Alt-Erlaa feiert 40. Geburtstag
Mächtig und klobig sind die Terrassenhochhäuser von Alt-Erlaa. Bis zu 85 Meter ragen die weißen Wohntürme im Süden von Wien in den Himmel. Die gerne als Betonburg beschimpfte Anlage in Liesing übersieht man wohl nicht so schnell. Balkon neben Balkon - Wohnkomfort sieht anders aus - möchte man meinen. Doch dahinter steckt ein ausgeklügeltes Konzept des Architekten.
Glücksfindung im Kollektiv
Architekt Harry Glück stützt sich in seiner Zielsetzung des größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl auf Jeremy Bentham, den Begründer des klassischen Utilitarismus. Anlässlich seines 90. Geburtstages meinte Glück im Februar 2015 in einem Interview für die Tageszeitung „Der Standard“: „Die Grundsätze der Reichen sind einfach: Licht, Luft, Sonne, Nähe zu Natur, Nähe zu Wasser, Mobilität und Möglichkeiten zur Kommunikation. […] Wenn man sich aber umschaut, wird man merken, dass meist nicht einmal diese einfachen Faktoren positiv erfüllt werden.“
Der Architekt folgert daraus, dass dieser Luxus nur zu erreichen sei, wenn er für eine große Zahl konsumierbar sei: „Sonst ist er flächen- und ressourcentechnisch nicht realisierbar.“ Der Architekt Harry Glück, „Doyen des sozialen Wohnbaus“, feierte im Vorjahr seinen 90. Geburtstag. In seinem bekanntesten Projekt, dem Wohnpark Alt-Erlaa in Wien-Liesing, wurde deshalb ein Park nach Glück benannt - mehr dazu in Harry Glück feiert 90. Geburtstag(wien.ORF.at/20.2.2015). Die Stadt Wien ehrte Glück im Jänner 2015 mit dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien - mehr dazu in Ehrenzeichen für Architekt Glück(wien.ORF.at/26.1.2015).
„Qualität aus der Größe“
Stadtplaner Reinhard Seiß präzisiert die Glücksche Grundidee als Plan, aus der Größe eine Qualität zu schaffen, „was dann im Endeffekt zu einer sehr hohen Ausstattungsqualität, einem sehr regen Sozialleben“ führe. Dass die Erfüllung möglichst vieler Parameter nur im Kollektiv zu erreichen sei, davon ist auch Seiß überzeugt: „Dieses Gemeinschaftsleben wäre nicht denkbar in einem Wohnbau mit 200 Wohnungen. Da braucht es 3.000 Wohnungen oder 2.000 Wohnungen.“
Luxus auf Augenhöhe
Am 28. April 1973 erfolgte der Spatenstich für den ersten der drei Blöcke in Alt-Erlaa. Auf einem Gesamtareal von 210.000 Quadratmetern beherbergt die Anlage mit mehr als 3.100 Wohnungen rund 8.000 Bewohnerinnen und Bewohner. Gemäß der Glückschen Wohnphilosophie stehen der Mensch und seine Bedürfnisse hier im Mittelpunkt: Schulen und Ärzte findet man ebenso wie einen Kaufpark und großzügige Freizeitanlagen.
Schwimmbecken auf den Dächern, Gemeinschaftsräume oder eine Bücherei bestätigen die Tatsache, dass Glück mit Alt-Erlaa mehr eine bloße Wohnungsumgebung geschaffen hat. Es gehe vielmehr um die Schaffung von Gemeinschaften und Lebensumfeldern, bekräftigt auch der Wiener Wohnbaustadtrat, Michael Ludwig (SPÖ). Diesem Gedankengut trägt auch die Gründung eines Mieterbeirats schon in den Anfängen der Besiedelung Rechnung, um eine Mitbestimmung der Mieter zu garantieren.
Ungeliebter Pragmatismus?
Bei den Mieterinnen und Mietern kommt das Wohnkonzept offenbar an. Laut offiziellen Aussagen gibt es nur eine marginale Fluktuation. Interessentinnen und Interessenten stehen zumeist lange auf der Warteliste. In seiner Zunft stößt Architekt Glück aber nicht nur auf Begeisterung. Das Modell Alt-Erlaa wird bei Wohnbau-Forschungssymposien offenbar wenig in Betracht gezogen, eine Fortsetzung dieser Baukultur ziehen nicht viele Planer in Erwägung. Das hält Harry Glück aber nicht davon ab, seinen Weg bei neuen Projekten weiterzuverfolgen. In Anbetracht der rasant wachsenden Weltbevölkerung glaubt er fest an die Richtigkeit seiner Stoßrichtung: „Der Wohnbau ist DIE große Bauaufgabe der Zukunft!“