Sonntag, 1. Januar 2017

Menschen im Ersten Weltkrieg: Tiroler Standschützen


Mit Beginn des Ersten Weltkrieges waren die drei Regimenter der Landesschützen an die russische Front verlegt worden, obwohl sie, nach dem Buchstaben des Gesetzes, nur zur Verteidigung Tirols hätten eingesetzt werden dürfen. In Tirol standen somit an ausgebildeten Truppen lediglich ganze zwei vollwertige Bataillone (X. Marschbataillon des Infanterie-Regiments 59 und das Tiroler Landsturm-Bataillon I) zum Schutz der Grenze gegen Italien zur Verfügung. Weitere 19 Bataillone waren nur vermindert einsatzfähig. Das Landesverteidigungskommando von Tirol begann schon bald, dem neutralen Italien zu misstrauen. Da die reservepflichtigen Standschützen bereits einberufen waren und somit nicht mehr zur Verfügung standen, wurden die übriggebliebenen, nicht militärpflichtigen Standschützen beschleunigt militärisch geschult.

Dazu wurden z. B. invalide oder sonstige ausgediente Kaiserjäger oder Landesschützen verwendet. Die Ausbildung erfolgte in der Nationaltracht oder im Schützenrock, dazu hatten die Männer ihre eigenen Stutzen mitzubringen. Erste Einsätze bestanden im Wachdienst an militärischen Objekten und an Brücken oder ähnlichem. Da noch keine Uniformen zur Verfügung standen, wurden schwarzgelbe Armbinden angelegt. Besonders die jüngeren, noch nicht regulär militärisch ausgebildeten Leute, aber auch die Älteren, deren Militärdienstzeit schon Jahrzehnte zurücklag, bereitete der Führung im Bezug auf das militärische Auftreten Kopfzerbrechen. Der jüngste dieser Standschützen war 14 Jahre alt, der älteste schon über 80 Jahre. Wegen dieser Mängel wurden die Standschützen von vielen aktiven Offizieren lange Zeit nicht ernst genommen, nicht selten von oben herab behandelt oder gar beschimpft. Das war nicht verwunderlich, da es plötzlich sozusagen im Handumdrehen Majore gab, wohingegen ein normaler Offizier diesen Rang erst nach einer Dienstzeit von etwa 15 Jahren erreichte. Ein Hauptmann mit zehn oder mehr Dienstjahren sah sich plötzlich einem Standschützenmajor gegenüber, der in seiner aktiven Zeit womöglich nur Zugsführer oder Korporal gewesen oder gar völlig ungedient war. Hier konnten Spannungen nicht ausbleiben. Der Oberkommandierende in Tirol, Feldmarschalleutnant Dankl, erließ im November 1915 einen Befehl, dass Beschimpfungen und ungebührliche Behandlungen der Standschützenoffiziere streng bestraft würden.

Im April wurden die Standschützeneinheiten erstmals inspiziert. Im Zuge dieser Inspektion wurden die Standschützen in frontdiensttauglich (zählten zu den Feldformationen) und mindertauglich (Einsatz in Wach- und Ersatzabteilungen) unterteilt. Man erwartete die Kriegserklärung Italiens an Österreich-Ungarn. Aus diesem Grunde wurden die Standschützen am 18. Mai 1915 mobilisiert. Bereits einen Tag später rückten die ersten Formationen Südtirols an die Südfront aus. Weitere drei Tage später trafen Züge, die über den Brennerpass kamen, mit Nordtiroler Standschützen an der neuen Front ein. Italien erklärte Österreich-Ungarn schließlich am 23. Mai den Krieg.

Die Angehörigen der Standschützenformationen im Trentino waren der k.u.k. Armeeführung nicht ganz geheuer. Obwohl die Schießstände schon sehr lange bestanden, war man gegenüber den italienischsprachigen Tirolern misstrauisch und versuchte, diese nach ihrer Zuverlässigkeit einzustufen. Die Klassifizierung reichte von vollkommen zuverlässig bis ganz unzuverlässig. Die Ausgabe von Waffen und Monturen an die Welschtiroler Standschützen erfolgte nur an absolut zuverlässige Verbände, wobei diese nur in wenigen Fällen zu Kampfhandlungen eingesetzt wurden. Meistens versahen sie Wachdienst oder Trägerdienste oder waren als Arbeiterformationen eingeteilt.

Für die Standschützen war bis Ende März 1915 noch kein Kleidungsstück und noch kein Gewehr eingeplant, geschweige denn vorrätig oder gar zugewiesen. Nachdem sich immer mehr abzeichnenden Kriegseintritt Italiens auf der Seite der Entente, begann man jedoch, die im Januar begonnene Aufstellung von Standschützen-Formationen zu beschleunigen. An Uniformen wurde zunächst ausgegeben, was immer gefunden wurde. (Die beiden Kompanien des Standschützen-Bataillons Schwaz z. B. rückten am 23. Mai 1915 in hechtgrauen Paradeuniformen der Jägertruppe aus.) Auch Mannlicher-Repetiergewehre standen zunächst nicht oder nur in geringer Stückzahl zur Verfügung, die Standschützen bekamen vorerst alte, einschüssige Werndl-Gewehre oder nutzen ihre eigenen Waffen. Im Mai 1915 erhielten die Nordtiroler und Vorarlberger Standschützen aus deutschen Lieferungen 16.000 Gewehre des Modells 98, die südtiroler Formationen wurden dann doch noch mit den Mannlicher-Gewehren ausgerüstet. Die Welschtroler Verbände behielten die Werndlgewehre, lediglich die wenigen zu Kampfeinsätzen verwendeten Formationen erhielten das Gewehr 98 zugewiesen. Maschinengewehre wurden den einzelnen Einheiten im Bedarfsfall zugeteilt, wer gute Beziehungen hatte, wie das Bataillon Bozen, verfügte jedoch über eine eigene Maschinengewehr-Abteilung. Geschütze führten die Standschützen nicht, lediglich das Bataillon Schlanders verfügte über eine uralte 6 cm Gebirgskanone unbekannter Herkunft. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten wurden den Standschützen die Montur der k.k. Gebirgstruppe zugeteilt. (die hier plötzlich erfolgten Anstrengungen lagen darin, dass man befürchtet, die nicht uniformierten Kombattanten würden womöglich als Freischärler behandelt.) Allerdings bestanden hinsichtlich der Qualität der Ausrüstung erhebliche Mängel. So wurde statt des Riemenzeugs bereits Webgurtmaterial ausgegeben, es fehlte an Brotbeuteln und Spaten (beides wurde improvisatorisch zunächst aus allem Möglichen selbst hergestellt). Als Abzeichen wurde von den Tiroler Einheiten auf den grasgrünen Parolis der Tiroler Adler, von den Vorarlbergern das Vorarlberger Wappen getragen. Auf der linken Kappenseite durfte das Edelweiß der Gebirgsinfanterie angebracht werden, vorne an der Kappe befand sich das dafür extra entworfenen Abzeichen mit dem Motto „Hände weg von Tirol“. Als Distinktionsabzeichen für die Unteroffiziere und Mannschaften wurden anstelle der vorgesehenen silbergestickten Rosetten, deren Beschaffung in dieser Menge Schwierigkeiten bereitete, (nur die Offiziere erhielten diese) die Zelluloidsterne der regulären Armee verwendet.

Für die Sanitätsausstattung mussten die Rettungsdepots der Schutzhütten herhalten, die ausgeräumt und auf Gebirgskraxen verpackt, den Bataillonen zugeteilt wurden. Jedes Bataillon erhielt zwei Medikamenten- und zwei Verbandstornister.

Die Ausstattung mit Fahnen war zwar vorgesehen, eine Aushändigung erfolgte jedoch nur bei den Bataillonen Bozen, Kaltern, Passeier und Meran II. Viele der anderen Formationen führten bei der Vereidigung und beim Ausmarsch ihre Schützenfahne mit sich.

Nach dem Mobilmachungsbefehl durch Kaiser Franz-Joseph I. vom Dienstag, dem 18. Mai 1915, formierten sich 39 Deutschtiroler Schützenbataillone und zwei selbstständige Schützenkompanien, sechs Vorarlberger Bataillone, vier Welschtiroler Bataillone und 41 Welschtiroler Schützenkompanien.

Bereits am 22. Mai 1915, also einen Tag vor der Kriegserklärung Italiens, verlegten die Standschützen an die Reichsgrenze im Süden und Südwesten. Ausgenommen waren lediglich die Bataillone Zillertal und Nauders-Ried, die zum Schutz des Alpenhauptkammes zurückblieben, sowie das Bataillon Lienz, das zunächst zum Schutz der Osttiroler Grenze südlich des Drautals in Stellung gelegt wurde und dort bis zum September 1915 verblieb.

Das Einsatzgebiet der Standschützen erstreckte sich über alle fünf Verteidigungsrayons der Südtiroler Front. Es reichte von der Dreisprachenspitze an der Schweizer Grenze bis hin zu den östlichen Ausläufern der Karnischen Alpen am Kreuzbergsattel.

Obwohl die Standschützen nahezu ausschließlich für die Abwehr der häufigen italienischen Angriffe verwendet wurden, nahmen sie auch an den Offensiven (wenn auch nur in der zweiten Welle) teil. Neben den Stellungskämpfen führten sie auch Patrullen (Patrouillen) und Aufklärungsunternehmen durch. Ihre weitere Hauptaufgabe bestand im Arbeitseinsatz, sie bauten Stellungen, Unterkünfte, Kavernen, Stacheldrahthindernisse und halfen bei der Reparatur der beschädigten Festungswerke. Des Weiteren wurden die Standschützen zu Trägerdiensten für den Nachschub, als Blessiertenträger (Krankenträger, heute Sanitätssoldaten) und im Wachdienst eingesetzt.

In den ersten Wochen waren die Standschützen bei der Verteidigung der Tiroler Front auf sich allein gestellt. Diese schwachen Truppen vermochten es trotz allem, die italienischen Angriffe aufzuhalten, da die italienische Führung nicht glauben konnte, dass die Grenze so gut wie ungeschützt dastand. Erst später trafen reguläre Truppen und Soldaten des deutschen Alpenkorps sowie Kaiserschützen und Kaiserjäger ein. Diese erkannten die Standschützen, im Gegensatz zu manch anderen Offizieren, als vollwertige Soldaten an. Die österreichischen Kriegsstrategen bezeichneten die Standschützen anfangs als ungeordneter Haufen ohne Kriegserfahrung. Doch durch ihren Mut, ihre hohe Treffsicherheit und ihr bergsteigerisches Können erlangten sich die Standschützen Respekt und Achtung.

Es kann nicht angezweifelt werden, dass der Einsatz der Standschützen im Mai 1915 Österreich-Ungarn zu diesem Zeitpunkt gerettet hat. An aktiven Truppen standen insgesamt nur 12.000 Gewehre zur Verfügung, womit theoretisch nur alle etwa 30 Meter ein Mann mit einem Gewehr gestellt werden konnte. Somit bildeten die 23.000 unter Waffen stehenden Standschützen mit 2/3 der verfügbaren Gesamtstärke das Rückgrat der Abwehrkräfte. Das Deutsche Alpenkorps konnte zunächst nur beschränkt eingreifen, da sich Deutschland zu diesem Zeitpunkt mit Italien noch nicht im Kriegszustand befand und die deutschen Truppen italienischen Boden nicht betreten durften.

Bedingt durch vielfach vorhandene, ausgezeichnete Ortskenntnis der Standschützen waren diese oftmals in der Lage, italienischen Patrouillen und Aufklärungsunternehmungen zuvorzukommen und diese zurückzuschlagen. Insbesondere, da die korrekte Uniformierung inzwischen erfolgt war, wurde der Eindruck erweckt, dass es sich um reguläre Kräfte handele, was das Zögern der italienischen Führung beeinflusst haben mag. Der moralische Wert des Standschützen lag auch darin, dass sich oftmals nicht weit hinter der Front sein Besitztum und seine Familie befanden, die es zu schützen galt. Der rein militärische Wert der Standschützenformationen war sehr unterschiedlich. Die sprichwörtliche Sturheit und Dickköpfigkeit besonders der Bergbauern führte oftmals zu Disziplinlosigkeiten und Eigenmächtigkeiten. So meldete Feldmarschalleutnant Goiginger am 12. Juni 1915 nach Innsbruck, dass am Monte Piano Standschützen „eigenmächtig aus dem Gefecht gegangen seien“. Solche Vorkommnisse waren jedoch bei weitem nicht die Regel und blieben Einzelfälle. Um die militärische Disziplin zu stärken, begann man nun auch aktive Herresoffiziere als Kommandanten den Standschützen zuzuteilen. Des Weiteren begann man, nachdem sich die personelle Situation durch das Eintreffen der Truppen von der Ostfront etwas entspannt hatte, die Standschützen verstärkt militärisch auszubilden. Mannschaften und Offiziere wurden zu den verschiedensten Ausbildungskursen abkommandiert, um dort die neuesten Taktiken und Techniken zu erlernen. Auf Anregung des Deutschen Alpenkorps wurden in die bisher von den Standschützen allein gehaltenen Frontabschnitten aktive Truppenteile eingeschoben. So wurde eine Art Korsett gebildet und die Kampfkraft weiter verstärkt.

Etwas anders stellte sich die Situation bei den Welschtiroler Standschützen dar. Es mag sein, dass es mit dem unverhohlenen Misstrauen und der Aversion der Führung zusammenhing, oder dass andere Umstände dafür verantwortlich waren, es kam hier zu Desertionen, auch wenn sie nicht an der Tagesordnung waren. Das lag oftmals daran begründet, dass man bei Kriegsbeginn die Front aus strategischen Gründen an manchen Stellen zurückgenommen und Gelände aufgegeben hatte (z. B. den Kessel von Cortina). Dadurch befanden sich manche Heimatdörfer der Standschützen plötzlich hinter der Front in feindlichem Gebiet, was auch einen Kontakt mit den Familienangehörigen per Post so gut wie unmöglich machte, da zwischen Österreich-Ungarn und Italien seit Kriegsbeginn keine Postverbindung mehr bestand. Am 25. Oktober 1916 desertierten zwei Mann der Standschützenkompanie Tione (heute Tione di Trento), die in Judikarien lag, da sich ihre Heimatorte jenseits der Front im italienisch besetzten Gebiet befanden. Der verantwortliche Unteroffizier, der die Flucht nicht verhindert hatte, wurde vor ein Militärgericht gestellt und standrechtlich erschossen.

Die 52. Halbbrigade im Valsugana meldete am 1. Juni 1915, dass man unzuverlässige italienischsprachige Standschützen entwaffnet und als Arbeiter eingesetzt habe. Unabhängig davon kämpften zumindest bei Kriegsbeginn einige Welschtiroler Standschützenformationen verbissen gegen die Eindringlinge, so die Kompanien Ala und Borgo, die dafür extra eine Belobung (Belobigung) erhielten. Nichtsdestoweniger wurden die Welschtiroler Verbände nach und nach alle entwaffnet und bestanden bei Kriegsende nur noch aus Arbeiterformationen. Dies galt allerdings auch für die ladinischen Einheiten, (z. B. aus Cavalese), die nicht als Italiener betrachtet werden wollten und ob dieser Maßnahme sehr verbittert waren.

Da einerseits Personalersatz bei den Standschützenformationen nicht, oder nur in äußerst geringem Umfang zugewiesen werden konnte, andererseits aber sehr viele Abgänge der älteren Jahrgänge durch Strapazen und Krankheiten zu verzeichnen waren, spitzte sich die Personalsituation bereits nach kurzer Zeit zu. Das führte so weit, dass ganze Kompanien aufgelöst oder zusammengelegt werden mussten, Bataillone wurden zu Kompanien herabgestuft, oder wie bei Meran, die drei vorhanden gewesenen Bataillone wurden zu einem zusammengelegt. Auch sank die Stimmung immer mehr je länger der Krieg andauerte, was auch auf die immer noch andauernden und nicht zu unterbindenden Beschimpfungen und Herabwürdigungen durch aktive Offiziere, Benachteiligungen bei der Zuteilung von Verpflegung und Ersatzausrüstung, sowie schikanösen Verwendungseinteilungen zurückzuführen war. 1918 betrug die Brotration aus minderwertigem Maismehl theoretisch 500 Gramm pro Mann und Tag, was aber oft genug auf 125 Gramm pro Mann und Tag reduziert wurde. Fleisch gab es oftmals nur für den Mann an der Front in Höhe von 160 Gramm, für die anderen dagegen nichts. Die Fettration betrug etwa 8 Gramm pro Tag und Mann.

Nichtsdestoweniger standen die, seit Mitte 1918 zu Standschützen-Gruppen (Bataillonen) zusammengefassten Verbände unerschütterlich auf ihren Posten, auch als die ungarischen und tschechischen Regimenter bereits begannen sich aufzulösen. Lediglich bei den Bataillonen Dornbirn und Pustertal kam es in den allerletzten Tagen des Krieges zu Aufmüpfigkeiten, als der Befehl zu einem erneuten Instellunggehen einlangte. Aber auch diese Situation konnte von den Offizieren noch einmal bereinigt werden.

Die meisten, der in den westlichen und südlichen Abschnitten kämpfenden Standschützen gerieten bei Kriegsende in italienische Gefangenschaft. Die italienisch sprechenden Standschützen sahen sich nach der „Befreiung vom österreichischen Joch“ (Gabriele d'Annunzio) jahrelang Schikanen und Repressalien ausgesetzt, die bis zur Zwangsdeportierung in entfernte Teile Italiens reichten. (Als Beispiel sei hier die Standschützenkompanie Strigno genannt, deren Mitglieder nach Kriegsende nicht gefangen- sondern festgenommen und in die Abruzzen deportiert wurden.)