Dienstag, 15. Dezember 2015

Pannonische Geschichte

 
Vom 14. bis zum 16. Dezember 1921 fand die Volksabstimmung in Sopron und acht umliegenden Gemeinden statt, die festlegen sollte, ob die Stadt und die Gemeinden zu Österreich kommen sollen oder bei Ungarn verbleiben.
 
Erste Vorschläge zur verwaltungstechnischen Vereinigung des vorwiegend deutschsprachigen Westungarn mit den angrenzenden österreichischen Kronländern tauchten Anfang des 20. Jahrhunderts auf, so im März 1905 in den Debatten des Reichsrats, am 17. Juni 1906 im Alldeutschen Tagblatt, am 1. September 1906 in der Reichspost, 1906 in Aurel Popovicis Buch Die Vereinigten Staaten von Groß-Österreich und im Oktober 1907 im niederösterreichischen Landtag.
 
Im Dezember 1918 kam es in Westungarn zu mehreren pro-österreichischen Demonstrationen: Am 6. Dezember wurde im heutigen Mattersburg die Republik Heinzenland proklamiert, und am 15. Dezember 1918 forderten vierzig Gemeinden in Heiligenkreuz den Anschluss an die Steiermark. Auch hier standen nicht so sehr nationale oder ethnische Gründe im Vordergrund, sondern die Frage der wirtschaftlichen Verflechtungen mit den Märkten in Graz, Fürstenfeld und Feldbach. In St. Margarethen und einigen weiteren Ortschaften kam es auch zu unter nicht erforschten Bedingungen abgehaltenen Abstimmungen, die beispielsweise in Klingenbach für den Verbleib bei Ungarn ausgingen. Insgesamt wurden aber solche oder ähnliche Aktionen von der ungarischen Exekutive, unter deren Oberhoheit das Gebiet noch stand, sehr rasch unterdrückt.
 
Obwohl die ersten Entwürfe der Friedensbedingungen der Entente noch die Beibehaltung der historischen Grenze zwischen Österreich und Ungarn vorgesehen hatten, wurden im Vertrag von Saint Germain von den Alliierten im September 1919 Österreich Teile der mehrheitlich deutschsprachigen Komitate Westungarns (Komitat Wieselburg, Komitat Ödenburg und Komitat Eisenburg) einschließlich der Stadt Ödenburg selbst zugesprochen.
 
Das nach dem Sturz der Räterepublik an die Macht gekommene rechtsautoritäre Horthy-Regime weigerte sich aber, Deutsch-Westungarn vor der Unterfertigung des ungarischen Friedensvertrags zu räumen, – in der Hoffnung, an den Friedensbedingungen doch noch etwas ändern zu können.
 
Der österreichische Staatskanzler Karl Renner schloss im Jänner 1920 mit der Tschechoslowakei ein Abkommen, in dem sich Österreich der Unterstützung Prags in der Burgenlandfrage versicherte. Die im gleichen Monat auf Wunsch der österreichischen Regierung in Ödenburg eingerichtete „Interalliierte Militärkommission“, die die Übergabe der Stadt kontrollieren sollte, forderte im August 1920 ultimativ, aber vergeblich die Räumung der Stadt durch Ungarn.
 
Die ungarische Regierung stand in Kontakt mit rechtsextremen Kreisen in Österreich, um die Staatsregierung Renner III, eine Koalitionsregierung, zu stürzen und durch eine in der Burgenlandfrage kooperativere Regierung zu ersetzen. Dazu finanzierte man die österreichische Heimwehr mit. Die Pläne, an denen auch konservative österreichische Politiker wie Carl Vaugoin und Ignaz Seipel beteiligt waren, wurden mit dem Sieg der Christlichsozialen bei der Nationalratswahl in Österreich 1920 im Herbst 1920 inaktuell.
 
Bis zur Unterfertigung des Friedensvertrages von Trianon am 4. Juni 1920 bzw. bis zu dessen Ratifizierung durch Ungarn im Juli 1921 setzte in der Folge intensives Feilschen um das Burgenland ein: Es gab laufend direkte, aber nicht immer offizielle Gespräche zwischen den beiden Staaten, in deren Rahmen Ungarn mehrmals versuchte, Österreich zu einem Verzicht zumindest auf Teile Deutsch-Westungarns, darunter auch Ödenburg, zu bewegen. Ungarn verhandelte weiters mit Frankreich über die eventuelle Unterstützung in Revisionsfragen.
 
Die ungarische Regierung István Bethlen und aristokratische Großgrundbesitzer begannen im April 1921, in Deutsch-Westungarn Freischärler, unter anderem unter der Führung von Pál Prónay, zum Widerstand gegen Österreich zu finanzieren. Der Einmarsch der österreichischen Gendarmerie stieß so auf heftigen Widerstand ungarischer Rechtsextremisten. Die wichtigsten Kämpfe gab es bei Kirchschlag und Agendorf; insgesamt hatten beide Seiten einige Dutzend Tote zu beklagen.
 
Insgesamt befand sich die österreichische Außenpolitik nach vielen Erfolgen im Herbst 1921 in der Defensive, unter anderem auch, weil die Entente ihr unmittelbares Interesse am Abzug Ungarns aus Deutsch-Westungarn verloren hatte. Im Gefolge der militärischen Kämpfe um das Burgenland boten sich die Tschechoslowakei und Italien als Vermittler an. Bundeskanzler Johann Schober akzeptierte schließlich die Vermittlung Italiens.
 
Am 4. Oktober 1921 wurde in Oberwart / Felsőőr die kurzlebige Republik Lajtabánság (deutsch: Leitha-Banat) ausgerufen, deren erklärtes Ziel der Verbleib des gesamten Burgenlandes bei Ungarn nach einer Volksabstimmung war.
 
Am 13. Oktober 1921 wurden die Venediger Protokolle unterzeichnet: Die ungarische Regierung verpflichtete sich, innerhalb von drei Wochen für den Abzug der bewaffneten Einheiten zu sorgen und das Gebiet den österreichischen Behörden ordnungsgemäß zu übergeben. Österreich wiederum willigte in die Abhaltung einer Volksabstimmung in Ödenburg und in acht für die Wasserversorgung der Stadt wichtigen umliegenden Ortschaften ein. Die ungarische Regierung verlor in der Folge die Kontrolle über die Freischärler, die erst auf ausdrücklichen Befehl Horthys aufgaben. Nach der Besetzung durch das österreichische Bundesheer wurde das „Leitha-Banat“ offiziell am 5. Dezember 1921 von Ungarn an Österreich übergeben.
 
Trotz des ausdrücklichen Verbots jeder Form von Agitation in den Venediger Protokollen kam es im Vorfeld der Abstimmung auf beiden Seiten zu einer wahren Propagandaschlacht. Für den Anschluss der Stadt an Österreich agitierte der nach dem Muster des Kärntner Abwehrkampfes eingerichtete „Ödenburger Heimatdienst“, der mittels Flug- und Streuzetteln, Gerüchten, Drohungen, Irreführung, Polemik und Humor Propaganda betrieb.
 
Die österreichische Regierung zog ihre Vertreter in den Wahlkommissionen kurzfristig zurück, da sie den unparteiischen Verlauf der Wahl nicht gesichert sah. Die Volksabstimmung wurde am 14. Dezember 1921 in Ödenburg und am 16. Dezember 1921 in acht umliegenden Ortschaften durchgeführt. Es gab einen orangegelben Stimmzettel für Österreich und einen blauen für Ungarn, auf beiden waren die Ländernamen in Deutsch, Ungarisch und Kroatisch angeführt. Der Stimmzettel des Landes, für das man nicht stimmte, musste zerrissen werden. Beide Stimmzettel – der zerrissene und der ganze – mussten danach in einen Umschlag gelegt werden.
 
Von den laut ungarischen Wahllisten 27.069 Berechtigten machten 24.063 von ihrem Stimmrecht Gebrauch, 502 Stimmen waren ungültig: 15.338 hatten für Ungarn, 8.223 für Österreich gestimmt. In der Stadt selbst hatten 72,8 % für Ungarn gestimmt, in den Ortschaften der Umgebung nur 45,4 %. Obwohl Fertőrákos / Kroisbach, Ágfalva / Agendorf, Balf / Wolfs, Harka / Harkau und Sopronbánfalva / Wandorf gegen Ungarn gestimmt hatten, verblieben sie dennoch mit Ödenburg bei Ungarn.
 
Österreichische Darstellungen beschrieben den Ablauf der Volksabstimmung einhellig als Betrug und Fälschung. In der Regel beriefen sie sich auf das unmittelbar nach dem Plebiszit entstandene Buch von Viktor Miltschinsky. Diesem zufolge seien die Wählerlisten von den ungarischen Behörden gefälscht gewesen, 2000 Flüchtlinge hätten an der Wahl nicht teilnehmen können, ca. 2800 Deutschsprachige seien am Abstimmen gehindert worden, die „Hochschüler, die Schüler der achten Klasse des Lyzeums und eine große Anzahl junger Mädchen“ hätten falsch abgestimmt.
 
StimmbezirkeStimmberechtigteAbgegebene Stimmendavon ungültigfür Österreich[%]für Ungarn[%]
Ödenburg / Brennberg18.99417.2983514.62027.212.32772.8
Agendorf1.1488481868282.214817.8
Harkau668581951790.4559.6
Holling349342117422.325777.7
Kohlnhof9488133024330.055070.0
Kroisbach1.5251.3703381260.752539.3
Wandorf1.5381.1773592581.021719.0
Wolfs6685951734960.422939.6
Zinkendorf1.0411.039850.51.02699.5
Insgesamt26.87924.0635128.22734.915.33465.1