Freitag, 15. Juli 2016

Zum Nachdenken

Corinna Milborn 22 Min · Zwei Gedanken zu Nizza (aus meiner Analyse zu Cafe Puls): 

1. Vor ein paar Jahren hätten wir das, was gestern Nacht in Nizza geschah, als Amokfahrt bezeichnet und uns als erstes den psychischen und familiären Hintergründen des Täters gewidmet. Heute kamen in der Nacht schon lange, bevor man das geringste über Tat und Täter wusste, offizielle Stellungnahmen, die von einem Terrorakt sprachen. Dsa führt dazu, dass wir die Tat nun vor dem Hintergrund von IS-Strategien beleuchten. Das ist verständlich, vermutlich richtig - und zugleich gefährlich. Ein Amokfahrer wird als psychisch gestörter Verlierer gesehen. Ein Terrorist wird von vielen als Held gefeiert, von Regierungschef als militärisch ernstzunehmender Feind behandelt und löst mit derselben Tat nicht psychiatrische Gutachten, sondern weltpolitische Akte aus (heute, schon mitten in der Nacht, wenige Stunden nach der Tat: Clinton fordert mehr Geheimdienst-Zusammenarbeit, Hollande kündigt verschärftes militärisches Eingreifen in Syrien an, etc). Wenn also jemand sich selbst und die rundherum in die Luft jagen will, ist das wesentlich atttraktiver geworden, es auch zu tun. 

2. Wenn wir beim Terrorismus-Narrativ bleiben, dem ja vielleicht auch der Täter folgte: Dann sind die Reaktionen ebenso bedenklich. Frankreich hat schon im November den Ausnahmezustand verhängt. Er konnte diese Tat nicht verhindern, wurde nun aber um 3 Monate verlängert. Ebensowenig werden die 10.000 Soldaten, die Hollande nun nach Nizza verlegt, eine solche Tat verhindern können. Und auch die Militärschläge in Syrien nützen nichts gegen einen Mann mit einem LKW, der in seiner eigenen Stadt in eine Menschenmenge fährt. Ich verstehe auch hier den Hang, polizeilich und militärisch zu reagieren - Leute, die schon zu Terroristen geworden sind, muss man auch so begegnen. Aber angesichts eines Täters, der bisher nur durch Kleinkriminalität aufgefallen ist, muss man sich doch fragen: Was kann wirklich verhindern, dass Europäer zu Terroristen werden, die aus Hass gegen das europäische Lebensmodell zu töten bereit sind? Was macht man gegen die, die noch nie aufgefallen sind - und bei denen somit die Polizei keinerlei Hinweise und Handhabe hat, aktiv zu werden? Bei der Antwort landen wir bei Prävention: Der Frage, wie man es verhindert, dass eine signifikante Anzahl von Menschen sich nicht zugehörig fühlt und radikalen Religionspredigern lieber folgt, als Fußball zu spielen, ein Bier zum Feierabend zu trinken oder auf eine Party zu gehen. Sogar sosehr, dass manche diese Dinge zerstören wollen. Dann sprechen wir nicht mehr von 10.000 Soldaten, sondern von 10.000 Sozialarbeiter_innen, Lehrer_innen, Job-Centern, Männerberatungen, Vereinen. Hass, Frust und Intoleranz kann man leider nicht verbieten und per Polizei bekämpfen - und man muss trotzdem dringend etwas dagegen tun.