Sonntag, 13. November 2016

Derby in Leipzig

Eine der Puppen, die überall an Autobahnbrücken hingen.
Als würden sie auf ihre Verhaftung warten: Die Puppen in Reih und Glied auf dem Revier.
 
 
 

Leipzig-Derby zwischen Lok und ChemieWenn Hass die Fußball-Historie überlagert

Von Ullrich Kroemer
Die Abneigung zwischen den einstigen Leipziger Spitzenklubs 1. FC Lok und BSG Chemie ist legendär: Im Sachsenpokal bestreiten nun beide das "erste echte Derby nach der Wende". Gegenseitiger Hass macht das Spiel zum Hochsicherheitsrisiko.
 
Die grünen Puppen baumelten am Donnerstagmorgen an allen großen Zufahrtsstraßen in und um Leipzig. Etwa 30 Torsos – grün bemalte und mit Stroh gefüllte Maleranzüge – waren an Eisenbahn-, Autobahnbrücken und Bundesstraßen aufgeknüpft. Viele versehen mit einem großen "C", dem Logo von Chemie Leipzig oder Aufschriften wie "Ultra 54/64" oder der Jahreszahl "1964" – dem Jahr, als Chemie DDR-Meister wurde und über Lok-Vorgänger SC Leipzig triumphierte. Sogar in Sachsen-Anhalt und Niedersachsen wurden solche präparierten Puppen sichergestellt.
Diese Diffamierung des Gegners erinnert an Neonazi-Methoden. 1996 hatte das NSU-Trio Böhnhardt-Mundlos-Zschäpe vor dem Besuch des damaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, ebenfalls eine beschmierte Strohpuppe von der Autobahnbrücke baumeln lassen. Eine "Geschmacklosigkeit" nannte Chemie-Trainer Dietmar Demuth die Provokation, die wohl Lok-Chaoten zugerechnet werden muss. Als "hirnrissig" ächtete Lok-Präsident Jens Kesseler die Tat. Noch ist unklar, wer konkret dafür verantwortlich ist, die Polizei ermittelt.
Spätestens durch diese Hass-Aktion ist das Derby zwischen den Leipziger Traditionsklubs BSG Chemie Leipzig und dem 1. FC Lokomotive auch überregional präsent. An diesem Sonntag (13 Uhr/MDR) stehen sich beide Klubs erstmals seit 31 Jahren wieder unter ihren ursprünglichen Namen gegenüber. Unter sportlichem Aspekt wäre das Duell im Viertelfinale im sächsischen Landespokal zwischen den fünftklassigen Leutzschern und dem Viertligisten aus Leipzig-Probstheida in der bundesweiten Berichterstattung bestenfalls eine Randnotiz. Doch es ist die Brisanz dieses Spiels, die die Partie am Länderspielwochenende bundesweit in den Fokus rückt.

Jahrzehntelange Rivalität

Dass sich beide Leipziger Klubs in tiefer Abneigung verbunden sind, hat seinen Ursprung in den 1950er Jahren, als durch einen Beschluss der DDR-Sportführung die BSG Chemie im SC Lokomotive aufging. Ihren Mythos hat diese tief verwurzelte Feindschaft in der Saison 1963/64, als die vermeintlich besten Fußballer Leipzigs bei Lok-Vorgänger SCL konzentriert wurden, die wiederauferstandene BSG Chemie nichtsdestotrotz als "Rest von Leipzig" sensationell DDR-Meister wurde. Bis zur Gründung von RB Leipzig 2009 war diese Rivalität jahrzehntelang die einzige Konstante im an Wirren reichen Leipziger Fußball. Der finanzkräftige Emporkömmling hat schließlich derzeit auch deswegen so viel Zulauf, weil viele Leipziger Fußballfans keine Lust mehr auf immer neue finanzielle Hiobsbotschaften und gewaltbereite Auseinandersetzungen hatten.
Nun wäre die Neuauflage dieses geschichtsträchtigen und immer noch heftig polarisierenden Derbys eine gute Gelegenheit, sich auf gemeinsame Werte zu besinnen. Etwa den Unterschied zwischen den Feierabendteams von Lok und Chemie zum millionenschweren Kader von RB Leipzig deutlich zu machen; die Atmosphäre in den maroden, aber urigen Stadien beider Vereine zu betonen; oder die nach überstandenen Insolvenzen und Neugründungen beachtlichen Entwicklungsschritte vorzuzeigen – beide Klubs sind im Schatten von Rasenballsport in der vergangenen Saison aufgestiegen. Eine gemeinsame Pressekonferenz oder zumindest eine gemeinsame Erklärung wären gute Signale gewesen. Letzteres war ursprünglich geplant, ist aber durch die widerliche Puppen-Aktion fürs Erste auf Eis gelegt worden. So bestimmt der Hass der Fangruppierungen untereinander noch immer auch die Klubpolitik.
Bereits am vergangenen Wochenende waren vermummte Anhänger der Fanszene Lok in den Alfred-Kunze-Sportpark eingedrungen und hatten im Wohnzimmer des Feindes in martialischer Pose Aufstellung genommen und skandiert: "Wir sind die Krieger, wir sind die Fans, Lokomotive-Hooligans." Unter der Woche hatten sich etwa 100 Hooligans aus dem Lok-Umfeld in der Innenstadt versammelt. Die Polizei löste die Versammlung auf.

Attacke auf Grünen-Politiker

Lok-Präsident Kesseler verurteilt das aggressive Verhalten eines Teils der Fans seines Klubs. Seit Kesseler und Co. 2013 als eine Gruppe von besorgten Fans die Führung bei Lok übernommen haben, versuchen sie nach Kräften Gewalt, Rassismus und Diskriminierung aus der Lok-Szene zu verbannen. Doch gerade in den vergangenen Monaten ist es wieder vermehrt zu Gewalttaten im Lok-Umfeld gekommen. Zuletzt war Lok-Teammanager René Gruschka von den eigenen Fans mit einem Böller verletzt worden. Beim Derby ist er nach siebenwöchigem Krankenhausaufenthalt erstmals wieder dabei. Der Grünen-Politiker Jürgen Kasek war erst in der vergangenen Woche von Hooligans mit Lok-Hintergrund in einem Zug attackiert worden.
Die Leipziger Polizei rechnet am Spieltag mit "je 200 bis 500 Personen", die als gewaltbereit (Kategorie B) und gewaltsuchend (C) gelten. Bei 4999 Fans, die in den maroden Alfred-Kunze-Sportpark eingelassen werden – darunter 750 Fans des 1. FC Lok –, ein gewaltiger Anteil. Andreas Loepki von der Polizeidirektion Leipzig spricht überraschend deutlich von einer "unverhohlenen Feindschaft" zwischen den gewaltbereiten Gruppen beider Fanlager. "Innerhalb der jeweiligen Anhängerschaft agieren gewaltbereite Personen und Gruppen, deren Ziel es auch am Sonntag sein wird, die direkte Auseinandersetzung zu suchen", sagt Loepki. "Negativ bestärkend tritt hinzu, dass sich genau dieses Klientel in politisch entgegengesetzten Sphären bewegt – die Ultraszene der BSG sieht sich als linkspolitisch und beteiligt sich an entsprechenden Versammlungslagen. Die konkret in Rede stehende Anhängerschaft des 1. FC Lokomotive ist hingegen im rechten Milieu verhaftet."
Sarah Köhler vom Fanprojekt Leipzig wehrt sich gegen solche Pauschalisierungen. Keiner der Gruppen sei "nur links oder nur rechts". Doch auch die Fanarbeiterin weiß um die "tiefe Feindschaft, die beide Szenen pflegen". Dass es in diesem K.o.-Spiel in jedem Fall Gewinner und Verlierer geben wird, verschärfe das noch. "Leider muss man am Sonntag damit rechnen, dass es im Vorfeld, während oder nach dem Spiel zu Auseinandersetzungen kommt", sagt sie.

Sperrzone, Stadion- und Fanmarschverbot

Aus diesem Grund haben Polizei, Stadt, beide Vereine und Leipziger Fanprojekt in drei Sicherheitskonferenzen einen gewaltigen Aufwand betrieben, der weit über das normale Maß hinaus geht, um das Gefahrenpotenzial zumindest zu minimieren. Rund um das Stadion wird am Sonntag eine Sperrzone errichtet, die nur Personen mit Eintrittskarte passieren dürfen. Gegen 150 polizeibekannte Gewalttäter aus dem Lok-Umfeld, die dort zumeist mit Stadionverbot belegt sind, wurde ein Aufenthaltsverbot verhängt. Ein Fanmarsch der Lok-Anhänger wurde verboten, Anreise für die "Blau-Gelben" ist nur mit Bus-Shuttles möglich. All das wirkt wie eine Zeitreise in den Leipziger Fußball der 1990er und frühen 2000er-Jahre, als Begegnungen rivalisierender Teams regelmäßig in Straßenschlachten zu enden drohten.
Lok-Chef Kesseler hofft nun ebenso wie sein Kollege Frank Kühne, Vorstandsvorsitzender der BSG Chemie, dennoch auf ein friedliches Spiel. "Wir schätzen uns als geliebte Rivalen", sagt Kesseler. "Aber diese Rivalität sollte trotz aller Emotionen auf dem Rasen und auf den Rängen friedlich ausgetragen werden." Kühne verteidigt die Entscheidung, nicht im Zentralstadion zu spielen, das jetzt Red-Bull-Arena heißt. "Dann hätten wir uns als Außenseiter die Chance genommen, sportlich für eine Überraschung zu sorgen", sagt er. Außerdem hätte eine Ansetzung in der 43.000-Zuschauer-Schüssel "Klientel aus ganz Deutschland angezogen, das uns nicht wohlgesonnen ist". Diese Einschätzung teilt auch die Leipziger Polizei.
Die Begeisterung für das Lokalduell ist Kühne trotz des gewaltigen Aufwands im Vorfeld nicht abhanden gekommen. Der Autohändler hat die Derbys in den vergangenen Jahrzehnten alle miterlebt. "Für uns ältere Chemie-Fans ist es das erste echte Derby nach der Wende", sagt er. "Das sind zwei Traditionsvereine, die über 50 Jahre über mehrere Generationen gewachsen sind. Deswegen pulsiert das auch so."

Talentschmiede RB Leipzig

Auch Kühne weiß, dass Chemie ebenso wie Lok von der Nachwuchsarbeit des großen Nachbarn RB Leipzig profitieren wird. Bereits jetzt spielen Kicker aus der RB-Nachwuchsschmiede bei beiden Klubs. Dennoch setzt er bewusst auf den Gegenentwurf: "Der heutige Fußball, bei dem bis zum Klodeckel alles vermarket wird, findet hier nicht statt", sagt er. "Hier sind Emotionen erlaubt, hier ist man unmittelbar am Platz dran, die Spieler hören, wenn ein Zuschauer etwas sagt. Das hat einfach seinen Reiz, ist etwas völlig anderes, als in einer großen Betonschüssel."
Kühne hofft auf einem "packenden Fight mit viel Herzblut", betont aber: "Wenn es friedlich bleibt, sind alle beide Vereine Gewinner – egal, wie es ausgeht." Wenn nicht, ist der Gegenentwurf der Gewinner – RB Leipzig.