Mittwoch, 12. März 2014

Dortmund und seine Ultras

Knappe fünf Monate liegt das letzte Derby mittlerweile bereits zurück - und noch immer scheinen die Vorkommnisse von jenem 26. Oktober 2013 in einem undurchschaubaren Nebel zu liegen. Recherchen von schwatzgelb.de sollten nun Licht in das Dunkel bringen - und deckten einen Sachverhalt auf, der in der Politik wohl jedem Minister seinen Sessel kosten dürfte, beim Fußball jedoch anscheinend niemanden interessiert. Da die einzelnen Sachverhalte sich teilweise recht komplex darstellen, an dieser Stelle aber nichts verknappt und dadurch eventuell sogar falsch wiedergegeben werden soll, haben wir uns dazu entschieden, statt eines episch langen Textes einen Dreiteiler zu veröffentlichen. Der vorliegende erste sowie der morgen erscheinende zweite Teil drehen sich rund um das zurückliegende Derby im Oktober 2013. Im dritten Teil (ab Donnerstag) widmen wir uns den Konsequenzen, die das letzte Duell in der Arena für das Spiel heute in 14 Tagen bedeutet. Das verabschiedete Sicherheitskonzept, das für manchen Stadiongänger eine Änderung der Gewohnheiten bedeuten wird, soll dabei im Mittelpunkt stehen.
 

Wie unsere Neugier geweckt wurde

Der Auslöser für die Recherchen von schwatzgelb.de war eine Pressemitteilung der Polizei Gelsenkirchen vom 14. Februar 2014 unter der Überschrift „POL-GE: Großartiger Ermittlungserfolg der Polizei nach den Krawallen beim letzten Derby Schalke gegen Dortmund am 26.10.2013 in der Veltins Arena Ermittlungskommission ‚GE 15:30‘ zieht erfolgreiche Bilanz“. Darin berichtete die Polizei, dass insgesamt 69 Straftäter identifiziert worden seien, darunter 55 Dortmunder und 14 Schalker. Die Namen der Identifizierten seien „in Absprache mit der Staatsanwaltschaft dem Verein FC Schalke 04 mit dem Vorschlag eines bundesweiten Stadionverbotes gemeldet“ worden. „Auch die Namen der 514 Dortmunder Ultras, unter denen sich auch die 55 identifizierten Tatverdächtigen befinden, die sich am Morgen des 26.10.2013 konspirativ am Bahnhof Essen-West getroffen hatten, um ohne Polizeibegleitung zur Veltins-Arena zu kommen, sind dem Verein auf Anfrage mitgeteilt worden. Die tatsächliche Entscheidung zur Erteilung von Stadion- oder Betretungsverboten obliegt allein dem Verein.“ Bereits am 20. Januar 2014 hatte der FC Schalke 04 mitgeteilt, dass er 498 Haus- und Geländeverbote, gültig jeweils bis zum 30. Juni 2019, ausgesprochen und zusätzlich 31 dreijährige bundesweite Stadionverbote verhängt habe.

Journalistische Ignoranz bei den lokalen Medien

Nun musste der interessierte Beobachter bereits seit dem Derby feststellen, dass die lokalen Medien „Der Westen“ und „Ruhr Nachrichten“ keinerlei Anstalten zeigten, die Geschehnisse journalistisch-objektiv aufklären zu wollen. Auch auf die oben genannte Polizeimeldung vom 14. Februar 2014 reagierten beide Online-Portale lediglich mit einer schlichten Kopie der Polizeitexte, „der Westen“ dabei sogar noch unkritischer als die „Ruhr Nachrichten“.
 
Diese journalistische Ignoranz motivierte in der Folge, der Sache näher auf den Grund zu gehen. Mit einem Schreiben vom 16. Februar 2014 wendeten wir uns mit einigen Fragen an die Pressestelle der Polizei Gelsenkirchen. Von Interesse war hierbei insbesondere, auf welcher Rechtsgrundlage die Daten der 514 in Essen-West festgestellten Personen an den Verein Schalke 04 übermittelt wurden und ob gegen jede einzelne dieser Personen entsprechende Ermittlungsverfahren eingeleitet oder bereits abgeschlossen wurden. Einen Tag später, am 17. Februar 2014, erhielt die Redaktion bereits die Antwort von der Pressestelle der Polizei Gelsenkirchen. Darin hieß es, dass man „zu rechtlichen Einschätzungen [...] keine Angaben machen“ werde. Zudem erfolgte der Hinweis, dass es sich bei den Vorkommnissen in Essen-West um eine „Maßnahme der Bundespolizei“ gehandelt habe.

Bundespolizei berichtet aus erster Hand

Auf diesen Hinweis hin leitete schwatzgelb.de den Fragenkatalog noch am selben Tag weiter an die Pressestelle der Bundespolizei. Schon am darauffolgenden Tag, dem 18. Februar 2014, erhielten wir eine Antwort von dem Leiter der Bundespolizeiinspektion Dortmund, Oliver Humpert, die sich im Tonfall angenehm positiv von dem harschen Ton der Landespolizei Gelsenkirchen unterschied. Für eine weitere Erörterung wurde der Redaktion ein persönliches Treffen angeboten, das am 24. Februar in Dortmund stattfand. In einer vergleichsweise angenehmen und aufgeschlossenen Atmosphäre schilderten Oliver Humpert und sein Stellvertreter, Sven Srol, die Vorkommnisse des 26. Oktober 2013 in Essen-West. Sven Srol konnte dabei aus erster Hand berichten, da er an jenem Tag als Einsatzleiter der Bundespolizei im Einsatz war.
 
Die Vertreter der Bundespolizei stellten die Vorkommnisse in Essen-West wesentlich entspannter dar, als sie in den Medien - unterstützt von den ersten Polizeimitteilungen jenes Tages - transportiert wurden. So habe die Polizei kurzfristig „gesicherte Erkenntnisse über die Anreisewege der Dortmunder Ultras“ erhalten und habe dementsprechend die Zahl der Einsatzkräfte am Bahnhof Essen-West erhöht. Einer normalen Weiterreise mit der Bahn in Richtung Gelsenkirchen-Buer habe von Seiten der Bundespolizei nichts im Wege gestanden.

"Es verlief friedlich, es gab keine Widerstände und keine Beleidigungen"

Doch aufgrund eines Güterzugunfalls zwischen Gladbeck-West und Bottrop-Boy sei die Zugstrecke gesperrt worden. Die Bundespolizei habe den Dialog mit den anwesenden Ultras gesucht und angeboten, dass diese alternativ zum Essener Hauptbahnhof fahren könnten, wo Ersatzbusse Richtung Stadion bereitgestellt würden. Der Dialog mit den Ultras habe sich zwar nicht einfach gestaltet, da diese eine Schikane seitens der Polizei befürchtet hätten, so Srol im Gespräch mit schwatzgelb.de, doch letztlich lobte er die für solche Situationen vergleichsweise entspannte Gesprächsatmosphäre. Abschließend sei es daher auch gelungen, die Ultras von dem Plan zu überzeugen; doch just in diesem Moment sei ein Zug eingefahren, der als Reiseziel noch „Gelsenkirchen-Buer“ angezeigt habe. Die Ultras hätten sich daraufhin hintergangen gefühlt und versucht, diesen Zug erreichen. Hierbei sei eine bestimmte Zahl - Srol bezifferte sie auf 300 bis 400 - über die Gleise gelaufen. In Abstimmung mit der Landespolizei habe man daraufhin eine Identitätsfeststellung vorgenommen. Srol lobte ausdrücklich die relativ entspannte Atmosphäre während dieser Maßnahme: „Es verlief friedlich, es gab keine Widerstände und keine Beleidigungen.“ Er gab zu verstehen, dass man vereinzelte Gleisüberschreitungen aufgrund der Einstufung einer Ordnungswidrigkeit nach dem Opportunitätsprinzip sogar noch toleriert hätte; aufgrund der hohen Zahl an Gleisüberquerern habe man sich jedoch zu der Maßnahme entschlossen, um ein Zeichen zu setzen.
 
Von der Landespolizei wurden schließlich die Ersatzbusse organisiert, mit denen die Personen nunmehr vom Bahnhof Essen-West zum Stadion gebracht wurden. Damit sei die Maßnahme für die Bundespolizei erledigt gewesen. Im Nachgang sei man bemüht gewesen, die Ordnungswidrigkeit des Gleisüberquerens einzelnen Personen nachweisen zu können. In etwa 55 Fällen seien schließlich entsprechende Verfahren eingeleitet worden, da eine Zuordnung eindeutig möglich gewesen sei.

Vorkommnisse in Essen-West offenbar nicht ansatzweise so martialisch wie sie in Polizei- und Pressetexten dargestellt wurden

Aufgrund der Vorkommnisse in der „Arena Auf Schalke“ habe sich die Landespolizei nach dem Spiel mit der Bitte um Übermittlung der 514 Datensätze aus Essen-West an die Bundespolizei gewendet. Diesem Wunsch sei man nachgekommen, die entsprechenden Rechtsgrundlagen hierfür seien vorhanden. Der Paragraf 32 des Bundespolizeigesetzes regelt entsprechend, dass die Bundespolizei „Behörden des Polizeivollzugsdienstes [...] personenbezogene Daten übermitteln [kann], soweit dies zur Erfüllung polizeilicher Aufgaben erforderlich ist“. Mit diesem Schritt sei der Sachverhalt für die Bundespolizei abgeschlossen.
 
Das Gespräch mit den beiden Vertretern der Bundespolizeiinspektion Dortmund machte deutlich, dass sich die Vorkommnisse in Essen-West offenbar nicht ansatzweise so martialisch abgespielt haben dürften, wie sie in den seinerzeitigen Polizei- und Pressetexten dargestellt wurden.
 
Die rechtswidrige Datenübermittlung durch die Polizei Gelsenkirchen
 
In der Folge stellte schwatzgelb.de aufgrund der Auskunftsverweigerung der Landespolizei Gelsenkirchen eigene Nachforschungen nach der Rechtsgrundlage der Übermittlung personenbezogener Daten an den Verein Schalke 04 an. Da der Verein die Landespolizei Gelsenkirchen nach deren Aussage um eine Übermittlung gebeten habe, würde hierbei der Paragraf 29 Absatz 2 des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen zur Geltung kommen. Darin heißt es zur „Datenübermittlung an Personen oder an Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs“:
 
„Die Polizei kann auf Antrag von Personen oder Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs personenbezogene Daten übermitteln, soweit die oder der Auskunftsbegehrende 
  1. ein rechtliches Interesse an der Kenntnis der zu übermittelnden Daten glaubhaft macht und kein Grund zu der Annahme besteht, dass das Geheimhaltungsinteresse der betroffenen Person überwiegt, 
  2. ein berechtigtes Interesse geltend macht und offensichtlich ist, dass die Datenübermittlung im Interesse der betroffenen Person liegt und sie in Kenntnis der Sachlage ihre Einwilligung hierzu erteilen würde.“
Die Ziffer 2 dürfte von vornherein ausscheiden, da - das sei hier unterstellt - die Datenübermittlung nicht im Interesse der betroffenen Personen lagen und diese in Kenntnis der Sachlage keine Einwilligung erteilen würden; bleibt also Ziffer 1.
 
Demnach müsste als Basis das Geheimhaltungsinteresse der betroffenen Personen nachrangiger sein als das rechtliche Interesse des Auskunftsbegehrenden - in diesem Falle des FC Schalke 04 - an der Kenntnis der zu übermittelnden Daten. Doch schauen wir uns näher an, was dem Verein eigentlich mitgeteilt werden sollte.

Aus 55 Ordnungswidrigkeiten werden 500 Gewalttäter

Rein von den Fakten her - und nur darum geht es in einem Rechtsstaat, nicht um Vermutungen und Unterstellungen - sollten dem Verein Schalke 04 pauschal die Daten von über 500 Personen mitgeteilt werden, die im Bahnhof Essen-West zunächst einmal schlichtweg als anwesend festgestellt wurden. Ob und welchen Personen individuell Vergehen im Sinne einer Ordnungswidrigkeit oder gar Straftat nachgewiesen werden konnte, war bei dieser Übermittlung schlichtweg nicht von Bedeutung.
 
Wie oben bereits dargelegt wurde, konnte nach Angaben der Bundespolizei etwa 55 Personen die Ordnungswidrigkeit des Gleisüberquerens nachgewiesen werden. Selbst eine Übermittlung dieser 55 Namen über die Landespolizei an den Verein Schalke 04 wäre aufgrund der laufenden Verfahren und der in Deutschland gängigen Unschuldsvermutung bis zum Beweis der Schuld rechtlich höchst bedenklich. Skandalös hingegen ist die pauschale Übermittlung von über 500(!) Datensätzen von der Landespolizei Gelsenkirchen an den Verein Schalke 04. Mit der Übermittlung legte die Landespolizei die Basis, dass mehr als 500 Personen pauschal als Gewalttäter stigmatisiert werden, ohne dass ihnen gegenwärtig überhaupt juristisch etwas nachgewiesen werden kann. Eine höchst bedenkliche Form von Rechtsstaatlichkeit. Nach gegenwärtiger Faktenlage wurden über 500 Datensätze an den Verein Schalke 04 übermittelt, in rund 450 Fällen davon ohne einen einzigen greifbaren Verdacht eines individuellen Vergehens. Einer möglichen Datenübermittlung steht also hier das deutlich überwiegende „Geheimhaltungsinteresse der betroffenen Person“ gemäß Paragraf 29 Absatz 2 des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen im Wege, womit die Datenübermittlung de jure rechtswidrig war.

Wie die Landespolizei Gelsenkirchen und der FC Schalke 04 sich fast aller Dortmunder Ultras entledigten

Im Raum steht aufgrund dieses Vorgehens eine mehr oder weniger stillschweigende Kooperation zwischen der Polizei Gelsenkirchen und dem Verein Schalke 04. Nähert man sich dem Vorgehen mit der Frage „cui bono?“ - „wem nutzt es?“ - stellt man schnell fest, dass sich sowohl die Landespolizei Gelsenkirchen als auch der FC Schalke 04 in einer Win-Win-Situation wiederfinden. Einerseits hat sich der Verein FC Schalke 04 mit einem höchst anrüchigen, aber juristisch kaum angreifbaren Vorgehen für über fünf Jahre fast aller Dortmunder Ultras entledigt. Und die Polizei Gelsenkirchen wiederum profitiert ebenfalls, da man der Meinung sein dürfte, dass die Ultras - die man wohl als potenzielle Störenfriede und Gewalttäter ansieht - fünf Jahre nicht im eigenen Zuständigkeitsbereich auftauchen werden.
 
Hier liegt der starke Verdacht eines Günstlingshandelns zwischen einer staatlichen Institution und einem privaten Unternehmen zu Lasten hunderter Fußballfans vor, der in anderen Bereichen bei einem Bekanntwerden die zuständigen Politiker wohl ihre Ämter kosten dürfte. Vor diesem Hintergrund erscheint die Aussageverweigerung der Landespolizei Gelsenkirchen in einem ganz anderen, verdächtigen Licht. Es drängt sich der Verdacht auf, dass hier Vorgänge vertuscht werden sollen, die einer juristischen Überprüfung wohl niemals standhalten würden.
 
Um diesen sich aufdrängenden Verdacht auszuräumen, hat schwatzgelb.de zwei Mal beim FC Schalke 04 um eine Stellungnahme angefragt. Der erste Kontaktversuch vom 17. Februar blieb gänzlich unbeantwortet. Auf eine zweite Anfrage vom 27. Februar teilte der Verein lediglich mit: „Wir bitten [...] um Verständnis, dass wir bei aller Hochachtung vor Ihrer engagierten Arbeit Ihren Fragenkatalog zu den Ereignissen des Derbys am 26. Oktober 2013 nicht beantworten möchten.“ So fügten sich die Puzzle-Teile schließlich zusammen.
 
Interne Konsequenzen bei "The Unity"
Doch auch die Vorfälle in der Gelsenkirchener Arena waren Gegenstand der Recherchen. In ihrer Publikation „Vorspiel“ teilte die Ultra-Gruppierung „The Unity“ vor dem Heimspiel gegen den VfB Stuttgart am 1. November mit:
„Es sind Dinge passiert, die nicht akzeptabel sind! Da die Art und Weise der Geschehnisse keinesfalls so geplant waren müssen wir uns ehrlich eingestehen, dass uns die Gemengelage im Stadion sowie die handelnden Personen leider völlig aus den Händen geglitten sind. Bevor die ganze Welt aber weiter auf uns hereinbricht bitten wir um Zeit. Zeit, die sich auch alle anderen Beteiligten erbeten haben um die Geschehnisse sachlich zu analysieren und anschließend auch zielführende Konsequenzen ziehen zu können.“
Angesprochen auf diese damalige Aussagen hieß es von Seiten „The Unitys“, dass die interne Aufarbeitung gegenwärtig weiter andauere. Nicht zuletzt der öffentliche, teilweise hysterisch-populistische Druck, der dabei insbesondere von Seiten der Medien auf die Ultra-Szene ausgeübt wurde, scheint jedoch die Skepsis in der Kommunikation nach außen nachhaltig erschüttert zu haben. So habe man mit den oben genannten Aussagen aus dem „Vorspiel“ auch nicht den Eindruck erwecken wollen, dass man wenig später öffentlich Konsequenzen verkünden werde. Auch wenn Einzelheiten nicht genannt wurden, so vermittelte „The Unity“ im Gespräch mit schwatzgelb.de den glaubhaften Eindruck, dass man intern um ernsthafte Konsequenzen aus den Vorfällen bemüht war und ist, um derartige Bilder bei kommenden Derbys zu verhindern. Verneinen konnte man aber, dass die Entgleisungen während der Pyro-Aktion dem möglichen Einfluss befreundeter Ultra-Gruppierungen aus dem In- und Ausland zuzuschreiben sein könnten, die derartige Eskapaden aus ihren Ligen möglicherweise als „Alltag“ ansehen.
 
Im Recherche-Gespräch zeigte sich also zumindest mit Blick auf „The Unity“, dass man sich der Verfehlungen im Gästeblock durchaus sehr bewusst sei und interne Konsequenzen gezogen habe.
 
Es bleibt zu wünschen, dass dies trotz des enormen öffentlichen Drucks, unter dem die Ultras gegenwärtig stehen, auch während der kommenden Derbys tatsächlich zum Ausdruck kommt.