Dienstag, 26. November 2013

Die Paris Geschütze








Unter dem Namen Paris-Geschütz wurde im Ersten Weltkrieg ein deutsches Fernkampfgeschütz der Firma Krupp vom Kaliber 21 cm bekannt. Es hatte eine außergewöhnliche Reichweitevon etwa 130 Kilometern. Zwischen dem 23. März 1918 und dem 8. August 1918 feuerten drei bzw. zwei Paris-Geschütze etwa 800 Granaten auf Paris ab. Das Geschütz hatte eine Rohrlänge von 37 Metern, d. h. von 176 Kalibern (L/176). Das Rohr war eine Konstruktion aus einem 17 m langen (Mantel-)Rohr mit 38 Zentimeter Innendurchmesser (vom Geschütz Langer Max), in das ein 30 m langes gezogenes 21-cm-Rohr (Seelenrohr) eingesetzt wurde. Schließlich wurde noch ein 6 m langes glattes Rohr (die sogenannte „Tüte“) angefügt. Die überlange Konstruktion wurde durch ein charakteristisches hängebrückenartiges Spannwerk gegen Durchhängen geschützt. Dieses Geschützrohr wurde als „Kaiser-Wilhelm-Rohr“ bezeichnet. Es verschoss Spreng-Granaten von 106 Kilogramm Masse (Sprengladung etwa 7 kg) mit einer ballistischen Haube und einer Mündungsgeschwindigkeit v_0 von bis zu 1645 Meter pro Sekunde. Die Kanone hatte eine Gesamtmasse von rund 140 Tonnen und wurde mit der Eisenbahn an den Einsatzort transportiert. Deswegen war es aber kein Eisenbahngeschütz, sondern schoss aus drehbaren sogenannten Schießgerüsten von stationären Bettungen aus Beton oder Stahl. Die drei verschiedenen Geschützstellungen lagen etwas abseits bestehender Eisenbahnstrecken jeweils in Deckung eines größeren Waldes. In die Stellung wurde ein mehrgleisiger Anschluss gebaut. Abseits der eigentlichen Stellung wurden Scheinstellungen gelegt, sogar mit Gleisanschluss.
Die Reichweite von circa 130 km beruhte auf einer ballistischen Besonderheit. Mit einem hohen Abgangswinkel von bis zu 55°, einer sehr starken Treibladung und dem überlangen Rohr konnte die Gipfelhöhe in den oberen Teil der Stratosphäre in etwa 38 bis 40 km Höhe gelegt werden. Dadurch flog das Geschoss lange durch sehr dünne Luftschichten, so dass dieFlugbahn weitgehend der eines Schusses im luftleeren Raum glich. Alle anderen im Ersten Weltkrieg verwendeten Ferngeschütze erzielten eine Reichweite von „nur“ etwa 40 km.
Mit der Entwicklung der Paris-Geschütze wurde bereits 1916 begonnen. Maßgeblich daran beteiligt war der Artillerie-Konstrukteur Dr. Ing. (Major) Fritz Rausenberger von der Firma Krupp, welcher bereits die „Dicke Bertha“ entworfen hatte. Die Entwicklung erfolgte auf demSchießplatz der Firma Krupp nahe Meppen, der heutigen Wehrtechnischen Dienststelle 91. Da das Testgelände im Emsland zu klein war und durch eine Fehlberechnung bereits eine Granate im Wester-Moor bei Saterland außerhalb des Erprobungsgeländes einschlug, musste man auf den Schießplatz Altenwalde ausweichen, da man hier bis auf die offene Nordsee schießen konnte. Am 20. November 1917 wurde das erste fertiggestellte Paris-Geschütz in Altenwalde bei Cuxhaven an der Nordsee mit westlicher Schussrichtung entlang den ostfriesischen Inseln erfolgreich getestet. Bis Anfang 1918 wurden zwei weitere Paris-Geschütze gebaut, die zusammen im Rahmen der deutschen Frühjahrsoffensive am 23. März 1918 erstmals aus der 1. Stellung, dem Wald von Saint-Gobain bei Crépy-en-Laonnois, eingesetzt wurden.
Die Geschosse erreichten eine Flughöhe von etwa 40 km und eine Flugzeit von drei Minuten. Die mehrteilige Treibladung aus Messing-Kartusche und zwei Treibladungsbeuteln wog bis zu 196 kg. Um eine gleichmäßige Leistung zu erreichen, wurden die hochbrisanten Treibladungen aus Röhrenpulver C/12 bei konstant 15 °C temperiert nahe der Geschützstellung gelagert. Während der etwa durchschnittlich 20 Minuten zwischen den Schüssen mussten der jeweils vergrößerte Ladungsraum ausgemessen, die Gasdruck-Messungen ausgewertet und zahlreiche Berechnungen ausgeführt werden. Neben den üblichen Einflüssen beim Artillerie-Schießen waren weitere bedeutende, bisher unbekannte Faktoren zu berücksichtigen. Die Schussweite von etwa 130 km, gemessen auf dem Umfangskreis der Erdkugel, verkürzte sich als Sehne betrachtet um etwa 800 Meter. Aufgrund der überlangen Geschoss-Flugzeit war sogar die Drehung der Erdkugel während dieser Zeit bei den Schusswerten zu berechnen, sodass der Beschuss eigentlich ein Schießen mit Vorhalt auf ein sich bewegendes Ziel war.
Eine richtige Feuerleitung war aufgrund der Entfernung nicht möglich, dazu mussten andere Möglichkeiten gefunden werden. Die Lage der Einschläge soll unter anderem von deutschen Spionen in Paris beobachtet und weitergemeldet worden sein. Anfangs fanden sich auch Berichte in den Zeitungen der Stadt, die ins europäische Ausland geliefert und dort von deutschen Stellen ausgewertet wurden, so lange, bis die französische Zensur das unterbinden konnte. Hilfsweise wurde die Lage der Einschläge in Längsrichtung des Schießens über die Messung des Gasdruckes beim Schuss durch in den Ladungsraum eingelegte sogenannte "Kruppsche Mess-Eier" (Kupfer-Stauchkörper) geschätzt.
Durch die enorme Abschussenergie der Treibladung mit einer Temperatur von 2000 °C und einem Gasdruck bis zu 4800 bar wurde das Geschützrohr beim Schießen regelrecht ausgezehrt. Bei jedem Schuss vergrößerte sich das Kaliber etwas, was mittels nummerierter Granaten mit entsprechend steigendem Durchmesser und einer ständigen Steigerung der Treibladung ausgeglichen werden musste. Beim Abschuss verbrannte der größte Teil der Messingkartusche. Auch die ersten Kupfer-Führungsbänder zur Aufnahme des Dralls hielten der Temperatur und dem Druck nicht stand. Es mussten deshalb zusätzlich Drallnuten in die Stahlhülle der Granaten eingeschnitten werden, mit dem Ergebnis, dass auch davon die Geschützrohre vorzeitig verschlissen wurden. Die Granaten waren beim Laden mit den Nuten regelrecht in die Züge und Felder des Rohres "einzuschrauben". Die Nutzungsdauer eines Rohres aus der 1. Stellung lag bei nur etwa 65 Schuss.
Nach dieser ersten Leistung mussten die Rohre dann jeweils bei Krupp in Essen weiter aufgebohrt werden auf Kaliber 22,4 und dann 23,8 cm. Durch das Aufbohren erweiterte sich das Rohrvolumen, und beim Abschuss sank der Gasdruck. Diese Rohre konnten nur noch aus der näher an Paris gelegenen 2. (Beaumont-en-Beine) und 3. Stellung (Bruyères-sur-Fère) eingesetzt werden. Insgesamt waren sieben Rohre vorhanden.
Nicht nur die Stellung, sondern auch der Abschuss selbst musste getarnt werden. Um die französische Schallmessortung zu erschweren, schossen abgestimmt gleichzeitig mit einem der Paris-Geschütze jeweils etwa 30 andere schwere deutsche Batterien aus benachbarten Stellungen. Geschossen wurde auch meist nur am Tage, da allein das riesige Mündungsfeuer nachts die Stellung verraten hätte. Ebenfalls wurde während französischer Fliegergefahr der Beschuss eingestellt. Die Paris-Batterie wurde durch ein Infanterie-Bataillon und zehn Fliegerabteilungen gesichert.
Auch wenn in der Fachliteratur mitunter von dem Paris-Geschütz geschrieben wird, wurden insgesamt drei derartige Kanonen eingesetzt. Die Paris-Geschütze hatten aufgrund ihrer Verwendung gegen die Zivilbevölkerung keinerlei militärischen Nutzen. Durch die Treffer in Paris wurde der gewünschte psychische Effekt mit Verwirrung und Angst zunächst erzielt, der aber wegen der geringen Sprengladung der Granate und der erkennbar mangelnden Präzision der Feuerleitung nach kurzer Zeit verpuffte. Insgesamt wurden 256 Zivilisten getötet und 620 verwundet, davon gab es allein 88 Tote und 68 Verwundete bei einem Volltreffer auf die Pfarrkirche Saint-Gervais-Saint-Protais während des Karfreitags-Gottesdienstes am 29. März 1918 nachmittags. Die deutsche Propaganda nutzte diese angeblichen Erfolge jedoch, um die Moral der Heimatfront zu stärken.
Obwohl es eine Artillerie-Verwendung an Land war, lag die Bedienung in den Händen der Marine, da diese mit größeren Geschützen mehr Erfahrung besaß. Eine Geschützmannschaft bestand aus 60 bis 80 Marinesoldaten, zuzüglich einer Gruppe ziviler Ingenieure für Technik und Vermessung. Die Gesamtleitung des Schießens lag bei Vizeadmiral Maximilian Rogge. Auf deutscher Seite waren die Erwartungen so groß, dass am ersten Einsatztag sogar Kaiser Wilhelm II. die Stellung besuchte und das Schießen beobachtete.
Bereits in der 1. Stellung explodierte am 25. März beim Abschuss eines der drei Geschütze, wobei siebzehn Soldaten der Bedienungsmannschaft starben. Die verbliebenen Paris-Geschütze feuerten aus den drei verschiedenen Stellungen bis zum 8. August 1918, zuletzt wieder bei Beaumont-en-Beine, insgesamt etwa 400 Geschosse ab. Die durchschnittliche Feuergeschwindigkeit lag bei 8 Schuss pro Tag. Etwa 180 Granaten trafen Paris verstreut innerhalb der Altstadt, die restlichen die Außenbezirke. Aufgrund der sich ständig verschlechternden militärischen Lage und des deutschen Rückzuges war das Ziel bald nicht mehr zu erreichen. Die zwei verbliebenen Geschütze wurden mit ihren Ersatzrohren von der Front zurückgezogen und verschrottet. Auch die Konstruktionspläne wurden von den Deutschen versteckt oder vernichtet. So ließ sich nach der Kapitulation trotz Suche bei Krupp für die Alliierten nicht mehr nachvollziehen, wie eine derartige Kanone hatte gebaut werden können. Ein Relikt blieb die Betonbettung des ersten Geschützes in der Stellung bei Crépy-en-Laonnois. Ein weiteres Relikt findet sich am Ort der letzten Stellung im Wald von Chatel, nördlich von Château-Thierry. Hier wurde eine Metallbettung verwendet. Sie hinterließ ein im Wald bis heute erhaltenes kreisrundes Loch. Auch finden sich Reste von Erdarbeiten in Form von Wällen für die Schienenzuführung östlich des Loches im Wald in Richtung der vorhandenen Bahnlinie.
Die große Reichweite wurde später von keinem konventionellen Geschütz mehr wesentlich übertroffen. Nach dem Ersten Weltkrieg baute Frankreich eine etwa gleiche Kanone, das Eisenbahn-Ferngeschütz Modell 23, mit Kaliber 21 cm, Reichweite 120 km, Geschossgewicht 108 kg und v0 1450 m/s. Im Zuge der Wiederaufrüstung gab die deutsche Wehrmacht dann dieK 12 in Auftrag. Spätestens zu dieser Zeit waren derartig weittragende Geschütze überholt, da ihr Einsatzzweck nun wesentlich einfacher durch Luftangriffe erreichbar war. Die Gipfelhöhe des Parisgeschützes wurde erst von der V2 übertroffen. Eine späte Fortsetzung dieses überdimensionalen Geschützbaus fand sich in den sechziger Jahren im Projekt HARP des KanadiersGerald Bull.