WIEN WAR NIE BRIGHTON!
Die frühen Achtzigerjahre in Wien, Rollerszene. „motomobil“-Autor Guido Schwarz exklusiv in dieser Folge über seine schwierige Jugend und lehrreiche Zwischenstationen der Identitätsfindung
Es war ein schöner Sommerabend 1984 und wir besuchten ein Fest im Jugendzentrum Ottakring im 16. Wiener Gemeindebezirk. Am Platz davor lungerten ein paar Russels herum und wir waren in der vollen Montur: Two-Tone-Anzug, schmale schwarze Krawatten, der eine oder andere im Parka.
Die Russels hatten diese seltsamen Frisuren, kurz geschoren und oben eine Matte aus Locken, manche auch mit Vokuhila, oder einfach gar keine Frisur. Und sie hatten PK-Vespas mit abgeschnittenem Kotflügel und Fox-Streifen. Der Anführer der Gruppe machte einen Wheelie, um zu zeigen, wie stark seine Vespa war.
Nach dem Fest ging es los, die Russels stänkerten uns an, und dann waren wir auch schon auf der Flucht – sie waren mehr und aggressiver. Den langsamsten erwischten sie (meinen lieben Freund Andreas) und traten ihm in den Rücken, was eine Nierenprellung zur Folge hatte plus der ganzen Prozedur mit Rettung, Polizei, ein paar Tage Krankenhaus et cetera. Es hatte auch ein paar Drohanrufe bei ihm zu Hause zur Folge, auf dass er die Anzeige fallen lassen möge, sonst würde es Rache geben. Der Anführer war als Schläger schon bekannt in Ottakring.
In Österreich war die Szene immer ein wenig verdreht. Während in England vor allem Jugendliche aus der Arbeiterschicht Mods wurden, waren die Gruppen bei uns sehr gemischt, mit Gymnasiasten, Söhnen und Töchtern von Ärzten und Anwälten.
Der wohl bekannteste Treffpunkt in Wien war der Donnerbrunnen. Eigentlich heißt der gar nicht so, sondern Providentiabrunnen, aber die Wiener vergeben gerne neue Namen für alte Plätze, wenn sie es gerade so wollen. Am Donnerbrunnen trafen sich die jungen Mods samt ihren Vespas und ihren Freundinnen (in der Reihenfolge) und es verging nicht viel Zeit, bis sich das herumsprach. Die großen Schlachten der Mods gegen die Rocker wie im englischen Seebad Brighton gab es zwar nicht, aber die eine oder andere Schlägerei war immer drin. Die Verlierer landeten schon mal im Brunnen oder in der Ambulanz, aber am nächsten Tag oder am nächsten Wochenende war man trotzdem wieder dort.
Wir befinden uns in den 1980er Jahren in Wien, in einer Stadt, die gerade aus den Nachkriegsjahren erwacht. Helmut Zilk wird Bürgermeister und öffnet die Stadt, lässt eine Szene zu, die sich vom Bermuda-Dreieck aus entwickelt. Wie von alleine entstehen Jugendsubkulturen, die meisten davon als Protestbewegungen gegen die „Alten“ und gegen das Alte generell. Sie sind nie typisch Wienerisch und stets von woanders übernommen, aber wenigstens gibt es sie: die Popper mit ihren Lacoste-Polos und die Teds mit Schmalztolle und Lederjacke. Begleitmusik spielen die Vespas, meist als 50 spezial und je nach Stilrichtung passend gestaltet. Man trifft sich im Flamingo, im Monte oder einfach irgendwo in der Stadt.
Nicht nur in Wien zeichneten sich die Jugendsubkulturen dadurch aus, dass sie nie ganz trennscharf zu finden waren: Mods wurden zu Scooterboys, Skinheads oder Psychobillies, manche zu Teds, fast alles war möglich, selbst die Rückkehr in eine Rolle, die man schon abgelegt hatte. Es fehlte die Authentizität, aber woher sollte diese auch kommen, bei einer geerbten Kultur? Was hatten die Wiener Mods mit England zu tun beziehungsweise der englischen Flagge? Das wurde jedoch niemals in Frage gestellt, denn es ging um etwas anderes, nämlich um das Erwachsenwerden. Dafür war jedes Mittel recht und wurde auch genützt. Weg von den Eltern, hinein in die Peer-Group.
Ja, es gab sie auch bei uns, die „echten“ Mods, Kinder aus der Arbeiterschicht, die ihr letztes weniges Geld für das Benzin für die Lambretta ausgaben und schon einmal die Nacht in ihren Parka eingewickelt am Straßenrand verbrachten, aber sie waren die Ausnahme. Was sie jedoch mit ihren zumindest scheinbar so echten Artgenossen in England gemeinsam hatten, war die Identifikation mit ihrer Gruppe, war der Hass auf das Establishment, waren zum Teil auch die Drogen. Nicht wenige machten damals harte Zeiten durch beziehungsweise gerieten auf die schiefe Bahn. So mancher Schnösel fand am Morgen seine Vespa ohne Sattel und manchmal auch ohne Motor vor der väterlichen Villa. Und irgendwo hatte ein Angry Young Man wieder ein paar Schillinge in der Tasche.
Heute sind die Wilden älter geworden und treffen sich jedes halbe Jahr beim „All Mod Cons“ im Aera in der Wiener Innenstadt. Die Haare sind angegraut, der Parka wird immer noch stolz getragen und so mancher nimmt seinen inzwischen erwachsenen Sohn mit. Schließlich soll der Nachwuchs wissen, was gute Musik ist. Und dass man eine echte Vespa schalten muss. Und dass ein Kickstarter durch nichts ersetzt werden kann.