Samstag, 17. Oktober 2015

Interessantes aus der NZZ

Die FPÖ will die Grenzen schließen, der bayerische Ministerpräsident im Notfall Flüchtlinge nach Österreich zurückweisen. Würden diese Maßnahmen den Zustrom einschränken? Wahrscheinlich schon. Sie sind aber rechtlich und praktisch nicht umsetzbar. 
 
FPÖ-Chef Heinz Christian Strache hat in den vergangenen Wahlkämpfen die Forderung erhoben, die österreichischen Grenzen zu schließen, damit keine Flüchtlinge mehr ins Land kommen. Was genau damit gemeint ist, blieb meist unklar. Nachdem ohnehin schon Grenzkontrollen durchgeführt werden, kann aber eigentlich nur die Sicherung der Grenze durch Polizei oder Bundesheer bzw. überhaupt die Errichtung einer Art Barrikade, eines Grenzzauns nach ungarischem Vorbild, gemeint sein.
Rückenwind verspürte das Zaun-Lager jüngst durch die Ankündigung des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer, im Notfall alle Flüchtlinge einfach an der Grenze zu Österreich zurückzuweisen. Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière verkündete bald darauf, dass CDU und CSU nun für spezielle Transitzonen an der Grenze eintreten.
Aber wäre das alles überhaupt erlaubt? Und was würde es für Österreich bedeuten, wenn Bayern und die deutsche Bundesregierung ihre Pläne verwirklichen?

Option 1: Grenzzäune

Wer verhindern will, dass Flüchtlinge auf sein Territorium gelangen, müsste die Grenze befestigen. Ein Schlagbaum an der Autobahn und die Einstellung des Zugverkehrs reichen dazu nicht aus. Man würde hunderte Kilometer Grenzzaun brauchen, garniert mit Stacheldraht, bewacht von Polizei oder Militär, um zu verhindern, dass jemand darüberklettert, sich drunter hinweggräbt oder mit der Zange durchlöchert.
Alleine die österreichische Grenze zu Bayern ist hunderte Kilometer lang. Und wenn es Österreich ernst meinte, müsste es die Grenze von Ungarn bis ans slowenisch-italienische Dreiländereck auf diese Weise verbarrikadieren. Die Idee ist praktisch kaum umzusetzen. In Innen- und Verteidigungsministerium liegen genau aus diesem Grund nicht einmal Planspiele für diesen Fall in der Schublade. Sagen zumindest die beiden Ministerien.

Zaunverbot im Schengenland

Es wäre wohl auch rechtlich gar nicht möglich. Österreich ist in den Schengenraum eingebettet. „Wenn zum Beispiel Ungarn an seiner Schengen-Außengrenze einen Zaun baut, sogar mit Stacheldraht, ist das grundsätzlich keine Verletzung des Schengener Abkommens, weil alle Staaten verpflichtet sind, die Außengrenzen zu kontrollieren“, sagt Walter Obwexer, Professor für europäisches Verfassungsrecht an der Universität Innsbruck.
Anders sähe das an den Landesgrenzen innerhalb des Schengenraums aus. „Würde Ungarn dasselbe an einer Binnengrenze zu Slowenien machen, wäre das offenkundig schengenwidrig“, sagt Obwexer. „Im Schengenkodex steht, dass die Binnengrenzen immer von jedem überschritten werden dürfen.“ Ein Zaun würde dieses Recht beschränken. Grenzkontrollen dürfen zwar vorübergehend wieder eingeführt werden, aber keine fixen, ständigen Grenzschutzeinrichtungen.

Option 2: Zurückweisung

Wenn also die Grenzen nicht „dichtgemacht“ werden können, dürfte dann Bayern Flüchtlinge im Falle ihres Aufgriffs an der Grenze einfach zurückweisen? Dieses Szenario gilt als unwahrscheinlich, denn Bayern würde damit gegen geltendes Recht verstoßen. In der Aufnahmerichtline der EU steht, dass ein Mitgliedstaat einem Flüchtling ein Verfahren zugestehen muss, wenn er um Asyl bittet. Der Staat hat dabei Mindestanforderungen zu erfüllen. Das impliziert, dass er so ein Verfahren nur garantieren kann,  wenn sich der Asylwerber auf dem eigenen Hoheitsgebiet befindet. Außer es existieren einschlägige Verträge zwischen zwei Staaten, wie aktuell zwischen Österreich und der Slowakei, die einige hundert Asylwerber unterbringt, während ihr Verfahren in Österreich läuft.
Dass Deutschland Asylanträge vermeiden könnte, indem es verhindert, dass Flüchtlinge das Hoheitsgebiet betreten, dürfte auch nicht funktionieren. Denn in der Aufnahmerichtlinie der EU ist festgehalten, dass ein Asyl auch „an der Grenze“ beantragt werden kann. Laut EU-Verfassungsrechtler Obwexer bedeutet das Folgendes: Ein Flüchtling kann auf österreichischem Gebiet stehen und dem deutschen Polizisten über die Grenze hinweg zurufen, dass er um Asyl in Deutschland ansucht. Dann wäre er nach geltendem EU-Recht ins Land zu lassen.

Option 3: Transitzonen

Die nächste von den Deutschen erwogene Option wäre die realistischere: Seehofer und der deutsche Innenminister Thomas de Maizière haben sich für sogenannte Transitzonen an den Landesgrenzen ausgesprochen. Als Vorbild würden Transitzonen in Flughäfen dienen, Asylwerber würden dort für die Dauer ihres Verfahrens festgehalten. Dabei würden wahrscheinlich sogenannte Fast-Track-Verfahren eingesetzt werden, die der schnellen Klärung der Frage dienen, ob das Herkunftsland des Flüchtlings als sicher anzusehen ist, oder ob ein Asylgrund von vornherein wahrscheinlich nicht vorliegt. In Österreich gibt es diese Verfahren bereits, sie dauern etwa zehn Tage und sind durch EU-Recht gedeckt.
Aber auch nach einem solchen Verfahren könnte Bayern die abgelehnten Asylwerber nicht einfach nach Österreich zurückschicken, ein Schengen-Mitgliedstaat muss solche Personen direkt in ihre Herkunftsländer befördern.

Rechtsbruch ohne Folgen

Deutschland kann also Asylwerber kaum nach Österreich zurückweisen, ohne EU-Recht zu brechen. Aber es ist ja nicht so, dass in den vergangenen Wochen alle Regeln eingehalten worden wären. Auch Österreich handelt offen widerrechtlich, wenn es erlaubt, dass Nicht-EU-Bürger ohne Asylantrag oder gültiges Visum durch sein Territorium reisen. Dasselbe gilt für Ungarn und Griechenland.
Deutschland könnte sich natürlich ebenfalls über geltendes Recht hinwegsetzen. Wer soll es daran hindern? Die EU-Kommission müsste ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, an dessen Ende Geldstrafen und andere Sanktionen stünden. Aber solche Verfahren dauern in der Regel drei bis fünf Jahre. Deutschland könnte zum Beispiel ein Jahr lang Flüchtlinge zurückweisen, ein Vertragsverletzungsverfahren in Kauf nehmen, und, bevor das erste Urteil gefällt wird, die rechtmäßige Situation wiederherstellen. Dann würde nicht einmal eine Strafe fällig.

Die EU-Kommission schaut zu

Die Situation zeigt einmal mehr, wie die EU vom guten Willen ihrer Mitgliedstaaten abhängig ist. Und wie geltendes Recht mit der Krise überhaupt nicht mehr zurandekommt. Die EU-Kommission hätte bereits mehrere Vertragsverletzungsverfahren, auch gegen Österreich, anregen müssen. Entgegen ihrer üblichen, sehr strengen Praxis hat sie sich zurückgehalten. Unter anderem auch deshalb, weil sie weiß, dass EU-Asylregelungen wie Dublin III derzeit in der Praxis nicht einzuhalten sind.
Es sei bedenklich, wenn seitens der EU-Kommission nichts unternommen wird, sagt Walter Obwexer. „Die Union beruht auf dem Recht und der Einhaltung des Rechts, und wenn die Grundsätze ins Wanken geraten, dann geraten auch die Fundamente der Union ins Wanken.“

Der Aufstieg der Signalpolitik

Dass ausgerechnet Deutschland, die größte Volkswirtschaft der Union mit Anspruch auf die politische Führungsrolle, gezielt EU-Recht brechen würde, darf bezweifelt werden. Mit der Einrichtung von Transitzonen könnte Berlin allerdings Maßnahmen einführen, die zwar keinen legitimen Asylwerber daran hindern würden, ins Land zu gelangen, die aber gleichzeitig als Signal an alle gerichtet verstanden würden, die noch vorhaben zu kommen: nicht nach Deutschland, dort wird jetzt kontrolliert.

Rückstau in Österreich

Die Grenzkontrollen haben jedenfalls nicht dazu geführt, dass Menschen in Österreich auf Dauer festsitzen. Das bayerische Innenministerium hat NZZ.at die Zahl der polizeilich aufgezeichneten Grenzübertritte von Flüchtlingen seit 3. Oktober übermittelt. Die Zahlen entsprechen grob jenen der Landespolizeidirektion Burgenland, die die Ankünfte in Nickelsdorf und Heiligenkreuz zählt. Zu beachten ist eine Dunkelziffer nicht erfasster Personen.
 
Was sich seit den Kontrollen geändert hat, ist, dass sich ein Rückstau gebildet hat. Jede Nacht verbringen tausende Flüchtlinge in Österreich in Notquartieren, bis sie nach kurzer Erholung weiterreisen.
Noch reichen die Kapazitäten aus. Das größte Problem für Österreich wäre ein Rückstau durch neue Maßnahmen in Deutschland, der nicht mehr bewältigbar ist, auch wenn die Grenze zu Bayern nicht geschlossen werden kann.

Vorbereitungen in Österreich und Brüssel

Es gebe für verschiedene Szenarien bereits Pläne und Vorkehrungen, sagt Hermann Muhr, Sprecher von Innenministerin Johanna Mikl-Leitner. Man wolle sie aber nicht medial kommunizieren. „Wie mögliche Transitzonen in Deutschland ausgestaltet sein könnten, ist auch noch nicht klar.“
 
Inzwischen arbeitet die Kommission an einer neuen Regelung des europäischen Asylsystems. Es wird aber noch bis nächstes Jahr dauern, bis ein Vorschlag auf dem Tisch liegt. Bis dahin heißt es improvisieren und auf ein Nicht-EU-Mitglied hoffen: die Türkei.
 
Denn gestern hat Johannes Hahn, der EU-Kommissar für Europäische Nachbarschaftspolitik, eine Übereinkunft in den Verhandlungen um einen Aktionsplan mit der Türkei verkündet. Im Gegenzug zur Eindämmung des Zustroms sollen Finanzhilfen fließen, der Zugang zu EU-Visa erleichtert und EU-Beitrittsverhandlungen wiederaufgenommen werden. Es ist nicht zuletzt der Preis dafür, dass Europas Asylregelungen der Krise nicht gewachsen sind. Und von einer neuen gemeinsamen Linie ist die Union noch weit entfernt.