Samstag, 22. Februar 2014

Janukowitschs Rückzugsgefecht ?

Ukraine: Nach Einigung mit Opposition soll Timoschenko freigelassen werden

Innenminister wird entlassen - Übergangsregierung und vorgezogene Präsidentenwahl geplant - Parlament beschließt Rückkehr zu Verfassung von 2004

Fast ohne Unterbrechung hatten die Vertreter der Opposition, der EU und Russlands seit Donnerstagfrüh in Verhandlungen mit Präsident Wiktor Janukowitsch versucht, einen Weg aus der Krise zu finden. Am Freitagnachmittag un­terschrieben Janukowitsch und die Oppositionsführer Arseni Jazenjuk, Witali Klitschko und Oleg Tjanibok ein Abkommen. Diesem hatte zuvor auch der "Bürgerrat" der Demonstranten auf dem Maidan zugestimmt. Die Vereinbarung sieht vorgezogene Präsidentschaftswahlen, die Bildung einer Übergangsregierung und die Rückkehr zur Verfassung von 2004 vor. Der letzte Punkt wurde schon kurz danach durch einen fast einstimmigen Parlamentsbeschluss umgesetzt. 
 
Shakehands nach der Unterschrift: Witali Klitschko mit Präsident Viktor Janukowitsch.

Eine große Überraschung war eine Gesetzesänderung, mit der die Freilassung der ehemaligen Re­gierungschefin Julia Timoschenko in die Wege geleitet wurde: Die Oberste Rada stimmte dafür, die Vorwürfe gegen die ehemalige Ministerpräsidentin nicht mehr als Straftaten zu werten. Die Galionsfigur der Orangen Revolution sitzt seit zweieinhalb Jahren in Haft. Sie war 2011 wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt worden. 
Das Gesetz muss noch von Janukowitsch unterschrieben werden; dazu hat er drei Wochen Zeit. Timoschenkos Anwalt Sergej Vlasenko war deshalb im Gespräch mit dem Standard vorsichtig: "Die vergangenen Jahre haben gezeigt, wie sehr Janukowitsch taktiert. Er hat viel versprochen und nichts eingehalten." Und auch Timoschenkos Tochter Jewgenija sagte telefonisch zum Standard: "Wir haben noch einen langen Weg vor uns und haben immer noch alle Hände voll zu tun, um sie aus dem Gefängnis zu befreien."
Die Menschen auf dem Maidan nahmen die Meldung zu Timoschenko mit großem Jubel auf. Eine Gruppe Studentinnen kommentierte: "Sie ist die Einzige, die uns nach Europa führen wird." Für Ludmilla, eine Pensionistin, steht fest: "Der Tag, an dem Julia das Gefängnis verlässt, ist Janukowitschs letzter Tag im Amt des Präsidenten. Wenn sie freikommt, dann erhebt sich das gesamte Land!" Das mögen auch die Befürchtungen des Präsidenten sein. Die EU und die USA haben den Prozess und die Haftstrafe stets als politisch motiviert kritisiert. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hatte die Verurteilung als willkürlich bezeichnet und die Freilassung Timoschenkos gefordert.

Innenminister abgesetzt

Mit großer Mehrheit beschloss das Parlament eine Amnestie für alle Teilnehmer an den jüngsten Protesten. Außerdem wurde In­nenminister Witali Sachartschenko abgesetzt. Ihn macht die Opposition für die massive Gewaltanwendung durch die Sicherheitskräfte verantwortlich.
Die Einigung stand lange auf der Kippe. Die politische Opposition hatte in der Nacht bereits mit dem Abbruch der Verhandlungen gedroht. Die EU-Außenminister versuchten am Vormittag fieberhaft, das Paket über eine Einigung festzuzurren. Im Hotel Radisson in der Altstadt beriet sich der deutsche Chefdiplomat Frank-Walter Steinmeier mit seinen Mitarbeitern und telefonierte mit Berlin.
Zur gleichen Zeit erklärten 31 Parlamentsabgeordnete der regierenden Partei der Regionen, sie würden innerhalb der Fraktion eine eigene Gruppe bilden. Anführen soll den Block der ehemalige Wirtschaftsminister und Präsidentschaftskandidat von 2010 Sergej Tigipko. Experten bewerten den Schritt unterschiedlich. Tigipko gilt als Premier-Kandidat in einer Übergangsregierung. Es könnte sein, dass er seine Eigenständigkeit herausstellen will, es ist aber auch denkbar, dass es sich um bloße Kosmetik handelt.
Russlands Vermittler Wladimir Lukin reiste am späten Freitagvormittag ab. Im Gegensatz zu Steinmeier und dessen polnischem Kollegen Radoslaw Sikorski hatte er das Abkommen nicht unterzeichnet. Neben Lukin als offiziellem Vertreter sei Wladislaw Surkow, enger Berater von Kreml-Chef Wladimir Putin, heimlich nach Kiew gereist, berichten ukrainische Medien. Ein TV-Journalist wurde mit den Worten zitiert: "Ich habe persönlich mit Surkow in Kiew gesprochen; das ist erst ein paar Tage her."  

Putin telefoniert mit Obama

Der russische Präsident Wladimir Putin und US-Präsident Barack Obama haben Freitag Abend bei einem Telefonat ihre Hoffnung auf eine rasche Stabilisierung der Lage in der krisengeschüttelten Ukraine geäußert. Putin habe bei dem Gespräch betont, dass besonders die Auseinandersetzung mit der radikalen Opposition wichtig sei.
Am Freitag bot sich im Zentrum Kiews unter anderem folgendes Bild: Auf dem Boulevard Kreschtschatik, der zum Maidan (Unabhängigkeitsplatz) führt, standen reihenweise Fahrzeuge, Pkws und Lieferwagen, alle mit Nummern­tafeln aus der Westukraine: Ternopil, Iwano-Frankiwsk, Lwiw (Lemberg). Unzählige Polizisten aus westlichen Landesteilen trafen ein. Frei­mütig gaben sie in der City Auskunft: "Ja, wir sind hierhergekommen, um die Menschen zu beschützen; das ist schließlich unser Job", sagte ein Polizist aus Iwano-Frankiwsk.
Am späten Freitag Abend soll es außerhalb des Kiewer Stadtzentrums zu einer Schießerei zwischen der "Berkut"-Einheit des Innenministeriums und den Samoobarona-Truppen der Opposition gekommen sein. Dabei sollen zwanzig Polizisten gefangengenommen worden sein.

Janukowitsch soll Kiew verlassen haben

Am Abend verbreiteten sich auch Gerüchte, Janukowitsch habe Kiew Richtung Charkiw verlassen. Dort ist an diesem Samstag ein Kongress der regierenden Partei der Regionen geplant. Daran könnte Janukowitsch teilnehmen wollen. Der Ex-Sowjetrepublik könnte im Ernstfall eine Spaltung drohen. Die Partei hatte bereits 2004 über eine Abspaltung vom pro-europäischen Westen des Landes diskutiert.
Bei den gewaltsamen Zusammenstößen in Kiew wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums seit Dienstag 77 Menschen getötet. (Nina Jeglinski aus Kiew /DER STANDARD, 22.2.2014)
 
Auch sonst soll sich die Lage in Kiew laut Augenzeugen etwas beruhigt haben.
Am Maidan gehen die Proteste weiter.
20. Februar: Ein Regierungsgegner hisst am Maidan die ukrainische Flagge.