90. Jahrestag der Ungarischen Räterepublik
Im Herbst 1918 bricht das Vielvölkerreich der Habsburger zusammen. Ungarn ist                                             unabhängig, doch damit tut sich das Land schwer. Nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution geschieht eine kleine Sensation: Am 21. März 1919                                             übernehmen die Kommunisten die Macht. Die allgemeine Wahrnehmung assoziiert die 1918er so genannte „Astern-Revolution“ als friedlich und gewaltlos                                             und die darauffolgende Räterepublik als rot, blutig, gewalttätig und kriegerisch. So einfach ist es aber nicht.
„Im Oktober und November 1918 herrscht die eigentliche revolutionäre                                             Stimmung, die mehr Opfer fordert als die kurze Herrschaft der Kommunisten“, stellt der bekannte Historiker Tibor Hajdu klar. Nach dem Zusammenbruch des                                             Habsburgreiches hat die neue demokratische Regierung keine andere Wahl, als den Konsequenzen der Fehler ihrer Vorgänger ins Auge zu blicken. Nicht per                                             Zufall schlittert sie mit ihrem Fährmann, dem „Roten Grafen“ Mihály Károlyi bald darauf in die Krise – mit den Kommunisten auf der Lauer.
Das neue Regime in Budapest sollte eine Übereinkunft mit den verschiedenen                                             Nationalitäten erreichen, doch ist es dazu viel zu spät: Rumänen, Tschechen, Slowaken erklären ihren Wunsch nach unabhängigen Nationalstaaten und werden                                             durch die Ententemächte dabei unterstützt. Auch soziale, kulturelle und ökonomische Reformen sind bis dahin eher verwaltet denn vorangebracht worden.
Die wirtschaftlichen Probleme eines verlorenen Krieges drücken das Land nieder                                             und die Leute hungern. Es herrscht hohe Arbeitslosigkeit. Sozialistisches Gedankengut kommt in den 1860er Jahren durch ungarische, österreichische und                                             böhmische Wandergesellen sowie Handelsreisende nach Ungarn. Sie bringen aus Deutschland die Ideen von Ferdinand Lassalle und Karl Marx in das größtenteils                                             landwirtschaftlich geprägte Ungarn mit. Zur Jahrhundertwende gibt es eine starke agrarsozialistische Bewegung, eine industrielle urbane Arbeiterklasse existiert jedoch nur in Ansätzen. 
Kein Mann für Herzleidende
Noch im Dezember 1918 sieht der sozialdemokratische Bildungsminister Zsigmond                                             Kunfi keine Gefahr für ein Aufkommen des Kommunismus in Ungarn, „es sei denn, die Entente wird ihr Verhalten gegenüber Ungarn nicht ändern“. Sie tut es                                             nicht. So kommen Béla Kun und acht seiner Kameraden am 16. November 1918 zum bestmöglichen Zeitpunkt aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Budapest                                             zurück. Nie sind die Voraussetzungen zur Gründung einer kommunistischen Partei günstiger gewesen, denn die Vertreter der verschiedenen Oppositionsgruppen                                             zeigen sich unfähig, die Schwächen der Exekutive auszunutzen.
Der Name Béla Kun ist im Herbst 1918 schon vielen Ungarn ein Begriff. Den                                             Autoritäten in Budapest sind er und seine kommunistischen Agitationen in den Gefangenenlagern bereits ein Dorn im Auge. Bereits zur Zeit seiner Rückkehr gilt er als                                             Führer der „Bolschewiken“. „Die Person Béla Kun ist bis heute ambivalent. Er war kein besonders begabter Politiker, aber er verstand gut, wie man die Revolution machen muss.                                             Das hat er von Lenin gelernt. Kun hatte als Journalist gearbeitet, war gebildet, intelligent, eine starke Persönlichkeit und in gewissem Sinne ein Kriegspolitiker“, sagt Tibor Hajdu.                                         
Kun wird 1886 in Szilágycseh in Siebenbürgen                                             als Sohn eines konvertierten jüdischen Dorfnotars und einer Protestantin geboren. 1916 gerät er in russische Kriegsgefangenschaft. Dort lernt er die, wie                                             er es nennt, die „Romantik der russischen Revolution“ kennen und wird Kommunist.
In Ungarn weiß er nicht nur abtrünnige Sozialdemokraten für sich zu gewinnen,                                             sondern auch Gewerkschaftsvertreter, denen er einflussreiche Positionen in der Partei verspricht. Die Vörös Újság (Rote Zeitung) wird das Sprachrohr der KP, zu                                             deren Gründern, vorwiegend politisch Heimatlose, ehemalige Kriegsgefangene, Abtrünnige der Sozialdemokraten und Studenten des radikalen Galileo- Kreises                                             gehören, darunter der junge Mátyás Rákosi, nach dem Zweiten Weltkrieg „Stalins bester Schüler“ in Ungarn.
Mit öffentlichen Veranstaltungen macht sich die Gruppe zur Zielscheibe der                                             Regierung. Die ist nicht bereit, die Gewalt auf den Straßen zu dulden, und schlägt zu. Nach einer Demonstration im Februar 1919, bei der vier                                             Polizeibeamte sterben, werden 68 bekannte Kommunisten unter dem Vorwurf der Verschwörung gegen die öffentliche Ordnung verhaftet. Darunter auch Kun. Einen Monat später steht er an der Spitze des Staates. 
Proletarier an der Macht
Währenddessen versucht Ministerpräsident Károlyi der Entente entgegen zu                                             kommen. Doch die bleibt hart und stellt immer weitere Gebietsforderungen, so dass sich die öffentliche Stimmung gegen die Regierung wendet. Die Hoffnung                                             auf den Erhalt des Staatsgebietes schrumpft merklich und lähmt das Land. Der politische Genickbruch kommt für Károlyi mit der Note des Generals Vix, die die                                             für die Ungarn schockierende Demarkationslinie festschreibt.
Károlyi kann nicht mehr weiter und tritt zurück. Die Macht übergibt er dem                                             Proletariat. Nun, eher per Zufall, übernehmen die Kommunisten die Führung. Obwohl die Sozialdemokraten numerisch überlegen sind, stellt niemand Béla Kun                                             als führende Gestalt in Frage. Seine Ernennung zum Außenminister steht symbolisch für die Russlandorientierung der neuen Regierung.
Als politischer Führer allerdings, der er vom Anfang bis zum Ende der                                             Räterepublik gewesen ist, erweist sich Kun als eine Fehlbesetzung. Von Anfang an lässt er durchblicken, dass er nicht zwanghaft die historische Integration Ungarns                                             bewahren, sondern die Ausbreitung des kommunistischen Gedankens verfolgen will. Nicht die Bildung von kleinen Nationalstaaten ist sein Ziel, sondern eine                                             Föderation des internationalen Proletariats, wo das Nationale keine Rolle spielt. Kun ordnet an, dass Statuen von Königen und nationalen Helden entfernt, die                                             Nationalhymne abgeschafft und das Tragen nationaler Symbole unter Strafe gestellt werden soll.
In einem Land, so süchtig nach Geschichte wie Ungarn, ein faux pas                                             ohnegleichen. Wenig populär ist auch seine antiklerikale Politik, die jedoch nicht die Ausmaße annahm, wie sie in Russland vonstatten ging. Doch Kohlemangel und                                             die Wirtschaftsblockade setzen dem Land schwer zu und es kommt noch ärger: Kun ignoriert die Nationalitätenfrage anfangs völlig, handelt es sich doch in der                                             kommunistischen Ideenwelt nur um eine bürgerliche Marotte, die dem Kommunismus noch im Weg steht. Als Gegenleistung für ein von Ungarn                                             geführtes, zentralisiertes Administrationsnetz zeigt sich Kun bereit, den Minderheiten lokale wirtschaftliche Autonomie zu gewähren, solange es nicht um eine Sezession von Ungarn geht.
Die öffentliche Meinung hat sich da bereits gegen den Kommunismus gewandt. Es                                             war schon abzusehen, was in Trianon entschieden wird. Auch die Gegenrevolution hatte sich unter Admiral Horthy in Szeged mit Unterstützung der Entente bereits                                             formiert. Die ungarischen Sowjets schaffen es, eine kriegsmüde Nation noch einmal zu mobilisieren. Der Roten Armee, auch mit hohen Offizieren der                                             k.u.k.-Armee in ihren Reihen, gelingt es, die im Norden eindringenden tschechischen Truppen zurückzuwerfen – doch dann gelangt die rumänische                                             Armee bis ins „rote“ Budapest. Das Regime stürzt nach 133 wirren Tagen am 1. August 1919. Kun kehrt nie wieder nach Ungarn zurück. 1938 wird er Opfer der stalinistischen Säuberungen.
Nur eine kurze Episode
„Meiner Meinung nach gab es nur eine Revolution – und zwar die von 1918. Jede                                             Revolution hat eine gewisse Dynamik und diese führte im Frühjahr 1919 zur Räterepublik. Wären es nicht die Kommunisten gewesen, dann mit großer                                             Wahrscheinlichkeit eine andere radikale Gruppierung“, meint Tibor Hajdu.
Die Ungarische Räterepublik kommt nicht durch einen revolutionären Coup                                             zustande, sondern durch die verzweifelte Übergabe der Macht an eine Gruppe naiver radikaler Linker. Der rote Terror in Ungarn fordert wenig Opfer, die                                             Schätzungen belaufen sich auf ca. 600 Tote. Der darauf folgende weiße Terror des Reichsverwesers Miklós Horthy wird weit verheerender wüten. Später, am                                             16. März 1921, wird die Ungarische Kommunistische Partei als erste ihrer Art in Mitteleuropa verboten.
In der Geschichtsschreibung wurde die Räterepublik entweder als „Erweckung der                                             ungarischen Gesellschaft“ oder als „schrecklicher Albtraum“ dargestellt. Für Tibor Hajdu weder noch: „Die Räterepublik ist nur eine kurze Episode in der                                             ungarischen Geschichte. Man sollte nicht mehr aus ihr machen, als sie ist. Die unmittelbare Ursache, die wesentlich zur Gründung der Räterepublik beiträgt, ist                                             die Unfähigkeit der Regierung Mihály Károlyi, mit den sozialen und ökonomischen Realitäten des neuen Ungarns nach dem Zerfall der Monarchie umzugehen.“
