Während Budapest sich wieder einmal am Trübsinn erfreut, ist Wien zunehmend Asyl für jene Ungarn, die dafür zu wenig Vergnügungssinn aufbringen. Vielleicht kommen von ihnen entscheidende Impulse für die kränkelnde Heimat. Es wäre nicht das erste Mal
Traditionell ist Wien aus ungarischer Perspektive eine überaus bedeutsame Vorstadt am westlichen Rande des Landes, geliebt und gehasst, beneidet und verachtet, benutzt und ignoriert, je nachdem, wie die unruhigen Wogen der ungarischen Geschichte es verlangen. Die bösen und guten Dimensionen in diesem Verhältnis schließen sich dabei nicht unbedingt aus, sie überlagern sich vielmehr in buntesten Mischungen.
Die Zeiten der österreichisch-ungarischen Monarchie gehören objektiv zu den glücklichsten Perioden der ungarischen Geschichte mit einer unglaublichen wirtschaftlichen Blüte, Budapest verdankt seine spektakuläre Schönheit auch heute noch dieser kurzen Zeit zwischen 1867 und 1914, die Mehrzahl der schönen Donaubrücken, das größenwahnsinnige Parlament am Ufer der Donau, die dekorative Fischerbastei und die Bahnhöfe aus Glas und Stahl, die Ringstraße und die eleganten Alleen, die Luxusbäder und prunkenden Kaffeehäuser, doch auch in dieser Glanzzeit ruhte sie nicht, die österreichisch-ungarische Allergie.
Wunderbare Kinder
Budapest und Wien haben einander nie geliebt, das hinderte sie allerdings nicht daran, immer wieder begierig übereinander herzufallen und am laufenden Band wunderbare Kinder in die staunende Welt zu setzen.
Aktuell stehen die Wiener viel besser da. Sie haben die Chancen nach der europäischen Wende 1989 voll und ganz genutzt, der neu erschließbare Raum im Osten hat die Donaumetropole zu einer internationalen Drehbühne gemacht, wirtschaftlich, politisch und kulturell. Budapest dagegen hat seine wunderbaren Chancen nach 1989 systematisch vertändelt. Glaubte man damals noch, schneller im Westen anzukommen als Dresden und Karl-Marx-Stadt, weil Budapest schließlich die liberalste und lebendigste Stadt des Warschauer Paktes war, so verschlechterten sich die Verhältnisse, egal welche Farbe die Regierungen der letzten fünfundzwanzig Jahre auch gehabt haben mögen.
Gewachsen sind nur Korruption und Vetternwirtschaft, Verarmung großer Gesellschaftsschichten und politische Engstirnigkeit. Budapest ist heute nicht viel mehr als die krisengeschüttelte Hauptstadt eines sich gefährlich isolierenden und fanatisch lähmenden Landes. Gerade wird die Stadt auch in der Zahl ihrer Bewohner von Wien überholt. Es waren einmal zwei Millionen und sind heute deutlich weniger, während Wien die Zweimillionenhürde gerade überklettert.
Das liegt nicht zuletzt am großen Zustrom der Ungarn, die hier häufig für gleiche Arbeit das Zehnfache verdienen und zudem auf verlässlichere, demokratischere Verhältnisse treffen, die daheim täglich mehr verlorengehen. Vor allem junge Ungarn ergreifen die Flucht nach Wien, seit sich herumgesprochen hat, dass Berlin zwar immer noch sexy, doch längst nicht mehr ein aufregender Abenteuerspielplatz für arme Leute ist. Jeder zweite Kellner in Österreich scheint inzwischen Ungar zu sein, an Tankstellen sind sie noch mächtiger vertreten. Sie machen ihre Arbeit freundlich und gut, sind aber dennoch vielfach von Heimweh zerrissen. In aller Regel sind sie überqualifiziert für das, was sie in Österreich Geld verdienen lässt, und sie träumen von wirklicher Heimat.
Wenig Verbindung
Erstaunlich, wie wenig Verbindung die Ungarn, aber auch die anderen Menschen aus den Gebieten der Osthälfte der ehemaligen Donaumonarchie, die jetzt wieder massenhaft die Straßen Wiens füllen und beleben, die Kroaten, Slowenen, Serben, Rumänen, Slowaken, Ukrainer und nicht zuletzt die wieder bedeutender werdenden Gemeinden der Juden, untereinander haben. Es gibt in Wien keine Zeitungen in ihren Sprachen, keine Kaffeehäuser, die zu ambulanten Wohnzimmern werden könnten, es fehlt an sozialkulturellen Vernetzungen, um aus dem Wirtschaftsasyl ein wärmeres Wohnen erwachsen zu lassen.
Wird sich das verbessern, dann entwickelt sich vielleicht in einem Wiener Kaffeehaus, dem Treffpunkt der Ungarn, eine attraktive Vorstellung davon, wie sich Zukunft glücklicher entwickeln ließe. Es wäre nicht das erste Mal in der ungarischen Geschichte, dass die wahren Patrioten gerade im Exil entscheidende Impulse für die kränkelnde Heimat setzen. (Wilhelm Droste, 23.12.2015)
Wilhelm Droste (Jahrgang 1953) lehrt deutsche Literatur an der ELTE-Universität Budapest. Er berichtet über ungarische Kultur ("NZZ", Deutschlandradio, WDR), ist Gründer der Zeitschrift "Drei Raben" und Betreiber von Kulturcafés in Budapest.