St. Pauli: Hallenturnier mit Folgen
Nach den Ausschreitungen beim Hamburger Hallenturnier am 6. Januar machten Polizei und zahlreiche Medien »gewaltbereite Fans« als Schuldige aus – eine Darstellung, gegen die sich der FC St. Pauli und die Fans wehrten. Eine unabhängige Untersuchungskommission soll die Ereignisse jetzt prüfen. Ein Gastbeitrag von Publikative.org.
Nach den Ausschreitungen beim Hamburger Hallenturnier am 6. Januar machten Polizei und zahlreiche Medien »gewaltbereite Fans« als Schuldige aus – eine Darstellung, gegen die sich der FC St. Pauli und die Fans wehrten. Eine unabhängige Untersuchungskommission soll die Ereignisse jetzt prüfen. Ein Gastbeitrag von Publikative.org.
Patrick Gensing, Andrej Reisin | 17.01.2012
Eigentlich sollte am 14. Januar 2012 ein St.-Pauli-Fan-Fußballturnier steigen, und zwar in der Alsterdorfer Sporthalle in Hamburg, wo eine Woche zuvor der traditionsreiche »Schweinske-Cup« – benannt nach dem Sponsor, einer Restaurantkette – ausgetragen worden war. Zumindest einen Tag lang. Die Vorkommnisse beim Hallenturnier und deren Darstellung durch Polizei und viele Medien haben die Fans des FC St. Pauli in den vergangenen Tagen weiter beschäftigt. Der Verein arbeitete in einer Stellungnahme die Ereignisse sehr detailliert auf und machte Fehler der Polizei für die Eskalation verantwortlich. Die Fans wollen eine weitere Aufarbeitung und setzten daher statt Fanklubturnier am vergangenen Samstag ein offenes Treffen an, um über die Vorfälle sowie die Konsequenzen daraus zu diskutieren. Rund 300 Fans und Interessierte folgten dem Aufruf, darunter auch ein Überraschungsgast: Der Hamburger Innensenator Michael Neumann erschien bei dem Treffen im »Centro Sociale« in St. Pauli und meldete sich ebenfalls zu Wort. Er sei als Privatmann gekommen, so der SPD-Politiker, ohne Personenschützer, weil er ein eigenes Interesse habe, das Geschehen beim Schweinske-Cup aufzuarbeiten. »Das ist nicht alles richtig gelaufen«, kommentierte Neumann im Hinblick auf den Polizeieinsatz, bei dem es Dutzende Verletzte durch Knüppel und Tränengas gegeben hatte. Der Innensenator drückte sein Bedauern aus: »Es tut mir um jeden Verletzten leid«, so Neumann wörtlich. Untersuchungskommission beschlossen Wie bereits am Donnerstag bekannt geworden war, wird es auf politischer Ebene einen Arbeitskreis unter Beteiligung von Politik, Polizei, Vereinen und Fanvertretern geben, der helfen soll, zukünftige Eskalationen zu vermeiden. Die versammelten Fans gingen am Samstag trotz dieser Ankündigung allerdings einen eigenen Schritt: Als Konsequenz aus den sehr widersprüchlichen Angaben von Polizei und großen Medien auf der einen und der Darstellung von Fans und Verein auf der anderen Seite, beschlossen sie, ihre Vertreter und Gremien mit der Bildung einer unabhängigen Untersuchungskommission zu beauftragen, selbst »auf die Gefahr hin, dass dann dort am Ende auch Dinge festgestellt werden, die für uns nicht angenehm sein könnten«, wie ein Redner es ausdrückte. Nach Informationen von Publikative.org sollen renommierte Wissenschaftler und Juristen die zahlreichen Augenzeugenberichte und offiziellen Darstellungen auswerten und so das Geschehen rekonstruieren. Mit diesem Schritt könnten die St.-Pauli-Fans Maßstäbe setzen und Vorbild für andere Fanszenen werden, die entsprechenden öffentlichen Druck auf ihre jeweiligen Vereine sowie Polizei und Medien aufbauen können. Reality Check für Polizei und Medien Zahlreiche Augenzeugen in der Halle hatten bereits unmittelbar nach den Ereignissen vom 6. Januar das Handeln der Polizei und die mediale Darstellung der Ereignisse massiv kritisiert. Dutzende Augenzeugen fertigten mittlerweile Gedächtnisprotokolle an: So schrieb ein Vater von zwei Jugendlichen, die das Turnier besucht hatten, in einem Brief an den Innensenator, der Publikative.org vorliegt, seine Kinder seien von der Polizei »angegriffen und verletzt, und nicht, wie es ihre Aufgabe gewesen wäre, vor Gewalttätern geschützt« worden. Auch andere Augenzeugen erheben schwere Vorwürfe gegen die Einsatzleitung und werfen zahlreiche Fragen auf: So bleibt nach wie vor unklar, warum die Polizei die relativ überschaubare Gruppe von Lübecker Fans, die erkennbar die Auseinandersetzung suchten, zunächst scheinbar relativ freizügig gewähren ließ – und sich dann stattdessen der auch polizeitaktisch deutlich »komplizierteren« Aufgabe widmete, gegen rund 1.000 St. Pauli Fans vorzugehen, von denen nach Angaben der Polizei 230 gewalttätig waren. Publikative.org hat bereits dargelegt, warum es aufgrund der Turnierhistorie und der übereinstimmenden Augenzeugenberichte keinerlei Zweifel daran geben kann, wer die Auseinandersetzung suchte – und mit dem Rufen rassistischer Parolen, dem zumindest mutmaßlichen Zeigen des Hitlergrußes und dem Raub von drei Blockfahnen auch entsprechend dokumentierte. Ultrà Sankt Pauli hat in einer sehr ausführlichen Stellungnahme deutlich gemacht, auf wie vielen Ebenen diejenigen, die jetzt als »Gewalttäter« denunziert werden sollen, sogar in die Organisation des Turniers einbezogen waren. Die Behauptung der Polizei, beide Seiten hätten sich ausgerechnet dort gezielt zur Gewalt verabredet, wirkt deshalb unglaubhaft. »Es gab am gesamten Abend nur wenige Sekunden Kontakt zwischen den Fans beider Mannschaften – nahezu alle der laut Medienberichten rund 90 Verletzten sind durch die völlig entfesselte Gewalt der Einsatzkräfte zu Schaden gekommen. Die Dunkelziffer der durch Pfefferspray verletzten Fans dürfte deutlich höher liegen«, so Ultrà Sankt Pauli. Damit treffen die Ultras des Pudels Kern, der den meisten Medienvertretern bei nahezu sämtlichen Polizeieinsätzen gegen Fußballfans permanent entgeht: Es ist für ein demokratisches Gemeinwesen schlechterdings nicht hinnehmbar, dass die Polizei permanent für mehr Gefahr und mehr Verletzte sorgt als die vermeintlichen oder tatsächlichen Gewalttäter. Taten müssen folgen Der Hamburger Innensenator Neumann appellierte trotzdem an die Fans des FC St. Pauli, nicht in Feindbildern zu denken. So wie es in der Fanszene einzelne Problemfälle gebe, sei auch die große Mehrheit der Polizisten anständig und ärgere sich genauso über die Vorfälle. Auch mehrere Fans und deren Vertreter äußerten den Wunsch, mit der Polizei ins Gespräch zu kommen, um Konflikte zu entschärfen. Neumann erwähnte, dass nach Anzeigen auch bereits zwei Ermittlungsverfahren gegen Polizisten liefen. Abzuwarten bleibt indes, ob diese nicht wie zumeist üblich im Sande verlaufen. Amnesty International beklagt seit Jahren, dass Polizeigewalt in Deutschland praktisch nie verfolgt wird – und selbst wenn, kommt es nur äußerst selten zu strafrechtlichen Konsequenzen für die vom Apparat gut geschützten Beamten. Sollte der Auftritt Neumanns daher nicht nur zu PR-Zwecken erfolgt sein, könnte er zum Beispiel darüber nachdenken, eine ständige unabhängige Kommission einzuführen, die sich mit Beschwerden und Anzeigen gegen Polizisten beschäftigt und eigenständig ermittelt. Nicht nur, dass eine solche Institution in anderen europäischen Ländern wie Schweden und Großbritannien längst zum demokratischen Standard gehört, auch Hamburg hatte ein solches Organ nach zahlreichen Skandalen bereits einmal. Unter der Regierungskoalition von CDU und den Rechtspopulisten der Schill-Partei wurde sie 2001 abgeschafft – und damit bewusst ein Signal an bestimmte Beamte gegeben, Knüppel und Pfefferspray freien Lauf zu lassen. Die Polizeiarbeit in Hamburg hat sich unserer Meinung nach in den letzten zehn Jahren jedenfalls nicht verbessert – ganz im Gegenteil: Wie eigentlich überall, wo demokratische Kontrolle und unabhängige Evaluation fehlen, wird ein schlechter Job gemacht. Eine Binsenweisheit, der sich zwar mittlerweile jeder Grundschullehrer unterwerfen muss, nur auf der Insel der Polizei reicht es offenbar immer noch, wenn man seinen Job »irgendwie« macht. Nach der Qualität wird bislang kaum gefragt – leider in aller Regel auch nicht von den Medien. Angesichts dessen, wie wichtig die Institution Polizei für die Legitimation des staatlichen Gewaltmonopols ist, ein mehr als beklagenswerter Zustand: Wer als Jugendlicher nämlich in oben beschriebener Weise unbeteiligt von der Polizei bedroht, verfolgt und verletzt wird, dessen Vertrauen in diese Institution ist für Jahre erschüttert oder für immer verloren – kein Gewinn für Demokratie und Rechtsstaat. Zweifelhafter Auftritt vor dem Innenausschuss Besonders zweifelhaft wirkt der Auftritt des Leiters der Zentraldirektion der Hamburger Polizei, Kuno Lehmann, vor dem Innenausschuss des Hamburger Stadtparlaments zu den Vorfällen. Er hatte unter anderem angegeben, St. Pauli-Fans hätten die Krawalle begonnen und 20 unbeteiligte Jugendliche an einem U-Bahnhof verprügelt. Nach uns vorliegenden, übereinstimmenden Berichten ist diese Darstellung nicht haltbar: Nach Informationen von Publikative.org soll es sich nicht um 20 unbeteiligte Jugendliche, sondern um sechs bis acht Männer Anfang bis Mitte 20, die am U-Bahnhof Lattenkamp »Scheiß St. Pauli« skandierten, wobei sie die Zahlenverhältnisse auf dem Bahnhof massiv falsch einschätzten und schließlich unter den Augen der Polizei in eine Schlägerei gerieten. Die Polizei äußerte sich auf Nachfrage unter Hinweis auf laufende Ermittlungen nicht klar zu dem Vorfall, es habe in diesem Zusammenhang aber eine Festnahme wegen Körperverletzung gegeben. Zur Erläuterung: Hamburgs Bahnhöfe sind kameraüberwacht – der Unterschied zwischen »20 unbeteiligten Jugendlichen« und sechs bis acht erwachsenen Männern, die möglicherweise nicht ganz so »unbeteiligt« waren, sollte sich problemlos aufklären lassen. Im Hinblick auf den Abtransport der Lübecker Gruppe aus der Halle widersprach Lehmann sogar der bisherigen polizeilichen Darstellung, als er behauptete, diese hätte sich »aus Angst um ihr Leben« an die Polizei gewandt. Die Einsatzleitung am betreffenden Abend hatte dagegen noch davon gesprochen, dass man polizeiliche Zwangsmaßnahmen habe anwenden müssen, um die Gruppe aus der Halle und in die Busse zu bringen. Später korrigierte die Polizeipressestelle Lehmann dahingehend, dass die Lübecker zunächst darum gebeten hätten, die Halle zu verlassen, dann aber vor derselben wieder St.-Pauli-Fans angreifen wollten und deshalb mit Gewalt daran gehindert werden mussten. Da sich dieselbe Gruppierung in der Halle unter Bezugnahme auf eine der erbeuteten Fahnen noch mit »Ramba Zamba«-Gesängen selbst feierte, ebenfalls eine schwer zu glaubende Version. Mittlerweile beschäftigt sich die Staatsanwaltschaft mit zwei weiteren Anzeigen: Die Abgeordnete der Partei Die Linke, Christiane Schneider, zeigte einen unbekannten Lübeck-Fan an, der einen Hitlergruß gezeigt hatte, und der Zentralrat der Sinti und Roma stellte zudem Anzeige wegen der Parole »Zick zack Zigeunerpack«, die vonseiten der Lübecker Gruppe skandiert worden sein soll. Die Polizei hat bisher nicht überzeugend darlegen können, warum sie weder gegen Nazi-Parolen noch gegen den »erfolgreich« begangenen Raub eingeschritten ist, stattdessen aber die halbe Halle in ein Pfefferspraykampfgebiet verwandelte. Zu diesem Themenkomplex hat die Fraktion der Linkspartei deshalb eine Anfrage an den Hamburger Senat gestellt. Appell an die Verantwortung aller Beteiligten Auf ihrer Veranstaltung diskutierten die Fans auch über den Umgang mit Gewalttätern in den eigenen Reihen und Konzepte, wie man auf überzogene Polizeieinsätze reagieren sollte. Ein Redner betonte, dass der Verzicht auf Gewalt nicht damit zu verwechseln sei, »die andere Wange hinzuhalten« – und verwies auf bestehende Deeskalationskonzepte, wie sie zum Beispiel von der Anti-Atomkraft-Bewegung bei Castor-Transporten praktiziert werden, die friedlich, aber dennoch effektiv seien. Ein anderer Vertreter erinnerte daran, dass man mit der sinnlosen und nicht zu gewinnenden Auseinandersetzung mit der Polizei auch immer andere Fans gefährde und jeder Einzelne sich so verhalten müsse, dass er dieser Gesamtverantwortung auch gerecht wird – ein Hinweis, der auch in der Debatte um Pyrotechnik immer wieder auftaucht. Viele Wortbeiträge beschäftigten sich zudem mit der medialen Darstellung von Fans. Ein anwesender Blogger stellte die These auf, dass viele Medien durch das verzerrte Bild von Fans und insbesondere Ultras das Gewaltproblem verschärfen, da sich ein bestimmtes Klientel dadurch erst ermutigt fühle, sich diesen Gruppen anzuschließen. Das Monster, das man vermeintlich zu bekämpfen suche, werde dadurch größer und größer – ein Hinweis, der im Hinblick auf das ethische Gebot der Presse, möglichen Schaden zu minimieren, von größter Bedeutung ist. Die differenzierte Diskussion vergrößert die Kluft zwischen medialer Darstellung und der Realität von Fußballfans. Rund zwei Stunden wurde offen diskutiert – und auch der Innensenator Neumann wurde kritisch, aber sachlich befragt, ohne befürchten zu müssen, von den »Chaoten« angegangen zu werden. Selten wurde deutlicher, wie kontraproduktiv und sinnlos populistische Law-and-Order-Politik und wie vielversprechend offene Kommunikation und gegenseitiger Respekt sind, um Konflikte zu lösen.
Dieser Artikel erschien zuerst bei http://www.publikative.org/