Innerhalb
kürzester Zeit ist Ultra beinahe zu einer Art Staatsfeind avanciert, mindestens
aber zur scheinbar größten Gefahr für die Sicherheit und Attraktivität des
Profifußballs in Deutschland und Europa. Die Mahner, Warner, Prediger und
Scharfmacher wider die Ultras beschwören jedoch Phänomene herauf, die aus den
Kurven längst verdrängt schienen. Denn was nach Ultra kommen könnte, wollen
viele offenbar weder sehen noch wahrhaben …
Beim
Hamburger Sport-Verein hing bei den letzten beiden Heimspielen eine
bemerkenswerte neue Blockfahne vor dem HSV-Fanblock 25A. In unübersehbarer
Größe direkt hinter dem Tor prangte ein schwarzes Banner mit der Aufschrift
„Die Löwen Hamburg“ in großen weißen Lettern, in einer Schrifttype aus dem
Kreis der Frakturschriften, flankiert von zwei Löwen. „Die Löwen“ waren in der
Achtzigern und Neunzigern eine der berüchtigtsten Hool-Gruppen des HSV, viele
Mitglieder waren eng verwoben mit der rechtsradikalen Szene der Hansestadt –
und außerdem an jenem Überfall im Altonaer Volkspark beteiligt, der den
Bremer Fan Adrian Maleika 1982 das Leben kostete, als er von einem Stein am
Kopf getroffen wurde. Sicherlich kein Zufall also, dass das neue Banner
erstmals im Heimspiel gegen Werder dort hing. Natürlich sind diejenigen, die
heute hinter diesem Banner stehen, nicht dieselben wie damals – aber dass eine
solche Platzierung ohne das Plazet der „alten Hauer“ möglich sein sollte,
erscheint auch wenig wahrscheinlich. Noch bemerkenswerter ist aber die
tatsächliche und symbolische Verdrängung des Banners, das in den vergangenen
Jahren an dieser Stelle hing: „Poptown Hamburg“ – die Kurvenfahne einer
HSV-Ultragruppe, der man zumindest nachsagen kann, dass sie sich politisch eher
links positioniert. Vor gut einem Jahr hing an gleicher Stelle über der
Poptown-Kurvenfahne der Schriftzug „Wir alle sind der HSV“ und darüber ein großes „Gegen
Diskriminierung“-Banner. Der symbolische Kontrast zwischen bunter und
emanzipatorischer Botschaft und martialischer, schwarz-weißer
Hooligan-Inszenierung könnte kaum größer sein. Risiken und Nebenwirkungen: Der
Hool von nebenan Nun kann man aus dieser Anekdote keinesfalls eine neue
Hool-Kultur oder gar einen Rechtsruck in der HSV-Fanszene konstruieren. Die
ganze Angelegenheit zeigt jedoch geradezu idealtypisch, was bei der derzeitigen
Ultra- und Gewaltdebatte schief läuft: Die Poptown-Fahne ist nämlich nicht
einfach so verschwunden, sondern der HSV hat der Gruppe nach einer Reihe von
Auseinandersetzungen – auch und vor allem rund um das Thema Pyrotechnik – Materialverbot
erteilt und den Status als offizieller Fanclub entzogen. Sie dürfen zwar
weiter ins Stadion, aber eben nur ohne Fahne, ohne Gruppensymbole und
dergleichen. In diese Lücke sind nun „Die Löwen“ gestoßen und haben ihr Revier
markiert, mit welchen Hintergründen, welcher Motivation und welchen Folgen auch
immer. Wer sich mit den Symbolen und Ritualen in Fanszenen halbwegs auskennt,
darf jedenfalls zumindest vermuten, dass damit auch ein territorialer Anspruch
verbunden ist, denn keine Gruppe schenkt den Platz der zentralen Blockfahne
hinter dem Tor einfach so her – und normalerweise wäre es ein Zeichen des
Respekts untereinander, diesen Platz leer zu lassen, wenn der Verein für diese
Leerstelle gesorgt hat. Die Auseinandersetzung zwischen Verein und Ultras, die
in einem Verbot für letztere mündet, hat damit in jedem Fall einen Raum
eröffnet, den eine Gruppierung mit altem Namen und negativer Vergangenheit
besetzen konnte. Mit dem harten Vorgehen und dem flankierenden medialen Dauerfeuer gegen Ultras und Pyrotechnik sind daher
Risiken verbunden, die bislang von den meisten Medien, Sicherheitsorganen und
Funktionären schlichtweg ignoriert werden.
Pyro suchen, Rechtsextreme
übersehen
Auf eine ähnlich gelagerte
Problematik macht der Fanprojektleiter des 1. FC Kaiserslautern, Erwin Ress,
aufmerksam: Vom Fußballmagazin „11 Freunde“ zu den vor Kurzem beim Training
auflaufenden Nazi-Hools befragt, die den israelischen Spieler Itay Shechter als
„Drecksjuden“ beschimpften, sagte Ress:
„Die aktuelle Debatte um Pyrotechnik beim
Fußball hat dazu geführt, dass Sicherheitskräfte und Vereine beinahe
ausschließlich damit beschäftigt sind, Ultras abzutasten und per Kamera zu
überwachen. Leute mit rechten Szene-Klamotten können hingegen oft unbehelligt
durchs Stadion spazieren. Zwar sind dort keine rechten Gesänge zu hören, doch
es gibt tatsächlich einige kleine Gruppen am Betzenberg, die sich durch rechte
Dresscodes als Neonazis zu erkennen geben.“
Kurz gesagt: Die Vereine
laufen Gefahr, dass ihnen Hools und Nazis im Stadion, die sich dort aber unauffällig verhalten,
weniger ins Auge fallen, als aufmüpfige, antiautoritäre Ultras, die durch
Provokation, politische Forderungen, Einflussnahme auf die Vereinspolitik und
permanentes Zündeln nerven. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, genauer
hinzuhören, was FCK-Manager Stefan Kuntz in einer ersten
Reaktion zu den Vorfällen sagte: „Das sind in unseren Augen
keine Fans, weil Rassismus hat hier bei uns, beim FCK weder eine Zukunft noch
eine Gegenwart und das nehmen wir uns dann auch nicht ernst.“ Natürlich
handelt es sich hierbei um eine Art Freud’schen Versprecher und Kuntz wollte
sicherlich sagen „das nehmen wir nicht hin“. Bemerkenswert ist aber die
traumwandlerische Sicherheit, mit der Kuntz glaubt, ein antirassistischer Grundkonsens
der Fans sei quasi ein natürlicher Zustand.
Antirassismus ist harte
Arbeit
Es sei deshalb ganz kurz
daran erinnert, dass dem keinesfalls so war oder ist: Bis weit in die Neunziger
hinein war es in sehr vielen deutschen Stadien gang und gäbe, schwarze Spieler
zu beschimpfen, ihnen Bananen zuzuwerfen oder vermeintliche Affengeräusche und
ähnliches mehr von sich zu geben. Bis heute ist Rassismus in vielen
osteuropäischen Stadien leider selbstverständlicher Teil der Fankultur. Und
selbst in England, einem Vorreiter-Land bei der Rassismusbekämpfung, gab es in
letzter Zeit neue Skandale – wenn auch ausgelöst von Spielern. Angesichts von
auch in Deutschland nach wie vor verbreiteten „Jude …“-Rufen zur Schmähung
eines Gegners sollte man sich diesbezüglich keinerlei Illusionen hingeben:
Rassismus wird nur dauerhaft aus den Stadien verschwinden, wenn er auch
dauerhaft als Problem thematisiert und angegriffen wird – vom weitaus stärker
verbreiteten Schwulenhass oder Sexismus ganz zu schweigen. Besonders geschichtsvergessen
aber ist es, wenn nun ausgerechnet die Vereine meinen, sie hätten den Rassismus
erfolgreich und für immer aus den Stadien verbannt – mit ein paar Kampagnen und
der hier und da erfolgten Änderung der Stadionordnung. Wahr ist, dass vor allem
die Basisarbeit unzähliger Faninitiativen und hauptamtlicher Fanprojekte dafür
gesorgt hat, dass Fans, Vereine und Verbände für Rassismus und andere Formen
von Diskriminierung kritisch sensibilisiert wurden. Beispielhaft sei hier die „Tatort Stadion“-Ausstellung
des „Bündnisses Aktiver Fußballfans“ (BAFF) genannt.
Ein neuer Raum für Nazis und
Stumpfis
Die Auseinandersetzung
zwischen ihnen auf der einen und weitaus weniger angenehmen Fraktionen auf der
anderen Seite, ist an vielen Orten in vollem Gange: In Aachen
werden die dortigen antirassistisch auftretenden „Aachen Ultras“ von
rechtsoffenen Ultras und Hools wie „Karlsbande“ und „Westwall“ bis hin zu
organisierten Nazis der Kameradschaft Aachener Land angegriffen, in
Braunschweig kämpfen die Ultras seit Jahren mit den örtlichen Alt- und
Jung-Hools, bei 1860 München wehren sich Teile der Fanszene gegen die Nazis im
Block – auch hier waren zuvor die Ultras der „Cosa Nostra“ aus der Kurve
gewichen (wenn auch aus anderen Gründen). In Rostock
sorgen die „Suptras“ – bei aller Kritik an ihrer Gewaltbereitschaft – seit
Jahren immerhin auch dafür, dass organisierte Neonazis im Ostseestadion keine
Propagandamöglichkeit bekommen. Dass dies in einem Bundesland mit den
strukturellen Problemen Mecklenburg-Vorpommerns, wo die NPD den Wiedereinzug
ins Parlament geschafft hat, auch ganz anders aussehen könnte, kann sich
hoffentlich jeder vorstellen. Auch in Bremen brauchte der Verein Jahre, um zu
erkennen, dass man die Ultras bei ihren Auseinandersetzungen
mit den Alt-Nazi-Hools der „Standarte Bremen“ unterstützen muss,
anstatt sie zu kriminalisieren. Ausgerechnet in Zwickau, wo eine Nazi-Terror-Gang jahrelang unerkannt
untertauchen konnte, ist man davon hingegen offenbar weit entfernt: Hier wird
die Ultragruppierung „Red Kaos“ von Verein und Polizei massiv unter Druck
gesetzt, während die mehr oder weniger offenen Nazis vom A-Block weitgehend
unbehelligt bleiben: Fanprojekt-Mitarbeiter Michael Voigt sagte dem MDR dazu,
der Verein habe ihm mitgeteilt, er „würde das Problem des Rechtsextremismus zu
sehr aufbauschen.“ Und in Osnabrück wurde Ende Dezember 2011 ein Mitglied der
Ultra-Gruppe “Violet Crew” im Stadion von Nazis krankenhausreif geschlagen.
Womit wir wieder bei den Ultras wären: Ohne jeden Zweifel hat das Aufkommen der
Ultra-Bewegung ab Ende der Neunziger entscheidend dazu beigetragen, rechten
Hools und Nazi-Schlägern die Dominanz in den Kurven zu nehmen, die sie bis
dahin ebenso zweifellos hatten. Dass Fankultur heute weitgehend bunt statt
braun ist, ist auch das Verdienst vieler, vieler Ultragruppen, die sich
ausgehend vom Grundgedanken, dass der Support für den Verein im Mittelpunkt
steht, nach und nach von Rassismus und Diskriminierung abgegrenzt haben. In
vielen Städten und in vielen Stadien sind sie heute deshalb die Träger einer
progressiven und bunten Fußballkultur, zu der aus ihrer Sicht eben auch
Pyrotechnik gehören kann – neben der Gewaltbereitschaft sicherlich der momentan
am heißesten umstrittene Punkt.
Ultra wird den Krieg
verlieren
Es wäre deshalb dingend
geboten, verschiedene Themen endlich auch getrennt voneinander zu verhandeln –
und nicht permanent in hysterischem
Geschrei alles in einen Topf zu werfen, nur weil man mal wieder keinen Aufmacher und die
Deutsche Polizeigewerkschaft noch nicht genug Resonanzraum für ihre Forderungen gefunden hat: Das
derzeit an jedem Wochenende verstärkt zu beobachtende Abbrennen von Pyrotechnik
hat den einfachen Grund, dass die Ultras DFB und DFL unmissverständlich
deutlich machen wollen, dass der Abbruch eines Dialogs nur dazu führt, dass
dann eben unkontrolliert überall gezündelt wird. Die Message ist ganz klar:
„Hier sind wir, hier bleiben wir, wir machen, was wir wollen, Ihr könnt uns
nicht verbieten!“ Letzteres ist allerdings ein fataler Irrtum: Die Ultras
können und werden den Krieg mit den Vereinen und Verbänden und vor allem mit
der Polizei nicht gewinnen. Mit und zu Recht wird der Staat sein Gewaltmonopol
durchsetzen, denn in der Tat kann kein demokratisch-zivilgesellschaftlich
verfasstes Gemeinwesen dauerhaft dabei zusehen, wie eine gewisse Anzahl zumeist
junger Männer für sich selbst entscheidet, wann sie Gewaltanwendung zur
Durchsetzung ihrer Ziele für richtig hält. Aber: Die klügeren Ultra-Gruppen
haben dies längst erkannt. Nicht umsonst versuchen sie, sich innerhalb der
Vereinsgremien Gehör zu
verschaffen, nicht ohne Grund starteten sie eine Dialog-Initiative
über Pyrotechnik, nicht aus Gewaltverherrlichung beteiligen sie sich
an Fankongressen
und ähnlichen Veranstaltungen.
Was von Ultra übrig bleibt
Wer diesen durchaus
demokratischen Partizipationsversuchen immer wieder nur die Tür ins Gesicht und
den Knüppel hinterher schlägt, darf sich nicht wundern, wenn er ausgerechnet
die radikalsten und gewaltbereitesten Kräfte fördert – und damit exakt die
Zustände heraufbeschwört, die vermeintlich bekämpft werden sollen. Denn auch,
wer die jugendlicher Lust an der Revolte in Ultra-Kurven ausleben will, wird
sich überlegen, ob Stadionverbote, Strafbefehle und horrende
Schadenersatzforderungen den ganzen Spaß wert sind. Übrig bleiben werden bei
der „brutalst möglichen“ Repression, wie sie von Scharfmachern gerne gefordert
wird, daher vor allem diejenigen, die eh nichts zu verlieren haben – und denen
deswegen alles scheißegal ist – Knast inklusive. Ein gefährliches Spiel mit dem
Feuer – nur genau anders herum, als immer propagiert wird. An dieser Stelle
lohnt sich der oftmals demagogisch beschworene Blick nach Italien tatsächlich: Was ist dort nach der
weitgehenden Zerschlagung der Ultra-Kultur übrig geblieben? Triste, halbleere
Stadien, deren Fankurven in vielen Teilen des Landes maßgeblich von radikalen,
klandestinen Gruppen dominiert werden – die zudem nicht selten offen
neofaschistisch auftreten.
Nach den Ultras ist vor der
Gewalt
Eine Lösung des Gewaltproblems
ist deswegen schlechterdings nicht gegen die Ultras, sondern nur mit ihnen
möglich. Denn die Alternative zu den Ultras könnte weitaus schlimmer sein. Wer
die Repressionsschraube gegen die Ultras immer weiter zuzieht, läuft daher
massiv Gefahr, ungewollt ganz anderen Kandidaten neue Spielfelder zu eröffnen,
deren Zeit in der Kurve schon vorbei zu sein schien. Wer Gespräche abbricht und
behauptet, diese hätten nie stattgefunden, verschafft denjenigen Stumpfis in
den Stadien neues Gehör, die eh schon immer wussten, dass man Probleme nur mit
dicken Armen, Alkohol und einer ordentlichen Portion Hass lösen kann. Wer immer
mehr und immer öfter Pfefferspray einsetzt, wird die Anzahl der dumpfen
„ACAB“-Gröler nicht verkleinern. Und wer ganze Gruppen mit Stadienverboten und
ähnlichen Maßnahmen belegt, eröffnet die Räume, in denen rechte Gewaltgangs
neue Spielfelder finden. Das Fanprojekt des HSV wurde übrigens nach dem Tod von
Adrian Maleika gegründet. Zeit, mal darüber nachzudenken.