Montag, 23. Februar 2015

23. Februar 1999

Die Lawinenkatastrophe von Galtür im Februar 1999, die das Dorf Galtür und den Weiler Valzur im hinteren Paznaun, einem Seitental des Inns, teilweise verschüttete, war eines der größten Lawinenunglücke in der Geschichte Österreichs und gleichzeitig der Auslöser der größten Evakuierungsaktion mittels Hubschraubern.



Vorgeschichte und Auslöser

Der Lawinenwinter 1999 war insgesamt in den Alpen eines der verheerendsten Starkschneeereignisse der Geschichte. Insbesondere die beiden Staulagen 27.–31. Januar und 5.–12. Februar bauten eine mächtige, aber hochgradig instabile Schneedecke auf, die die Niederschläge der Staulage 17.–25. Februar nicht mehr tragen konnte, was dann zu zahlreichen Selbstauslösungen führte.

Ab dem 20. Jänner 1999 kam es über dem Nordatlantik immer wieder zu schweren Stürmen, deren Niederschlagsfronten an der Nordseite der Alpen zu ergiebigen Schneefällen führten. Im Raum Galtür gab es bis zum 23. Februar etwa vier Meter Neuschnee, damit fiel im Monat Februar etwa sechsmal so viel Schnee wie gewöhnlich in diesem Monat. Noch extremere Schneemengen sammelten sich im Anrissgebiet der Unglückslawinen. Dies war auf die Topographie des betreffenden Bergkammes zurückzuführen, welcher auf seiner damaligen Luvseite sehr flach in einem großen Hochplateau abfällt. So konnte der stürmische Wind enorme Mengen Triebschnee von diesem Plateau auf den nach Galtür gerichteten Leehang verlagern.

Auch dies war sehr ungewöhnlich, da es sich um extremes Steilgelände handelt, in dem sich Lawinen bei vergleichbarer Schneeakkumulation meist viel eher spontan lösen und so nicht jene Größe von 1999 erreichen. Auf diese Weise lässt sich der etwas verwirrende Umstand verstehen, dass zum Unglück von Galtür letztlich ein extrem stabiler Schneedeckenaufbau geführt hat. Die Abfolge von mehreren Sturmtiefs mit entsprechend großen Temperatursprüngen von arktischer Kälte bis zu Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt sowie jeweils ein bis zwei Tage Pause zwischen den großen Niederschlagsereignissen führten dazu, dass sich der Neuschnee jeweils soweit setzen und stabilisieren konnte, dass er den nächsten Schnee wieder auffangen konnte. Gleichzeitig konnten sich in den kurzen Niederschlagspausen keine ausgeprägten Schwachschichten in der Schneedecke ausbilden.

So wurde der Kollaps der bis dahin enorm angewachsenen Schneedecke bis zum 23. Februar 1999 hinausgezögert. An diesem Tag gab die Verbindung zum kantigen Schneedeckenfundament aus dem Frühwinter des Jahres unter der gewaltigen auf ihr lastenden Masse nach und die Lawine ging mit einer 100 Meter hohen Staubwolke zu Tal.

Die Katastrophe

Die starken Schneefälle hatten in Westösterreich zu zahlreichen Verkehrsbehinderungen geführt. Zwischen Ende Jänner und dem 18. Februar mussten Hubschrauber des österreichischen Bundesheers und des Innenministeriums rund 40 Versorgungs-, Wildfütterungs- und Erkundungsflüge mit Lawinenkommissionen durchführen.

Ab dem 27./28. Jänner herrschten im Raum Paznaun Lawinenwarnstufen ab 3, immer wieder aber 4/5, und die Silvretta Bundesstraße (B 188) zwischen Pians und Galtür – die einzige Zufahrtsstraße nach Galtür, da ab Wirl die weiterführende Silvretta-Hochalpenstraße im Winter prinzipiell gesperrt ist – wurde seit dem 6. Februar immer wieder aus Sicherheitsgründen geschlossen, sodass die Region nicht mehr erreichbar war. Im Paznaun mussten ab dem 9. Februar wiederholt Versorgungsflüge mit einer in Schwaz stationierten Alouette III des Bundesheers geflogen werden, da auch die einzige Zugangsstraße wieder gesperrt wurde. Zuletzt war sie eine ganze Woche lang gesperrt worden. Lediglich am Samstag, dem 13., wurde sie für einige Stunden geöffnet, um den Urlauber-Schichtwechsel zu ermöglichen. Zu dieser Zeit befanden sich neben den etwa 850 Einwohnern etwa 5.000 Urlaubsgäste im Tal.

Zu den Kritikern, die sich nachdrücklich für eine frühzeitige Räumung Galtürs ausgesprochen hatten, gehörte auch ein Experte aus Tirol. Sein Argument, dass es in Galtür in einem Zeitraum von 500 Jahren zu 13 Lawinenabgängen mit insgesamt 57 Toten gekommen sei, wurde von Galtür nicht akzeptiert. Alle diese Lawinen seien vom mittlerweile gesicherten Nordhang abgegangen und vom südexponierten Hang, woher diesmal die Lawinen kamen, hätte sich bisher noch keine einzige Lawine gelöst.

Ab dem 20. Februar 1999 boten zwei private österreichische Hubschrauber-Unternehmen den Eingeschlossenen die Möglichkeit, diese gegen rund 180 Euro auszufliegen.

Dienstag, 23. Februar 1999: Die große Lawine

Am 23. Februar 1999 mussten wegen der schlechten Wetterverhältnisse die Versorgungsflüge mit Hubschraubern des österreichischen Bundesheeres, die seit dem 20. Februar durchgeführt wurden, eingestellt werden.

Die erste Lawine mit etwa 400 Metern Breite ging am 23. Februar 1999 gegen 16:00 Uhr vom nördlich von Galtür gelegenen Sonnberg ab. Die Abrissstelle lag in einer Höhe von ungefähr 2.700 Metern Seehöhe. Die Lawine, die sich mehrfach teilte, zerstörte zahlreiche Häuser und verschüttete über 50 Menschen, von denen etwa 20 relativ rasch geborgen werden konnten.

Gegen 16:30 Uhr langte die Meldung über eine große Lawine in der Pontlatz-Kaserne in Landeck ein. Der Schneesturm verhinderte den Start von Bundesheerhubschraubern mit Hilfsmannschaften. In einer Krisensitzung wurde beschlossen, um 6:45 Uhr des nächsten Tages mit den Hilfsflügen zu beginnen und während der Nacht die notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Bei entsprechender Wetterlage sollten die Flüge aber auch schon während der Nachtstunden durchgeführt werden.

Die Bewohner von Galtür und eingeschlossene Urlauber waren deshalb in der Nacht auf sich alleine gestellt, die Verschütteten zu suchen und Verletzte zu versorgen. Unter anderem wurde in der Sporthalle ein Notlazarett eingerichtet, in dem der Gemeindearzt sowie Ärzte und Krankenschwestern, die sich unter den Touristen befanden, die Lawinenopfer betreuten.

Ungefähr drei Stunden nach der ersten Lawine wurde die Tiroler Landeswarnzentrale von Anrufen besorgter Angehöriger überrollt, die ebenso wie die Medien nach Informationen verlangten. Etwa 20 Kamerateams suchten wegen der verhängten Flugverbotszone um eine Genehmigung für Hubschrauberflüge nach Galtür an.

Wegen zahlloser Telefonate waren sowohl das Festnetz als auch die Mobiltelefonnetze dermaßen überlastet, dass eine Kontaktaufnahme mit den Verantwortlichen in Galtür fast nicht möglich war. Deshalb wurde gegen 19:30 Uhr die Kurzwellengruppe des Rotkreuz-Landesverbands Tirol damit beauftragt, eine Funkverbindung in die von der Außenwelt abgeschnittene Gemeinde herzustellen. Ansprechpartner dort war der Arzt und Funkamateur Walter Köck, den man wenige Minuten nach 21:00 Uhr schließlich erreichen konnte. Am 24. Februar wurde der erste echte Einsatz einer Kurzwellengruppe des Roten Kreuzes gegen 21:00 Uhr beendet.

Gegen Mitternacht ging eine weitere Lawine Richtung Galtür ab, diese forderte aber keine Menschenleben.

Da der Einsatzstab die Stärke der eingesetzten Fliegerkräfte als nicht mehr ausreichend erachtete, richtete die österreichische Bundesregierung in der Nacht vom 23. auf den 24. Februar 1999 ein Hilfeersuchen an die NATO sowie die Nachbarstaaten Österreichs. Die Spitäler in der näheren Umgebung richteten sich für die nächsten Tage auf eine große Zahl Verletzter ein. Nicht dringend notwendige Operationen wurden verschoben. Fahrzeuge für den Krankentransport und Notärzte wurden nach Landeck in die Pontlatz-Kaserne verlegt.

Mittwoch, 24. Februar 1999: Valzur

Da die Festlegung von geeigneten Landeplätzen in Galtür aufgrund der Österreichischen Militärkarte zu unsicher war, wurde während der Nachtstunden vom für Galtür zuständigen Raumplaner eine Gefahrenzonenkarte unter Zuhilfenahme von Informationen, die über den Kurzwellenfunk des Roten Kreuzes und der Feuerwehr einlangten, adaptiert und dem Krisenstab zur Verfügung gestellt.

Ab 6:45 Uhr konnten die ersten Helfer samt Material (ungefähr 200 Personen, Lawinensuchhunde, medizinisches Material, etc.) mit den Bundesheerhubschraubern nach Galtür gebracht werden. Im Laufe des Vormittags wurde die Zahl der Helfer auf etwa 400 aufgestockt. Ab etwa 7:15 Uhr wurden die ersten Schwerstverletzten mit dem Rettungshubschrauber Christophorus 5 des ÖAMTC nach Zams ins Spital gebracht.

Um das Bedürfnis der Medien nach Informationen zu stillen, wurde in der Pontlatzkaserne ein Medienzentrum eingerichtet. Zusätzlich wurden Angehörige der Heeresbild- und Filmstelle in Galtür eingeflogen, um die Journalisten mit Bild- und Filmmaterial versorgen zu können. Erst nach der Bergung der letzten vermissten Person wurden Reporter und Filmteams – insgesamt etwa 150 Personen – mit Militärhubschraubern nach Galtür geflogen, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen und um an einer Pressekonferenz mit dem örtlichen Einsatzleiter, dem Bürgermeister, dem Landeshauptmann von Tirol (Wendelin Weingartner) sowie Helfern bei den Bergungsarbeiten teilzunehmen.

Ab etwa 16:00 Uhr setzte neuerlich starker Schneefall ein, so dass der Flugbetrieb wieder eingestellt werden musste. Kurz danach kam es im benachbarten Valzur zu einem weiteren Lawinenabgang, bei dem zehn Menschen verschüttet wurden. Ein Hubschrauberpilot der Flugpolizei des Innenministeriums, der es mit seinem Hubschrauber nicht mehr vor dem Schneesturm zurück nach Landeck geschafft hatte, riskierte trotz des schlechten Wetters den Flug ins fünf Kilometer entfernte Valzur. Auf diese Art und Weise konnten in relativ kurzer Zeit rund 150 Helfer mit Suchhunden und Ausrüstung an den Einsatzort gebracht werden. Vier verschüttete Personen konnten noch lebend geborgen werden.

Zwar trafen die ersten ausländischen Hilfskräfte in Tirol ein, konnten aber wegen der Wetterlage nicht mehr eingesetzt werden.

Gegen 20:00 Uhr musste in Valzur wegen zu großer Lawinengefahr die Suche nach Verschütteten unterbrochen werden. In den Morgenstunden des nächsten Tages wurde die Suchaktion wieder aufgenommen. Beendet wurde sie um 12:00 Uhr des 26. Februar.

Donnerstag, 25. Februar 1999

Bei wesentlich besserem Wetter als in den Tagen davor konnten die Piloten des Bundesheeres bereits am Morgen wieder ihre Transportflüge aufnehmen. Die ausländischen Helikopter trafen im Laufe des Vormittags im Einsatzgebiet ein. Nach einer Einweisung in die Lage begannen sie mit ihrer Aufgabe. Landeplätze im Inntal waren die Kaserne in Landeck sowie die gesperrte Inntal-Autobahn bei Imst, im Paznaun Galtür, Ischgl, Kappl, Mathon, Paznaunerhof, Tschaffein, Valzur, Versahl und Wirl. Um durch die vom Flugverkehr entstehenden Luftvibrationen keine weiteren Lawinenabgänge auszulösen, flogen die Hubschrauber nach Möglichkeit unterhalb der Waldgrenze und mit einem entsprechenden Sicherheitsabstand zu den Berghängen. Geflogen wurde nach der Rechtsregel.

Freitag, 26. Februar 1999

Auch am Freitag herrschte gutes Flugwetter, so dass die Maschinen in extrem kurzen Abständen fliegen konnten. Im Laufe des Tages trafen auch Helikopter der französischen Luftwaffe ein, um sich an der Rettungsaktion zu beteiligen. Von der in Bludesch in Vorarlberg gelegenen Walgau-Kaserne operierten drei österreichische Agusta Bell 212 und eine Alouette III. Unterstützung fanden sie in einer UH 1D aus Deutschland und einem schweizerischen Super Puma.

Samstag, 27. Februar 1999

An diesem Tag wurde der Rettungseinsatz auf der Lawine von Galtür beendet. Angehörige des österreichischen Bundesheers waren allerdings noch bis zum 17. Juni 1999 mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt.

Am 28. Februar wurde die Lawinenwarnstufe erstmals wieder auf 3 zurückgenommen, am Abend um 18:00 Uhr konnte die Straße zwischen Pians und Galtür für den öffentlichen Verkehr wieder gänzlich freigegeben werden.

Versorgung der Evakuierten


Sammelstellen für die Evakuierten waren die Pontlatzkaserne (Landeck) und die Verdroßkaserne (Imst). Hier erfolgten eine Erstversorgung (unter anderem mit Essen, aber auch medizinisch und erstmals in Österreich in einem Katastrophenfall auch psychologisch durch etwa 30 freiwillige Psychologen und Psychiater) sowie eine Registrierung. Auch Vertreter der deutschen und niederländischen Botschaften waren anwesend. Personen, die anschließend sofort in ihre Heimat zurückkehren wollten, wurden mit Bussen zu den Bahnhöfen gebracht. Von dort wurden sie entweder mit fahrplanmäßigen Zügen oder Sonderzügen kostenlos in ihre Heimatorte in ganz Europa gebracht. An dem Rettungseinsatz, der schließlich neben dem Paznaun auch das Kaunertal, das Pitztal und das Stanzertal umfasste, waren neben Österreich auch Einheiten aus Deutschland, den Vereinigten Staaten, Frankreich und der Schweiz beteiligt.