Samstag, 27. Oktober 2012

Auch der Spiegel wird kritisch


Debatte über Fußballfan-Gewalt

Mit Sicherheit am Ziel vorbei

Stadionverbote, Nacktscanner, Haftstrafen: Polizei und Fußballverbände verlangen härtere Maßnahmen gegen Fangewalt - ist das sinnvoll oder Stimmungsmache? Einige kritische Beobachtungen am Rande des Revierderbys Schalke gegen Dortmund.

Es sind die typischen Reflexe, die immer kommen, wenn etwas vermeintlich schief läuft. Nach dem Revierderby zwischen Borussia Dortmund und dem FC Schalke 04 am vergangenen Wochenende konnte man die gesamte Spannbreite erkennen: Politiker, die weit vom tatsächlichen Geschehen entfernt sind, fordern zum "Handeln" auf. Vertreter der Polizei meinen eine neue Dimension der Eskalation zu erkennen und drohen mit Derbys in leeren Stadien. Die Fußballverbände sinnieren über noch schärfere Strafenkataloge. Fans und Ultras dagegen wehren sich. Ihre Parole: "Fußballfans sind keine Verbrecher."

Was ist passiert?
Am Samstag fand ein Fußballspiel statt. Es war das brisante Derby zwischen Borussia Dortmund und dem FC Schalke 04. Zwei Stadtnachbarn, die sich gegenseitig nur wenig Gutes wünschen. Doch schaut man sich die Berichterstattung der vergangenen Tage an, entsteht der Eindruck, dass die Antipathie der beiden Fanlager zu chaotischen Zuständen rund um das ehemalige Westfalenstadion geführt haben muss. Das Internetportal Der Westen berichtet von "Krawallen", WDR2 erkennt "eine neue Dimension der Gewalt", und die "Bild"-Zeitung schreibt über "Straßenschlachten". Hält man die Verletztenstatistik dagegen, entsteht aber bereits das erste Missverhältnis: Acht Personen sind im Zuge des Spiels zu Schaden gekommen. Das ist schlimm, keine Frage. Aber es ist eine Zahl, die schon bei vielen Stadtfesten überboten wird. Erleben wir derzeit also tatsächlich eine neue Form von Gewalt, wie es in der Debatte um das Thema Stadionsicherheit suggeriert wird? Kann der Fußball - überspitzt formuliert - überhaupt noch vor Randalierern und Chaoten geschützt werden? Und wer ist eigentlich für die Gewalt und die Ausschreitungen verantwortlich?

Ich habe versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden, indem ich das Geschehen vor Ort in Augenschein genommen habe. Gemeinsam mit den Ultras Gelsenkirchen (UGE) bin ich in der S-Bahn zum Auswärtsspiel nach Dortmund gefahren. Das Derby war ein Hochsichersicherheitsspiel, das von knapp 1200 Polizisten beschützt wurde - und damit von deutlich mehr Beamten als es bei einer gewöhnlichen Bundesligapartie üblich ist. Bei einem Spiel zwischen diesen beiden Rivalen herrscht in der Tat Ausnahmezustand: Emotion, Rivalität, Leidenschaft - alles konzentriert auf wenige, aber entscheidende Stunden. Eine Belastungsprobe für die Sicherheitskräfte. Gemeinsam mit etwa 600 bis 700 Schalker Fans, viele davon Ultras, stieg ich an der Dortmunder S-Bahn Station "Universität" aus. Wir liefen etwa eine halbe Stunde bis zum Stadion. Es sah aus wie ein Protestmarsch aus Schlumpfhausen, da alle Schalker Anhänger extra für dieses Spiel weiße Mützen zu ihren blauen Trikots angezogen hatten. Nicht wenige Beobachter dieses Marsches hatten wohl erwartet, dass die Fans anfangen zu randalieren. Denn das Bild von Ultras in der Öffentlichkeit ist regelrecht martialisch. Doch es passierte: wenig. Die "Schlümpfe" zogen friedlich durch die Siedlungen, Dortmunder Fans filmten und fotografierten den Zug.

Das Polizeirezept lautete: Pfefferspray gegen alle

Doch als wir am Stadion ankamen, eskalierte die Situation - und zwar herbeigeführt von der Polizei, die mit berittenen Einheiten mitten in die Fangruppe hineingaloppierte und diese gewaltsam sprengte. Die Ultras liefen teilweise in Panik quer über den Platz. Dabei kamen zwangsläufig Schalke-Fans mit Dortmund-Fans in Körperkontakt, was an verschiedenen Stellen zu kleineren Schlägereien führte. Das Polizeirezept in der nun wirklich unübersichtlichen Situation: Pfefferspray gegen alle. Mitten hinein in die Menge, teilweise aus 20, 30 Zentimetern direkt ins Gesicht. Viele Menschen rieben sich die Augen, husteten. Aus einer harmlosen Situation war ein Ausnahmezustand geworden. "Dortmunder und Schalker Gewalttäter haben unser Sicherheitskonzept bewusst unterlaufen und sind entgegen der Ankündigung konspirativ angereist", erklärte der Einsatzleiter der Dortmunder Polizei, Dieter Keil, das Vorgehen. Aber wo waren hier die Deeskalationsstrategien der Polizei? Wo waren strategische Absicherungen? Die Sicherheitstaktik der Dortmunder Polizei hat nicht gegriffen. Von einem über Monate ausgearbeiteten Sicherheitskonzept hätte ich mehr erwartet. Dass es zwischen meiner Erwartungshaltung und der Realität sogar noch tiefere Gräben gab, stellte ich wenig später bei den Einlasskontrollen am Stadion fest. Im Vorfeld des Spiels war es den Schalker Fans untersagt, jedwedes Support-Material wie Megafone oder Fahnen ins Stadion zu bringen. Man sollte deshalb annehmen, dass der BVB-Ordnungsdienst nun umso akribischer kontrollieren würde. Stattdessen begrüßten manche Ordnungshüter die Schalker Fans mit Worten wie "Jude", "Kanake" oder "Wichser". Schalke-Anhängerinnen wurden mit sexistischen Sprüchen bedacht. In Hörweite der Ordner stehende Polizisten quittierten die Verbalattacken mit Lachen.

Auch im Stadion greifen die Sicherheitskonzepte nicht

Im Stadion angekommen, staunte ich: Trotz des vom BVB verhängten Materialverbots schmuggelten Schalker Fans zwei Megafone, eine riesige, zur Trommel umfunktionierte Mülltonne sowie Banner und Fahnen in den Block. Pünktlich zum Anpfiff bauten mehrere Ultras in Sekundenschnelle aus kleinen Einzelteilen eine riesige Fahne zusammen: als Sichtschutz, unter dem sie ihre Bengalos herausholen und abfackeln konnten. Sie hielten die verbotene Pyrotechnik wie Siegesfackeln in die Höhe. Unter der Fahne wurde es heiß und stickig, der Bengalo-Geruch raubte einem die Luft zum Atmen. Später präsentierten sie ein geklautes Banner der Dortmunder. Ich fragte mich, wie viel den Ultras ihre eigene, hochgelobte "Fankultur" eigentlich wert ist, wenn sie sie mit einer so dumpfen Provokation aufs Spiel setzen. Das Klauen oder Präsentieren geklauter Insignien gegnerischer Fans, das Abbrennen von Pyrotechnik, die zahlreichen gegenseitigen Provokationen - was hat das mit Fußball, mit einer Jugendkultur zu tun? Wo in den Fankurven sind die gemäßigten Kräfte, die dem entgegenwirken? Am Samstag gab es niemanden im Stadion, der den Pyromanen erklärte, dass sie gerade den politischen Hardlinern wie Lorenz Caffier voll in die Karten spielen. Der Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns fordert die Abschaffung von Stehplätzen. Es gab auch niemanden, der der jungen, zierlichen, blonden Frau gesagt hätte, dass es total albern wirkt, wenn sie lauthals "Tod und Hass dem BVB" schreit. Dass dieses Spiel mitten in die Debatte um ein neues Sicherheitskonzept der Deutschen Fußball Liga fiel, sollte als ein Geschenk empfunden werden. Denn die Probleme rund um das Spiel zeigen eines deutlich: Die Diskussion wird derzeit von einem falschen Standpunkt geführt. Man sollte nicht darüber sinnieren, wie Ultras und Fans noch härter bestraft werden können. Es bringt auch nichts, "Geisterspiele" vor leeren Stadien oder Nacktscanner zu fordern. Der gesamten Debatte täte es gut, wenn sie auf eine sachliche Ebene geführt würde - und wenn als Diskussionsgrundlage mehr Fakten einbezogen würden als lediglich Fernsehbilder und Polizeiberichte.

Das Sicherheitspapier enthält schwere Fehler

Wir müssen hinterfragen: Gibt es tatsächlich einen signifikanten Gewaltanstieg in deutschen Stadien? Alle bisherigen empirischen Studien verneinen dies. Ist es also nicht naheliegender, die gerade erst wieder begonnenen Gespräche zwischen Vereinen, Verbänden und Ultras zu intensivieren? Das Sicherheitspapier - so die Kritik zahlreicher Bundesligaklubs - torpediert dieses Vorhaben. Die Fußballverbände haben die aktive Fanszene wieder mal nicht in ihre Überlegungen eingebunden, stattdessen schieben sie Fans und Ultras die Schuld an den vermeintlichen Problemen beim Fußball zu. Dabei wird verkannt, dass es noch viele weitere Aggressoren im und um die Stadien gibt: Angefangen bei der Polizei und den Ordnungsdiensten über Rechtsextreme bis hin zu den vielen Hooligan-Gruppen, die seit einigen Monaten wieder verstärkt in Erscheinung treten.Beim Revierderby waren etliche, teils bewaffnete und vermummte Mitglieder der Dortmunder Hooligan-Vereinigungen Northside und Borussenfront unterwegs. Auch einschlägig bekannte Schalker Gewalttäter, darunter Anhänger der Gelsenszene, hielten sich im Umfeld des Stadion auf. "Zudem wurde beim Sicherheitspapier erneut der Fehler gemacht, die Expertise von Fanbetreuern und Sozialarbeitern unberücksichtigt zu lassen. Diese predigen seit Jahren, dass eine Fankurve nur durch Selbstregulation funktionieren kann. Dafür muss man die gemäßigten Ultras und Fans aber ernst nehmen, stärken, ihnen mehr Verantwortung übertragen. Ultras und Fans müssen im Gegenzug endlich aufhören, sich wie pubertäre Kinder zu benehmen und die Gesetze achten