Sonntag, 11. Dezember 2016

Mal ganz interessant

"NIEMAND WIE IHR? Über Chemie Leipzig und dessen heimatbewusste Ultras.
9. Dezember 2016 von
bonjour tristesse
Unser Autor Andreas Reschke begibt sich einmal mehr in die Untiefen der deutschen Fußballfanszenen und nimmt diesmal die BSG Chemie Leipzig genauer unter die Lupe. Angesichts von Bedrohungen gegnerischer Fans, Heimattümelei und dem Gefasel von »Respekt«, »Ehre« und dem »eigenen Revier« fragt er sich, was es mit dem vermeintlichen Antifaschismus der Chemie-Fans auf sich hat und warum der Verein bei Leipziger Linken so beliebt ist.
Als Ende August der Fußballfünftligist VfL Halle 96 zum Auswärtsspiel bei BSG Chemie Leipzig antrat, wurden bei der Anreise im Stadionumfeld Fans aus Halle von zwei Chemie-Anhängern bedroht. Den Vorfall schilderten die VfL-Fans so: »Weniger angenehm waren zwei augenscheinliche Chemieultras, die offenbar das Lied des Ultrá-Männerchors, dass man ›im Leutzscher Holz geboren‹ sei, etwas zu wörtlich nahmen. Dementsprechend aggressiv reagierten beide vor Spielbeginn auf einen VfL-Fan, der es wagte, auf dem Weg zum Stadion einen VfL-Sticker an einer Laterne des Geburtshauses anzubringen. Das sei ihr Revier, hyperventilierten die grün-weißen Blockwarte, und begannen sofort, den Nestbeschmutzer zu bedrängen. Wir seien hier zu Gast, dürften keine Aufkleber verkleben und sollten gefälligst mehr Respekt vorm grün-weißen Lokalkolorit zeigen. Die Halbstarken ließen es nicht an Dicke-Eier-Sprüchen missen. Nach dem Spiel würde man uns platt machen und ›wenn die Bullen nicht dabei sind, seht ihr keine Sonne mehr‹. Von Beginn an wurde der blau-rote Störenfried geschubst und getreten. Die Verteidigung des Ganglands ging noch weiter: Im Laufe der Auseinandersetzung wurde der VfL-Fan als ›Spast‹ und ›Scheiß Zecke‹ beleidigt, die sich zu ›verpissen‹ habe.« (vgl. https://barrabrawu.wordpress.com)
Ultras gegen rechtsDieser Vorfall mag auf den ersten Blick verwundern, wird doch der Fanszene des Fußballvereins BSG Chemie Leipzig nachgesagt, dass sie antifaschistisch sei. Vor allem die größte und einflussreichste Ultrà-Gruppe bei Chemie, die Diablos Leutzsch, deren Mitglieder den 1997 neu gegründeten Verein vor allem seit 2008 aktiv unterstützen und mitgestalten, [1] haben gute Beziehungen zur Leipziger Antifa, die bis zu personellen Überschneidungen reichen. Ordinäre Nazis sind in der Kurve der Diablos unerwünscht. Ab und an gibt es Freundschaftsspiele gegen linke Vereine wie den Roten Stern Leipzig. Die antifaschistische Gesinnung beweist man zudem mit Spruchbändern gegen Nazis oder einschlägigen T-Shirts. Nicht zuletzt aufgrund des antifaschistischen Images gehen große Teile der Leipziger Linken zu den Spielen der BSG Chemie. Von der linken Stadträtin bis zum Antideutschen, vom Punk bis zum Bauwagen-Wursthaar, alle fühlen sich im Alfred-Kunze-Sportpark, der Heimstätte des Vereins, zuhause. Da mag kaum einer so recht hinschauen, was der Männerchor der Diablos tatsächlich ist.
Neben ihrem antifaschistischen Auftreten sind die Diablos jedoch vor allem vor allem eines: ganz gewöhnliche Ultras. Dazu gehört selbstredend das sich selbst überhöhende Pathos – das Motto der Chemie-Ultras lautet »Niemand wie wir« –, ein Fimmel für Gewalt, das Einschwören auf Verein und Stadtteil, für die man alles zu geben habe und die Abwehr des modernen Fußballs und Kommerzes. So ist es keine Überraschung, dass die Diablos den Retortenverein Rasenballsport Leipzig (RBL) als Eindringling in die autochthone Fußballwelt der Heldenstadt ablehnen. Die Chemie-Fans gehörten zu den Ersten, die gewaltsam gegen RBL vorgingen, indem sie ein Werbeauto des Sponsors Red Bull mit Steinen angriffen (vgl.
Bonjour Tristesse #9).
Während man einerseits die Stumpfnazis der NPD oder Kameradschaften bekämpft, wird andererseits eine Blut-und-Boden-Ideologie gepflegt, die Ultras und weite Teile der Antifaszene gleichermaßen auszeichnet. Der gegen allzu offensichtliche Nazis gerichtete Antifaschismus besitzt bei den Chemiefans damit eine ähnliche Ausprägung wie der Antifaschismus der deutschen Linken. So wurde zwar auf Drängen der Diablos beim eigenen Verein durchgesetzt, dass der aus DDR-Zeiten stammende Fangesang, demzufolge »nur ein Leutzscher ein Deutscher« sein könne, verboten wurde. Ähnlicher Humbug, der ebenfalls auf Abstammung, blutsmäßige Verwurzelung in der Heimat und ähnlichen Kitsch rekurriert wie der erwähnte Gesang, wonach man »im Leutzscher Holz […] geboren« sei, geht aber widerspruchslos durch. In einem anderen Lied besingt man die Unbesiegbarkeit des eigenen Vereins auch an Orten, die heute ganz anders heißen und an denen Ur-Opa einst eine schwere Niederlage einstecken musste: »Von Stalingrad bis an die Spree – keiner besiegt die BSG«.

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https://bonjourtristesse.wordpress.com/2...-leutzsch/