Donnerstag, 13. März 2014

Der Fall Genovese



 Mordfall Genovese: ''38 achtbare Bürger schauten zu"

Vor 50 Jahren wurde in Queens die 28-jährige Kitty Genovese erstochen. Die "New York Times" machte den Fall zum Mythos, Psychologen beschäftigen sich noch heute damit.
  (DiePresse.com)
Dessen Artikel erschien am 27. März auf der Titelseite der „New York Times" und begann mit den Worten: „Über eine halbe Stunde lang schauten 38 achtbare, gesetzestreue Bürger in Kew Gardens in Queens zu, wie ein Mörder in drei Angriffen eine Frau belästigte und erstoch. Zweimal unterbrachen ihn ihre Gespräche und das Aufflackern ihrer Schlafzimmerlichter. Jedesmal kam er zurück und stach erneut auf die Frau ein. Nicht eine Person rief während dem Angriff die Polizei, ein Zeuge rief an, nachdem die Frau tot war". Einen Zeugen zitiert Gansberg mit den Worten „Ich wollte nicht darin verwickelt werden", ein anderer soll seine Untätigkeit mit „Ich war müde" begründet haben.„Frau, 28, erstochen": Mehr als eine Kurzmeldung war ein alltägliches Verbrechen wie dieses den New Yorker Zeitungen im März 1964 nicht wert - zunächst, denn von dem Mord an der 28-jährigen Kitty Genovese hört heute jeder Psychologie-Student. Auslöser dafür war ein Mittagessen des „New York Times"-Redakteurs Abraham Michael Rosenthal mit Polizeichef Michael Murphy zehn Tage nach der Tat. Murphy erzählte von einem Mordfall mit 38 Zeugen: „Diese Queens-Geschichte ist eine für die Bücher." Rosenthal witterte eine große Story und setzte den Reporter Martin Gansberg darauf an.
Der Artikel verursachte einen nationalen Aufschrei. Der Fall, so schien es, repräsentierte die Kälte und Gleichgültigkeit moderner Zeiten und anonymer Großstädte. Doch bald regten sich Zweifel an der Darstellung der „New York Times". Die Untersuchungen des Falls ergaben folgenden Ablauf der Tat:
Am 13. März 1964 kommt Catherine „Kitty" Genovese gegen drei Uhr morgens von der Arbeit nach Hause. Sie parkte ihren roten Fiat gegenüber dem Appartmentgebäude in Kew Gardens im New Yorker Stadtteil Brooklyn, in dem sie lebt. In ihrer Nähe hält der 29-jährige Winston Moseley, der auf der Suche nach einem Opfer durch die Straßen gefahren ist und dem Genovese an einer roten Ampel aufgefallen ist. Auf dem Weg zur Haustür bemerkt Genovese Schritte hinter sich und rennt los. Doch Moseley holt sie ein und sticht ihr viermal in den Rücken. Genovese schreit, in der Nähe öffnet sich ein Fenster. „Lassen Sie die Frau in Ruhe", ruft ein Mann heraus. Moseley flüchtet. Genovese rappelt sich auf und schleppt sich zu ihrem Wohnhaus.



Moseley parkt inzwischen sein Auto um, setzt sich einen anderen Hut auf und kehrt zum Tatort zurück. Er folgt der Blutspur und findet Genovese, die in einem Flur im hinteren Teil ihres Hauses zusammengebrochen ist. Ein Bewohner öffnet seine Wohnungstür und schlägt sie gleich wieder zu, als er Moseley mit dem Messer in der Hand über sein Opfer gebeugt sieht. Moseley sticht erneut auf Genovese ein und vergewaltigt sie. Nachdem er geflohen ist, findet eine Nachbarin die sterbende Frau. Kurz darauf trifft die Polizei ein, Genovese stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus. Moseley wird wenige Tage später bei einem Einbruch gefasst. Im Verhör gesteht er mehrere Morde an Frauen. Er wird er zum Tode verurteilt, später wird die Strafe in lebenslänglich umgewandelt.
Doch wie viele Menschen waren wirklich Zeugen der blutigen Tat, und war
um rief niemand die Polizei? Mit Sicherheit kann das bis heute niemand sagen. Die Zahl 38, die Gansberg in seinem Artikel nannte, hatte er aus dem Polizeibericht über die Bewohner, die nach der Tat befragt wurden. Allerdings sagten viele von ihnen, dass sie nichts mitbekommen hätten oder dass sie zwar Schreie gehört hätten, jedoch von einem betrunkenen Streit ausgegangen seien. Einige Anrainer sahen nach Moseleys erster Flucht aus dem Fenster und beobachteten nur noch, wie Genovese taumelnd um die Ecke verschwand. Ein Anrainer will nach dem ersten Angriff der Polizei gemeldet haben, dass eine Frau zusammengeschlagen worden sei - er sei aber ignoriert worden. Charles Skoller, ein damaliger Vertreter der Anklage, sagte der „New York Times" 2004, man habe etwa sechs Zeugen gefunden, die etwas mitbekommen haben wollen. Aber: „Es könnten auch mehr als 38 gewesen sein", die Schreie gehört hätten.

Zeuge: "Bin schlafen gegangen"

Mit Sicherheit weiß man von zwei Zeugen, die nicht halfen: Die erste Attacke wurde von einem Mann vom Fenster aus beobachtet, der den Behörden später erzählte, er habe darüber nachgedacht „hinunterzugehen und meinen Baseballschläger zu holen". Doch er entschied sich anders: „Ich bin stattdessen schlafen gegangen". Dann gab es noch jenen Nachbarn Genoveses, der die Tür öffnete und sah, wie Moseley auf die mit ihm befreundete Frau einstach. Er war auch derjenige, der der Polizei später sagte, er habe nicht in die Sache verwickelt werden wollen. Dieser Zeuge rief zunächst einen Bekannten an, der ihm riet, stillzuhalten. Dann telefonierte er mit einigen Nachbarn, bis ihn schließlich eine davon anwies, die Polizei zu informieren. Diese Frau rannte anschließend sofort ins Stiegenhaus und versuchte, der sterbenden Genovese zu helfen.
Dass 38 Menschen dem Mord über eine halbe Stunde lang „zuschauten", stimmt jedenfalls nicht. Der Einfluss des Falles bzw. seiner Darstellung war aber zweifellos enorm. Er trug dazu bei, dass die USA den einheitlichen Polizeinotruf 911 einrichteten, und dass sich im ganzen Land Nachbarschafts-Wachen formierten. Die Psychologen Bibb Latane und John Darley untersuchten, motiviert von dem Fall, 1970 die Hilfsbereitschaft von Gruppen in Notfällen. Ihre Experimente ergaben den Schluss: Je mehr Menschen einen Notfall sehen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie helfen. Das ging als „Bystander-Effekt" oder „Genovese-Syndrom" in die Wissenschaft ein. Eine Untersuchung des Magazins „American Psychologist" ergab 2008, dass der Fall Genovese in jedem der zehn gebräuchlichsten Psychologie-Lehrbücher beschrieben wurde - zumeist in der Version des Gansberg-Artikels.
Winston Moseley ist heute der am längsten einsitzende Häftling im Staat New York. Er stellt regelmäßig Anträge auf Entlassung auf Bewährung, die bislang alle abgelehnt wurden. Auch die Wissenschaft beschäftigt der Mordfall noch immer: Zum 50. Jahrestag untersuchte die Fordham Universität in New York City in einer eigenen Konferenz „die vielen Einflüsse dieser Tragödie auf die westliche Gesellschaft".
(kron)


Winston Moseley / Bild: New York Police Department