Favoriten: Der Riese im Süden
Bild: (c) Die Presse - Clemens Fabry
Wiens zehnter Bezirk ist groß, laut – und anders. Während er für Innenstadtbewohner fremdes Terrain ist, bleibt der Zehnte unumstößlich etwas, das Wien zu Wien macht.
Wien. Wäre Wiens zehnter Bezirk eine eigene Gemeinde, würden dort mehr Menschen leben als in der Stadt Salzburg. Favoriten wäre dann – nach Wien, Graz und Linz – die viertgrößte Stadt Österreichs. Knapp 190.000 Menschen leben südlich des Hauptbahnhofs; jeder zehnte Wiener ist Favoritner.
Die Idee von Favoriten als eigener Stadt, so kommt es einem vor, käme ganz gut an in den innerstädtischen Bezirken. Der Zehnte, mit seinen vielen Menschen, Sprachen, Kulturen, mit seiner Größe und seiner Weite, losgelöst, abgetrennt von der aufgeräumten, gediegenen, innovativen Innenstadt. Mit der U1 Richtung Kepler- und Reumannplatz wagt kaum ein Innenstadtbewohner zu fahren – maximal für den allsommerlichen Ausflug zum Eissalon Tichy. Frisches Gemüse am Viktor-Adler-Markt zu kaufen, sich am Columbusplatz in Urlaubsstimmung versetzen lassen, am Wienerberg den Abend am See zu verbringen: für Nichtfavoritner keine Option, so wirkt es; zu verschreckt ist man von den Meldungen der U-Bahnzeitungen über Messerstechereien, Diebstähle und Drogenbanden, die einen auf der Fahrt gen Süden am Südtiroler Platz wieder aus der U1 springen lassen. „Ich kann mitfühlen, wenn einige dann Angst haben, in der U1-Endstation Reumannplatz auszusteigen. Wer hätte das nicht, wenn er ständig von Räubern und Vergewaltigern liest?“, schrieb die Journalistin – und Favoritnerin – Nour Khelifi vor wenigen Wochen erst in der „Wiener Zeitung“.
Favoriten ist extrem. Es ist übergroß, überlaut, jeder messbare Wert ein für Wien außergewöhnlicher. Favoriten ist geprägt durch seine Größe. Deswegen ist es manchmal besser, bei Favoriten ganz emotionslos nackte Zahlen sprechen zu lassen.
Und wenn man sie betrachtet, kann man sagen: Favoriten explodiert. Es kocht. Es wächst und wächst und wächst, nicht erst 2035, sondern schon jetzt. In drei Jahren schon werden rund 200.000 Menschen Favoritner sein (2034 dann, glaubt man den Berechnungen der MA23, knapp 225.000). In keinem anderen Bezirk Wiens kommen so viele Kinder zur Welt (Favoritens 2013er-Jahrgang ist 2151 Kinder stark). Jeder dritte Bewohner des Bezirks ist Ausländer; das sind über 50.000 Menschen. Das Durchschnittseinkommen eines Favoritners ist mit knapp 26.000 Euro Wiens drittgeringstes (vor jenen im 20. und 15. Bezirk). Nirgendwo sonst ist die Arbeitslosigkeit so hoch wie im Zehnten – 2012 suchten knapp 11.000 Favoritner einen Job; ein Wert weit über jenen der anderen Bezirke. Die Armutsfrage ist eine akute: Bezirksvorsteherin Hermine Mospointner (SPÖ), seit 1994 im Amt, vergibt ihre Sprechstundentermine nicht digital. Viele könnten sich keinen Computer leisten in Favoriten, heißt es aus ihrem Büro. Aber auch, weil es zum Bezirk passt: „In Favoriten war schon immer alles etwas direkter als in den anderen Bezirken“, sagt Franz Jerabek, Leiter des Büros der Bezirksvorstehung und gebürtiger Simmeringer, „man sagt viel eher einmal seine Meinung.“
Favoriten hat Platz
Das Bevölkerungswachstum und die immense Fläche rücken den zehnten Bezirk in den Fokus der Stadtentwickler, und es ist erstaunlich, wie viel in Favoriten gebaut wird, geschieht es doch mit viel weniger Rummel als anderswo. Monte Laa, Sonnwendviertel, Quartier Belvedere, Viola Park, Verteilerkreis, Michael Häupls Gemeindebauidee am alten AUA-Gelände – sie alle geben nicht nur Wohnraum, sondern auch Perspektiven; die U1-Verlängerung nach Oberlaa und der U2-Ausbau zum Matzleinsdorfer Platz (und später zum Wienerberg) knüpfen Favoriten an das Stadtzentrum an.
Ob diese plötzliche Verbindung etwas an der Favoritner Façon de vivre ändert? Steht man oben bei der Troststraße und blickt die Favoritenstraße hinab – man sieht über die ganze Stadt. Und weiß: Wien ohne Favoriten wäre nicht mehr Wien.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2015)