Freitag, 16. Dezember 2011

Buchbesprechung

Der Zeuge Verräter von Lens


Das Buch befasst sich wohl mit einem der berühmtesten Vorfällen der jüngeren Sportgeschichte: mit dem Angriff auf den Polizisten Daniel Nivel während der Weltmeisterschaft 1998 durch deutsche Hooligans in Lens. Am Rande der Begegnung zwischen Jugoslawien und Deutschland am 21. Juni 1998 haben Hooligans Daniel Nivel niedergeschlagen und mit einem abgebrochenen Gewehrkolben beinahe totgeschlagen. Dabei entstanden Bilder eines Austro-Deutschen der sich damals gerne und gerngesehen im Umfeld von Hooligans aus Deutschland und Österreich bewegte (vor allem in der Hütteldorfer Szene war er kein Unbekannter) und das schicksalhafte Foto, welches ein paar Tage später via BILD Zeitung um die Welt ging gemacht. Damals war der Fotograf 17 Jahre alt. Sein Vater war Professor an der Uni Wien, seine Mutter Diplomatin in Bonn. Für das Bild bekam er zunächst 7.000 Mark (nicht 3.500 wie im Buch geschrieben), später wurde es auf 1 Million Schillinge erhöht. Der Preis war das Versteckenmüssen vor der Rache der Hooligans. Vermutlich war er eine ganze Zeit lang in Ungarn, danach irgendwo im Süden Österreichs. Echte Beweise dafür habe ich aber ausser Vermutungen und Andeutungen seiner wenigen noch verbliebenen Freunde keine, daher mit Vorsicht zu geniessen. Dieses Buch berichtet aber über einen anderen Zeugen, der zum Tatzeitpunkt zwar nicht unmittelbar vor Ort war (lediglich in Lens selber) aber den Haupttäter erkannte und dies – anonym – der Polizei mitteilte. Einige der im Buch aufgezählten Fakten stellten sich 1998 noch ganz anders dar, so gab es – wenn die damaligen Geschichten, die im Umlauf waren stimmen – mehrere Fotografen, auch sollen einige szenekundige Beamte aus Österreicher dem Fotografen Walter „D“ (seinen echten Nachnamen wissen die Eingeweihten ohnehin daher verwende ich mal den Buchstaben, mit dem er auch im Buch ausgewiesen ist) gefolgt sein, ausserdem sollen sie Walter „D“ damals vor der BILD Redaktion bereits alle Fotos abgenommen haben, die dieser geschossen hat  und nicht wie im Buch beschrieben, „Schritt für Schritt“. Ausserdem wurde damals kolportiert, dass die Hooligans sich nicht frei bewegten sondern von CRS Einheiten (CRS sind die Spezialeinheiten der französischen Polizei) genau auf den Standort Nivels zugetrieben worden sein. Die BILD sowie die KRONE hatten damals eifrigst darüber berichtet.

Warum ich dies heute hier so schreibe ? Ganz einfach, weil wir, die wir damals in Paris waren beim Anblick des Bildes sofort genau auf Walter „D“ als Urheber gekommen sind, was ja auch stimmte. Insoferne war es sicher für die szenenkundigen Beamten damals zumindest genauso einfach wie für uns, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Im Buch hingegen wird dieser Aspekt vollkommen ausgeblendet und damalige Zustände nicht oder falsch beschrieben. Irgendwie habe ich beim Lesen den Verdacht dass da die Arbeit der Polizei verherrlicht und die damaligen Vorgänge in einem besseren Licht dargestellt werden als sie tatsächlich oder im kollektiven Gedächtnis der Fussballfans waren. Nichtdestotrotz ist es ein gutes Buch weil es nämlich den Fotografen Walter „D“ bis zu einem gewissen Grad aus der Schusslinie nimmt und ganz andere Personen – vor allem des Schalker Fanprojektes – ins Visier der Öffentlichkeit brachte. Zurecht, weil sich der Sozialarbeiter Mathiak über eine Grundregel seines Berufsstandes hinweg gesetzt hat: Der Verschwiegenheitspflicht zugunsten seiner Klienten. Auch wenn in diesem Buch hundertmal behauptet wird, dass diese Verschwiegenheitspflicht nicht für Sozialarbeiter gilt so kann man doch annehmen, dass nicht nur Mathiak sondern auch andere FP-Mitarbeiter der verschiedenen Vereine die Täter relativ schnell erkannt hatten, von den beiden anderen Mitarbeitern des Projektes auf Schalke – einer davon laut Buch ein ehemalige Top-Hooligan – ganz zu schweigen. Da ist das Buch nicht wirklich schlüssig wenn man bedenkt, dass gleich zu Beginn klargestellt wurde, dass Mathiak sich dem Gesetz und der Rechtstaatlichkeit mehr verpflichtet fühlte als den zu betreuenden Ultras gegnüber. Daher ist das Buch in diesem Punkt einfach nur ein Fantasieprodukt – oder die handelnden Mitpersonen strohdumm. Eine andere Schlussfolgerung dafür gibt es einfach nicht. Das darauffolgende Katz- und Mausspiel dem Mathiak danach ausgesetzt ist fällt für mich schon wieder unter die Kathegorie „Selbst Schuld“ da niemand von ihm verlangt hat, dies zu tun, er es offenbar selber aus einer eigenartigen Selbstwahrnehmung heraus getan hat. Ob dies – wie auch im Falle von Walter „D“ – Selbstgeltung oder einfach ein nicht vorhandenes Standesbewusstsein als Sozialarbeiters (das ich hier in Ö noch nie in dieser Form erlebt habe) geschehen ist kommt aus diesem Buch nicht heraus. Tatsache ist, dass er nicht nur sich selber sondern auch seine Freundin (sie arbeitet in einer JVA) sowie seine zwei Kleinkinder massiv in Gefahr gebracht hat, indem er erstens die Aussage gemacht und zweitens der Polizei und deren (leeren) Versprechungen von wegen Anonymität geglaubt hat. Dass er dies alles noch in einem Buch aufarbeitet obwohl ihm sehr wohl bewusst sein muss, dass die Hooligans NIE vergessen spricht ja auch eine deutliche Sprache: Selbstdarstellung um jeden Preis. Und so würde ich auch dieses Buch einordnen. Der Schluss ist rührselige Melancholie im Dutzend, wo das schreckliche Schicksal des Zeugen und dessen weiteres Leben geschrieben wird, mit keinem Wort kommen aber die Angeklagten oder der Polizist selber zu Wort – ein einseitiges Buch über einen überkorrekten, übersensiblen Sozialarbeiter. Gebt ihm den Nobelpreis. Der wäre was für ihn und auch eine Verarsche in Reinkultur, war doch Alfred Nobel (der den Friedensnobelpreis stiftete – Bertha von Suttner war die erste weibliche Gewinnerin, sie erhielt den Preis am 10. Dezember 1905) der Erfinder des Dynamits. Haha !

Vollkommen wertfrei sind die Abschlusszeilen, die Gunther Pilz, „Szenepapst“ des DFB und selbsternannter Hooligan- und Ultraforscher von sich gibt. Die Charakterisierung der ULTRAS ist so was von daneben dass auch alles andere in diesem, gänzlich falschem Licht betrachtet werden muss. Sein Bild vom sich selbst darstellenden, auf den billigen Plätzen grölenden Jugendlichen, der sich der Modernisierung des Fussballs verschliessen will ist meilenweit vom tatsächlichen Begriff, der tatsächlichen Kultur Ultra´ entfernt. Warum man einen solchen Menschen eine Plattform gibt wissen wohl nichteinmal die Proponenten selber. Dass dann noch Ulli Hoeness´Sager bezüglich der „billigen Plätzen, die von den VIP Gästen denen man das Geld aus der Tasche ziehe finanziert würden“ ist ja die Frechheit sondergleichen, da damit nicht die Fans sondern der Wirtschaftszweig „Fussball“ (Stichwort: Moderner Fussball) erhalten und erweitert wird. Kein einziger Sportmanager denkt bei seinem Konzept an die Fans, egal was sie sagen. Einige können ihre Fans halt nur besser für dumm verkaufen als andere. Sieht man ja bei Rapid ganz gut. Welche Kirche hat denn schon VIP Boxen (die Rapid bekommen soll) ? Eben !

Burkhard Mathiak ist heute Pressesprecher von Fortuna Köln. Daneben betreibt er noch bei www.ichbinderstar.de einen Autogrammkartenservice an. Schlecht dürfte es dem „Verräter von Lens“ nicht gehen.








Ex-Hooligan, der Polizist Nivel ins Koma prügelte: Jetzt darf Frank Renger wieder zum Fußball !

Vier Jahre saß Frank Regner im Knast und bis zum 1. Januar 2009 hatte er vom DFB Stadion-Verbot bekommen, weil der ehemalige Hooligan bei der WM 1998 in Frankreich den Gendarmen Daniel Nivel (54) ins Koma geprügelt hatte. Der Polizist ist heute auf einem Auge blind und der Täter, Frank Regener, scheint seine Tat wirklich bereut und dem Hooligan-Dasein für immer abgeschworen zu haben.„…Die alten Hooliganzeiten sind endgültig vorbei…In der Nacht vor dem Spiel hab ich kein Auge zugemacht. Es ist der schönste Moment meines Lebens…“, sagt Regner, der nun sein erstes Fußballspiel (Schalke gegen Werder Bremen) seit der Tat wieder in einem Stadion live erleben durfte. Frank Regner arbeitet übrigens zwischenzeitlich ehrenamtlich als Betreuer beim Essener Club Tura 1886.


18.10.1999
 

Nivel-Prozess

"Nach der Tat Blut von den Armen gewischt"

Am letzten Tag der Beweisaufnahme wurde das brutale Verbrechen an dem französischen Polizisten Daniel Nivel nochmals dramatisch gegenwärtig. Nach monatelangem Schweigen brach auch der letzte Angeklagte sein Schweigen.

Die Vorfälle an jenem verhängnisvollen 21. Juni 1998 kosteten den französischen Gendarmen Daniel Nivel am Rande der Fußball-Weltmeisterschaft in Lens fast das Leben.

Die Position der Verteidigung der vier angeklagten Hooligans Andre Zawacki, Frank Renger, Tobias Reifschläger und Christopher Rauch wurde erneut geschwächt. Der Vorwurf des versuchten Mordes wird aber voraussichtlich nur bei Zawacki aufrechterhalten, die anderen müssen mit einer Verurteilung wegen schwerer Körperverletzung rechnen. Die Staatsanwaltschaft hält ihre Plädoyers am 25. Oktober, die Verteidigung am 28. Oktober. Das Urteil will der Vorsitzende Richter Rudolf Esders am 5. November sprechen.  Der 30. Verhandlungstag wurde zum Tag der Entschuldigungsversuche, auch Christopher Rauch brach sein Schweigen: "Ich habe bisher geschwiegen. Ich war Hooligan, seit Daniel Nivel schwer verletzt wurde, habe ich viel nachgedacht. Ich bin überzeugt, dass mein Verhalten falsch war, aber ich erkläre, dass ich niemals rechtsradikal war. Ich habe Nivel nicht geschlagen, war immer sechs bis sieben Meter von ihm entfernt. Was mit Nivel konkret geschehen ist, kann ich nicht sagen. Ich erfuhr von seinen schrecklichen Verletzungen erst durch die Medien und durch den Prozess." Am Ende seiner Ausführungen versagte Rauch die Stimme.  Richter Rudolf Esders verlas am 30. Verhandlungstag im Saal 101 Vernehmungsprotokolle der Belastungszeugen Nicolas P. aus Frankreich, Adrian Robert B. aus England und Jovan L. aus Jugoslawien. Nicolas P. hatte im Juni aus Angst um sein Leben auf seine angekündigten Aussagen vor dem Essener Schwurgericht verzichtet. Auf versuchten Mord steht lebenslänglich, auf schwere Körperverletzung bis zu zehn Jahre Haft.
Die Zeugen schildern die Vorfälle am 21. Juni, als deutsche Hooligans Daniel Nivel fast zu Tode geprügelt hatten. P., der im Juni in Essen fürchten musste, von dem österreichischen Hooligan-Fotografen Walter S. als Tatbeteiligter identifiziert zu werden, schildert Tobias Reifschläger als "den deutschen Hooligan, der den am Boden liegenden Polizisten mit grosser Wucht in den Nacken getreten hat". Auch Andre Zawacki wird als Tatbeteiligter identifiziert, er habe sich "nach der Tat Blut von den Armen gewischt und sein T-Shirt gewechselt", um seine Identifikation zu erschweren.
Auch Frank Renger und Christopher Rauch werden von den Zeugen "zu der ersten Überfallgruppe der deutschen Hooligans" gerechnet: "Sie müssen unter Drogen gestanden haben, sie waren so gewalttätig, wie man es sonst nur von Tieren kennt. Selbst im Weglaufen haben sie nochmals zugetreten." Christopher Rauch wird als derjenige geschildert, der mit einem Schild auf den am Boden liegenden Polizisten eingeprügelt haben soll.  Nachdem Renger und Reifschläger schon zum Auftakt des aufsehenerregenden Prozesses im April 1999 ein Teilgeständnis abgelegt hatten, hatte Andre Zawacki am 29. Verhandlungstag nachgezogen und ebenfalls seine Tatbeteiligung gestanden. "Ich habe zugeschlagen, aber nur einmal, mit einer Rotweinflasche", ließ Zawacki durch seinen Anwalt Wolfgang Weckmüller verlesen. Zuvor war der Gelsenkirchener "zu 98,5 Prozent" von einem Mitarbeiter des Gelsenkirchener Fan-Projekts als der Mann identifiziert worden, der mit einem Gewehraufsatz auf den am Boden liegenden Nivel eingeschlagen habe. Am Montag brach auch Rauch sein Schweigen: "Wenn ich das alles hinter mir habe, will ich mich nur noch um meine Frau und den Betrieb meines Vaters kümmern." Rauch hatte während der U-Haft im Juli geheiratet.
Christoph Fischer




Sport & Gesellschaft | 08.11.2009

Das Opfer blieb behindert


Vor zehn Jahren wurden im Nivel-Prozess die Urteile gesprochen. - Deutsche Hooligans hatten den französischen Polizisten Daniel Nivel bei der WM in Frankreich fast zu Tode geprügelt.

 

"Das ist eine Schande, eine Schande für unser Land!“ Der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl verurteilte die Ereignisse in Lens scharf und wünschte sich seinerzeit nichts mehr, als eine rasche Aufklärung und eine konsequente Bestrafung der Täter. Der Aufschrei der Empörung und der Ruf nach harten Urteilen waren aber nicht nur in Deutschland laut. Der Vorsitzende Richter im Nivel-Prozess am Landgericht Essen, Rudolf Esders erinnert sich noch sehr genau daran, dass auch "die Aufmerksamkeit Europas und teilweise auch des nordamerikanischen Kontinents“ auf dieses Verfahren gerichtet war.

Reue und Schweigen


Andre Zawacki, Tobias Reifschläger, Frank Renger und Christopher Rauch mussten sich wegen versuchten Mordes, gefährlicher Körperverletzung und schweren Landfriedensbruchs verantworten.
Zum Prozessauftakt am 30. April entschuldigten sich drei der Angeklagten und baten Daniel Nivel und dessen Familie um Verzeihung. Tobias Reifschläger legte zudem ein Teilgeständnis ab. Lediglich Christopher Rauch machte von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. Die belastenden Beweise waren in den meisten Fällen jedoch erdrückend.

Die Kraft der Bilder

Von dem brutalen Überfall in Frankreich existierte nicht nur ein Video, es waren vor allem zahlreiche Fotos, die sowohl bei der Ermittlung als auch bei der Festnahme der Täter hilfreich waren. Fast alle Angeklagten konnten darauf eindeutig identifiziert werden. Für Richter Rudolf Esders waren diese Bilder ein großer Vorteil, schließlich waren sie wesentlich "objektiver als Zeugenaussagen, die ja oft nur bruchstückweise das Geschehene wiedergeben“.

Informant verhindert Freispruch

Doch trotz dieser objektiven Zeugen, drohte aus Sicht des Gerichts ein Freispruch für den Hauptangeklagten Zawacki. Dieser war auf den vorliegenden Bildern nicht einwandfrei zu identifizieren. Ein Zeuge bzw. Informant, der ihn zwar erkannt hatte, war aus Sicherheitsgründen von der Staatsanwaltschaft und der Polizei eigentlich gesperrt. In akribischer Kleinarbeit war es dem Gericht jedoch gelungen diesen zu enttarnen und vorzuladen. Nachdem ihm Vertraulichkeit zugesichert worden war, bekräftigte er unter Eid, dass er "Andre Zawacki mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erkannt habe“. Daraufhin legte der Angeklagte ein Geständnis ab.

Kaum Gnade für die Täter

Nach insgesamt 31 Verhandlungstagen wurden am 9. November 1999 die Urteile gesprochen. Christopher Rauch musste für dreieinhalb, Frank Renger für fünf, Tobias Reifschläger für 6 und Andre Zawacki für zehn Jahre ins Gefängnis.
Daniel Nivel, der mitsamt seiner Frau und einem seiner Söhne an diesem Tag im Gericht dabei war, nahm den Richterspruch teilnahmslos zur Kenntnis. Bis heute kann sich der mittlerweile 54jährige an die Tat nicht erinnern. Neben diesen Gedächtnislücken ist Nivel teilweise gelähmt und auf einem Auge blind. Auch sein Sprachvermögen ist stark eingeschränkt.

Keine zweite Chance für das Opfer

Während Daniel Nivel bis heute an den Folgen des Überfalls leidet, sind die Täter wieder auf freiem Fuß. Bis auf Frank Renger sind sie allerdings weitestgehend untergetaucht. Der 41jährige aber hat den Weg zurück in ein geordnetes Leben geschafft, ist heute ehrenamtlicher Betreuer bei einem Essener Fußballverein und arbeitet wieder in seinem Beruf als Bäcker. Dort ist er am Anfang zwar von den Kollegen erkannt worden, Anfeindungen hat er aber nicht erlebt: "Die haben gesagt, dass ich meine Strafe abgesessen habe und jeder eine zweite Chance verdient hat“.    Zu Daniel Nivel hat er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis keinen Kontakt aufgenommen. Seine Bewährungshelferin hatte ihm davon abgeraten, "weil man halt keine alten Wunden aufreißen sollte“. Wobei ihm aber auch bewusst ist, dass diese Wunde wohl nie verheilen wird. Weder bei Daniel Nivel, noch bei ihm.

Autor: Torsten Ahles R
Redaktion: Wolfgang van Kann




Der Zeuge von Lens

Eine Aussage veränderte sein Leben: Burkhard Mathiak war Augenzeuge, als deutsche Hooligans im Sommer 1998 in Frankreich den Polizisten Daniel Nivel zum Krüppel prügelten. Sein Auftreten vor Gericht brachte die Täter hinter Gitter und versetzte Mathiak in Todesangst.

Manchmal sitzt Burkhard Mathiak einfach da und erinnert sich an den Tag, der sein Leben für immer verändert hat. Dabei ist dieser eine, ganz bestimmte Tag mittlerweile schon zwölf Jahre her, aber die Ereignisse dieses Junitages im Jahr 1999 lassen Burkhard Mathiak bis heute einfach nicht mehr los. Wie auch, schließlich haben sie aus ihm einen anderen Menschen gemacht. Es ist im Juni 1999, der damals 32-jährige Mathiak sitzt im Zuschauerraum des Essener Landgerichts. Mathiak ist zu dieser Zeit Leiter des Fanprojekts des Fußball-Bundesligisten FC Schalke 04. Und vor eben jenem Landgericht wird eine der schrecklichsten Gewalttaten der deutschen Fußball-Geschichte verhandelt. Knapp ein Jahr zuvor, am 21. Juni 1998, haben deutsche Hooligans während der WM den französischen Polizisten Daniel Nivel in Lens zum Krüppel geschlagen. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl spricht von einer „Schande für unser Land“, Ex-Außenminister Klaus Kinkel vom „Krebsgeschwür der Fußball-Welt“. Ein riesiges öffentliches Interesse begleitet den Prozess in Essen, auch weil unklar ist, ob die Beweise ausreichen, um die vier Angeklagten zu verurteilen. Zwei der mutmaßlichen Täter, Frank R. und André Z., kennt Burkhard Mathiak. Sie sind Schalke-Anhänger, Mathiak sieht sie häufig im Rahmen der Spiele der Fußball-Bundesliga. Und André Z. sitzt nur hier, weil Mathiak ihn Monate zuvor identifiziert hat. Allerdings hat er seine Aussage verdeckt gemacht, um möglichen Angriffen aus der Hooligan-Szene zu entgehen.Doch jetzt hat Mathiak plötzlich ein Problem, denn Richter Rudolf Esders möchte ein möglichst wasserdichtes Urteil, ihm reichen die vorliegenden Beweise nicht aus. Also sagt Esders: „Ich werde alles Menschenmögliche tun, um herauszufinden, wer der anonyme Zeuge ist.“ Zwölf Worte, die Burkhard Mathiaks Leben völlig auf den Kopf stellen und jetzt, zwölf Jahre später, dazu beitragen, dass er gemeinsam mit dem Sportjournalisten Tibor Meingast das Buch „Der Zeuge von Lens“ (Verlag Die Werkstatt, 8,90 Euro) veröffentlicht. „Als sich meine öffentliche Aussage 2009 zum zehnten Mal jährte, habe ich mich immer öfter an die Geschehnisse von damals erinnert. Gemeinsam mit Tibor Meingast bin ich dann zu dem Entschluss gekommen, dass wir die Geschichte erzählen müssen“, sagt Burkhard Mathiak heute. Tatsächlich ist Mathiak an jenem 21. Juni 1998 selbst in Lens gewesen, allerdings nicht in offizieller Funktion. Der Fußball-Fan möchte sich einfach nur die Vorrunden-Begegnung Deutschland gegen Jugoslawien anschauen. Als er vor dem Spiel noch ein wenig in Lens herumschlendert, ahnt er Schreckliches. „Jeder, der an dem Tag dort war, wusste, dass etwas schiefgehen würde“, sagt Mathiak. Zu aufgeladen sei die Atmosphäre gewesen, so Mathiak. Aus diesem Grund geht er schnell ins Stadion. Aufgrund seiner täglichen Arbeit weiß er, dass dort der sicherste Platz ist in solchen Momenten. So bekommt Mathiak nicht mit, wie deutsche Hooligans den französischen Polizisten Daniel Nivel in einer Seitenstraße angreifen. Mit einer Holztafel und einem Gewehraufsatz prügeln die Hooligans auf Nivels Kopf ein, treten und schlagen den 43-Jährigen fast tot. Nivel, so berichten später die Ärzte, wird sein Leben lang auf Pflege angewiesen sein. Mittlerweile geht es ihm wohl etwas besser, aber Daniel Nivel wird nie mehr arbeiten können. Zwei Tage später macht die „Bild“-Zeitung mit einem Bild auf, das die Tat zeigt. Die Schlagzeile: „Das Foto, das die Welt entsetzt.“ Auf der Aufnahme ist unter anderem der am Boden liegende Nivel zu erkennen, ein junger Mann schlägt auf ihn ein. Es ist André Z., allerdings sieht man ihn nur von hinten. Frank R. hingegen ist leicht zu identifizieren. Als Mathiak das Bild sieht, denkt er: „Oh Mist, die kennst du doch.“ Zwei szenekundige Polizisten, die Mathiak durch seine Arbeit vertraut sind, sprechen ihn bald an, sagen zu ihm: „Burkhard, du weißt doch bestimmt etwas.“ Tatsächlich kann Mathiak André Z. aufgrund dessen Kleidung und der Statur identifizieren. Also klärt er mit der Polizei, welche Möglichkeiten es gibt, eine Aussage zu machen, ohne sein Leben zu gefährden. Schnell ist klar: Mathiak sagt anonym aus. „Damit war die Sache für mich erledigt“, erinnert er sich. Doch als Richter Esders ankündigt, den anonymen Zeugen aufspüren zu wollen, bekommt Mathiak Angst. Angst um sein Leben. Angst um seine Zukunft. Und Angst um seine Familie, Mathiak hat zwei kleine Söhne. Seine Angst ist berechtigt. Denn Esders lädt die drei Mitarbeiter des Schalker Fanprojekts vor, auf gut Glück. Mathiak realisiert: Ich muss öffentlich aussagen, „sonst kannst du dein Leben lang nicht mehr in den Spiegel schauen“. Mit der Polizei spricht er die Schutz-Maßnahmen ab. Mathiak und seine Familie müssen untertauchen. Er sagt: „Das war ein Kriminalfall am eigenen Leib.“ Schließlich fährt Mathiak am 1. Oktober 1999 mit dem Auto zum Landgericht nach Essen und seine Familie in einen Ferienpark in den Niederlanden. Als die Tür zum Sitzungssaal aufgeht, schaut Mathiak den Angeklagten kurz in die Augen. Er sagt: „Ein gruseliger Moment.“ Eine knappe halbe Stunde sagt Mathiak aus, er belastet André Z. schwer. Das Urteil: Zehn Jahre Haft für André Z., fünf für Frank R. Auch die beiden anderen Angeklagten werden zu Freiheitsstrafen verurteilt. Nach seiner Aussage reist Mathiak seiner Familie hinterher, auf der Autobahn denkt er: „Ich fahre immer weiter von meinem Leben, so wie ich es kenne, weg.“ Sechs Wochen bleibt er mit seiner Familie in den Niederlanden, stets hat er Kontakt mit der Polizei. Tatsächlich gibt es wohl vier Morddrohungen, doch es passiert nichts. Mit seiner Familie kehrt Mathiak schließlich zurück in die Heimat – ins Bergische Land bei Köln. Aber die Angst bleibt – trotz Polizeischutz. „In der Zeit habe ich mich häufig umgedreht“, sagte Mathiak. Selbst an roten Ampeln schaut er, ob die Autos hinter ihm ein Gelsenkirchener Kennzeichen haben. Auf Schalke wechselt Mathiak in die Presseabteilung, im Fanprojekt kann er nicht mehr arbeiten, er gilt als Verräter. Noch vier Jahre steht er unter Polizeischutz, aber die Lage bleibt ruhig. Mathiak vermutet: „In Lens wurde eine Grenze überschritten. Das haben mir auch viele Leute aus der Hooligan-Szene bestätigt.“ Im Jahr 2006 verlässt Mathiak Schalke, er macht sich als PR-Berater selbstständig, heute arbeitet der gebürtige Düsseldorfer unter anderem als Pressesprecher für NRW-Ligist Fortuna Köln. Und er entschließt sich im Jahr 2009, zehn Jahre nach seiner Aussage, seine Geschichte zu erzählen – auch weil seine beiden Söhne immer häufiger fragen, ob die Täter mittlerweile aus dem Gefängnis entlassen worden sind. Zwar hat Mathiak in der Zwischenzeit die Geschehnisse längst verarbeitet, aber das Buch „rundet das Ganze ab“, erzählt er. Das Buch verdeutlicht, was Mathiak damals durchgemacht hat. Es erzählt davon, wie Mathiak unverschuldet durch einen Überfall irgendwo in Frankreich zusehends in eine Situation gerät, die er immer weniger kontrollieren kann. Und es erzählt davon, wie sich ein Leben von jetzt auf gleich ändern kann, ohne dass man es will – sowohl für Mathiak als auch für die beiden Schalker Täter, über die er sagt: „Die beiden wollten das so ja auch nicht.“ Es ist unter anderem einer der Gründe, warum er seine Erlebnisse veröffentlicht. Er will jungen Menschen zeigen, dass man schnell in Situationen geraten kann, die man vorher so gar nicht geplant hat, die aber trotzdem ein ganzes Leben verändern. Auch Mathiaks Leben änderte sich ja massiv nach den Vorfällen. Gegenüber FORUM sagt er: „Eigentlich hatte ich nur Nachteile durch die Aussage. Aber es hätte nicht anders funktioniert.“ Durch das Buch erhofft Mathiak sich zudem einen positiven Nebeneffekt: „Vielleicht kann ich Menschen, die in einer vergleichbaren Situation wie ich damals stecken, dazu bringen, sich gegen ihre persönlichen Interessen und für das Gemeinwohl zu entscheiden. Obwohl das nicht einfach ist.“ Das hört sich nach viel Pathos an, dabei will Burkhard Mathiak eines gerade nicht sein: ein Held.
Matthias Hendorf