Dienstag, 24. Januar 2012

Buchrezension

CANI SCIOLTI – Streunende Hunde



Ein Buch eines Ultras. Ein Buch für Ultras. So wird das Ganze beschrieben und von den diversen einschlägigen Medien hochgejubelt. Sei es in „Blickfang Ultra“ oder anderen Medien, überall wird Domenico Mungo für dieses Buch, dessen Geschichten eher von anderen denn von Ihm stammen bejubelt und als Buch eines letzten Rebellen – „Sonntagskrieger“ wird dieser Typ von Fan im Buch tituliert – verkauft. Soweit, So Gut.
Was mich – und ich habe gerade mal 80 Seiten* des 320 Seiten Buches gelesen – etwas sauer aufstösst ist der leicht weinerliche Ton, in dem er seine Fahrt ins Exil beschreibt sowie die – unterschwellig subtilen – Versuche, die Ultras und ihr Tun zu verteidigen, indem man immer von dem „Feind“ – gemeint ist die Polizei – schreibt, den man bekämpfen muss weil er einem seine anarchistische Lebensweise einengen und in soziale Regeln (man kann auch Gesetze dazu sagen) verpacken will. Zwar versuchen die oben besprochenen Medien immer wieder dieses Buch als etwas urwüchsiges, unverfälscht Reines zu beschreiben überlesen dabei aber offenbar, dass jeder Text immer einen unterschwellig Schuldigen präsentiert, meist die Polizei oder das Establishment. Man teilt in „gute“ und „böse“ Ultras ein, in „Business-Ultras“ und „Old School Ultras“ wobei für mich der einzige Unterschied darin besteht, dass erstere clever genug sind mit ihrer Selbstdarstellung Geld zu machen und die anderen die „Tescheks“ sind die für ihre Blödheit zahlen müssen.  Ausserdem fällt mir auf, dass die Reise Mungos ins Exil ein wenig wie ein Krimi inszeniert wird, so als ob das der fünfte Teil (oder wars erst der vierte) der BOURNE IDENTITY war, der hier in Buchform herauskam. Ich kann mir ehrlicherweise nicht vorstellen, dass hunderte Carabinieri und DIGOS-Agenten extra wegen eines Ultras der Fiorentina die Bahnhöfe, Flughäfen, Häfen oder Radlverleihstellen observieren, das wäre doch sicher – wenn sie ihn denn haben hätten wollen leichter gegangen. Noch dazu wo er ja zugab, schon seit Wochen beschattet worden zu sein. Ich gehe nicht davon aus, dass die italienische Polizei dümmer als die österreichische ist – eher im Gegenteil – daher meine ich, dass sie, wenn sie zuschlagen hätte wollen sicher nicht gewartet hätte, dass Herr Mungo sich in den Zug Richtung Lugano begibt um dann eine Schnitzeljagd auf ihn eröffen zu können. Da spielt wohl eher eine Prise Selbstinszenierung bzw. Paranoia unter Drogenkonsum eine Rolle.
Das Buch ist sicher amüsant zu lesen und ein Stück italienischer Zeitgeschichte was die Ultras betrifft – so wie I FURIOSI von Nanni Ballestrini. Während aber Ballestrinis Buch keinerlei Erklärungsversuche abgibt und in jenem „Clockwork Orange“ Stil der Droogies jener Zeit schreibt versucht Mungo mit fast literarischem Anspruch eine Art Liebeserklärung für die Bewegung zu zelebrieren die gegenüber I FURIOSI weinerlich daherkommt.
Je länger man das Buch liest, (derzeit bin ich bei Seite 130)* desto mehr zerfasert es in einzelne Berichte und obskure Liebeserklärungen gegenüber dem eigenen Verein, die nur ein Ultra (und ich zähle mich dazu) verstehen kann, der für den normalen Leser aber wohl für immer ein Rätsel bleiben wird. Nach etwa 110 Seiten ist das Buch dann an der Stelle, wo der Autor sich nicht mehr rechtfertigt und Erklärungen abgibt, bzw. wo der anfangs weinerliche Ton aufgrund der gesammelten Werke anderer umschlägt und das Buch Konturen bekommt. Mir kommt es so vor als ob erst die Artikel anderer dazu verwendet wurden, damit Mungo sein Buch über die unangepasste Welt der Ultra so schreiben kann, dass sie viele Szene- und Möchtegernszeneleute beeindruckt.
Die weiteren Schilderungen* – vor allem der 80er und 90er Jahre sind nicht allzu übel, es macht Spass, die Ereignisse von Brüssel 1985 von der italienischen Seite her zu hören, bisher waren da ja eher die britischen Berichte im Umlauf, auch die Berichte über Schlachten, Tote und Racheaktionen als Antwort darauf innerhalb Italiens sind sicher ein Stück Zeitgeschichte, wobei diese Geschichten und Berichte allesamt NICHT vom Autor geschrieben wurden. Mithin schmückt er sich auch da mit fremden Federn (wohl auch mit Wissen und Billigung der eigentlichen Autoren) – insoferne begeistert mich das Buch eher als eine Art „Geschichte der Ultras aus der Sicht einzelner Personen der jeweiligen Szenen“ denn als Buch von Domenico Mungo.
Ein weiteres grosses Kapitel* sind die Heldentaten der Gruppen der Curva Fiesole, eine Erklärung über das Stadion, die Namensgebung und die Entstehung diverser Feindschaften, vor allem zu den „Gobbi“ von „juventus“, welches der Autor nur in Kleinbuchstaben schreibt um seiner Verachtung Ausdruck zu verleihen. Hier orientierte sich der Autor eindeutig an den britischen Hooliganautoren um die Ereignisse in einer Art Moritat zu verfassen, wobei die „Viola“ überall wo sie auftauchten Schrecken und Verwüstung hinterliessen – dies ist wie schon bei den angelsächischen Vorbildern – mehr als nur kritisch zu hinterfragen weil es einfach nicht stimmen kann. Selektive Wahrnehmung und auch als solche zu bewerten.
Etwas anderes, das zwischen den Zeilen jedoch gut herauszulesen ist ist das Verhältnis zwischen den „alten“ Ultras und der jüngeren Generation, bei denen es zu grossen Unterschieden in der Lebenseinstellung kommt. Dabei wird – wie so oft – den Jüngeren vorgeworfen, die Ideale der Bewegung nicht zu verstehen oder zu respektieren und mit ihrer radikalen Einstellung diese in den Untergang führen würden. Im gleichen Atemzug werden aber die Heldentaten der Alten Ultras erzählt die nur den Schluss zuliessen, dass die Jugend von den Alten gelernt hatte und dieselben Dinge, die schon ihre Vorgänger gemacht hatten perfektioniert haben.
Der Schluss wiederum ist gut erzählt, ganz im Stile klassischer Ultraliteratur und versöhnt mit dem weinerlichen Beginn des Buches. Auf jedenfall ein empfehlenswertes Buch für alle, die diese Zeit nicht oder nur ganz zum Schluss erlebt haben. Und eine Warnung an alle, die glauben, bei uns gingen diese Dinge auch so problemlos wie im „Bel Paese“ der 70er bis 90er Jahre.

*) Zum Zeitpunkt der gelesenen Eindrücke verfasste Texte und als solche zu bewerten.
















Gegen das Vergessen

Die Toten im italienischen Fussball

28. April 1963: Der Salernofan Gaetano Plaitano stirbt durch eine Pistolenkugel beim Spiel Salernitana-Potenza

28. Oktober 1979: Der Laziofan Vincenzo Paparelli stirbt an den Folgen eines Schusses aus einer Signalpistole beim Derby Roma-Lazio

21. März 1982: Der Romafan Andrea Vitone erstickt bei einem Brand des Zuges auf der Heimfahrt des AS Roma aus Bologna.

8. Februar 1984: Der Triestinafan Stefano Furlan wird nach der Partie Triestina – Udinese von einem Polizisten zu Tode geprügelt.

20. September 1984: Der Milanfan Marco Fonghessi wird nach dem Spiel Cremonese – Milan von eigenen Fans irrtümlich erstochen, die ihn für einen Cremonafan halten.

29. Mai 1985: 39 Juventusfans sterben beim Massaker von Heysel vor der Partie Juventus – Liverpool.

13. April 1986: Der Romafan Paolo Saroli verbrennt in einem Zugabteil des Romasonderzuges nach der Partie Pisa – Roma.

7. Dezember 1986: Der Sambfan Giuseppe Tomasetti wird während des Spiels Ascoli – Sambenedettese erstochen.

9. Oktober 1988: Der Ascolifan Nazzareno Philippino wird nach dem Spiel Ascoli – Inter mit Baseballschläger so schwer verletzt dass er acht tage später im Krankenhaus stirbt.

3. Januar 1989: Der Cremonesefan Davide Fornaroli fällt nach der Stein- bzw. Baseballschlägerattacke von Bresciafans ins Koma. Dies passierte nach der Partie Brescia – Cremonese.

4. Juni 1989: Der Romafan Antonio De Falchi stirbt auf der Flucht vor Milananhängern an einem Herzinfarkt.

18. Juni 1989: Der Bolognafan Ivan Dall´Olio wird durch einen Molotovcoctail, geworfen von Fiorentinafans so schwer verbrannt, dass 70% seines Körpers Brandwunden aufweisen.

29. November 1992: Zwei Veneziafans (Alberto Zini und Daniele Valerio) werden nach der Heimpartie von Empoli gegen Vicenza durch Polizeikugeln verletzt. Sie warteten dort auf ihren Bus nach Hause.

10. Januar 1993: Der Bergamofan Celesto Colombini stirbt nach einer Polizeiattacke an Herzversagen. Dies passierte nach der Partie Atalanta – Roma. 

30. Januar 1994: Der Acirealefan Salvatore Morchella stirbt bei dem Versuch vor rivalisierenden Messinafans auf einen fahrenden Zug zu springen.

20. November 1994: während der Partie Brescia – Roma wird der Vizepräfekt Giovanni Selmin durch einen Messerstich schwer verletzt. Die Täter waren Fans des AS Roma.

29. Januar 1995: Der Genoafan Vincenzo Spagnolo wird vor dem Spiel Genoa – Milan erstochen.

4. Mai 1997: Der Bresciafan Roberto Bani stirbt nachdem er während der Pause von den Zuschauerrängen stürzt. Dies passierte während der Partie Salernitana – Brescia.

1. Februar 1998: Der Trevisofan Fabio di Maio stirbt an einem Herzinfarkt. Dies passierte nach der Partie Treviso – Cagliari.

23. Mai 1999: Ein von eigenen Fans im fahrenden Sonderzug veranstaltetes Feuer kostete die Salernitanafans Ciro Alfredi, Giuseppe Diodato, Simone Vitale und Vincenzo Ioio das Leben.
Der Zug kam von der Partie Piacenza – Salernitana.

11. Februar 2001: Der Romafan Alessandro Spoletini wird von Polizisten ins Koma geprügelt.

17. Juni 2001: Der Messinafan Antonio Curro wird während der Partie Messina – Catania von einer Papierbombe getroffen, er stirbt vier Taage später.

6. Oktober 2002: Der Fiorentinafan Christian verliert während der Partie Imolese – Fiorentina durch eine in Mannhöhe abgefeuerte Tränengasgranate das linke Auge.

20. September 2003: Der Napolifans Sergio Ercolana fällt auf der Flucht vor der Polizei vom Stadiondach und stirbt zwei Tage später. Es war vor der Partie Avellino – Napoli.

3. Dezember 2006: Der Napolifan Gianluca Chiagas fällt nachdem ihm eine Tränengasgranate am Kopf getroffen hat ins Koma.

28. Januar 2007: Der Samartinesefunktionär Ermanno Licursi stirbt während der „Zehntligapartie“ Samartino – Cancellese an einem Herzinfarkt.

2. Februar 2007: Der Polizist Filippo Raciti stirbt nach der Partie Catania – Palermo.

11. November 2007: Der Laziofan Gabriele Sandri wird an einer Rastation im Auto sitzend von der Polizei erschossen.