein. Ein cooler, wie er sagt. Mit
seinem Sohn geht er regelmässig kickboxen. «Dort lernt er den sportlichen
Kampfgeist und den Respekt vor dem Gegner.» Und wenn sein Sohn Mist baue, dann
helfe nur eines: reden, reden, reden. Nevio Palmas Mutter starb 1996 an Krebs.
Er trägt eine grosse Tätowierung über dem Herzen. Domenica, der Name seiner
Mutter, und darunter das Bild eines Boxhandschuhs. Dabei hatte sie ihm verboten,
sich tätowieren zu lassen. Manchmal besucht er noch einen FCB-Match. Dann
blickt er hie und da zu den Fankurven. «Aber ganz ehrlich», sagt er, «auch auf
der Tribüne wird geflucht, ich würde meine Kinder nie dorthin mitnehmen.»
«DOK»: Narben der Gewalt, Basler Ultras und
ihre Schlägerkarrieren 1990 bis 2011: Filmautor Alain Godet hat die Ultras
Nevio, Frosch, Gök und Jimmy 20 Jahre lang begleitet und ihr Leben
aufgezeichnet.
Solothurner Filmtage, 23. Januar; SF1, 26.
Januar, 20.05 Uhr