Fall Kampusch: Das Ende der Verschwörung
Ein früherer Kriminalbeamter präsentiert nach zehn Jahren Recherche bisher unbekanntes Material und räumt mit den Verschwörungstheorien auf.
Am 26. August 2006 konnte sich Natascha Kampusch aus der Gefangenschaft des Entführers Wolfgang Priklopil befreien. Seither verunsichern Verschwörungstheorien nicht nur die Öffentlichkeit, sondern quälen auch das Opfer Kampusch. Nach zehnjähriger Recherche präsentiert nun der ehemalige Kripobeamte und Buchautor Peter Reichard aus Hamburg sein Ergebnis: Alle Verschwörungstheorien seien falsch, Natascha Kampusch hat über die Jahre ihrer Gefangenschaft immer die Wahrheit gesagt.
Reichard war bei der Kripo St. Pauli und Leiter einer Spezialeinsatzgruppe des Landeskriminalamtes Hamburg. Nach seinem Ausstieg bei der Polizei recherchierte er gemeinsam mit seiner Frau Eveline den Fall Kampusch. Es gelang ihm, in Wolfgang Priklopils Haus in Strasshof auch ins Verlies zu kommen. Er durfte mit Einverständnis von Kampusch auch bisher unter Verschluss gehaltene Videoaufnahmen des Entführers ansehen. Er wühlte sich durch die Polizei- und Gerichtsakten und sprach mit den Erhebungsbeamten.
Daraus wurde eine minutiöse Darstellung der Tat und des Lebens des Opfers in Gefangenschaft. Und er entlastet in dem Buch jene Personen, die ungerechtfertigt mit der Tat in Zusammenhang gebracht wurden.
Vorweg ein Freispruch für Kampuschs Mutter Brigitta Sirny, die fast zwei Jahrzehnte hinweg diffamiert wurde, obwohl sie unschuldig war. Sie wurde mehrmals verhört, observiert und von der FPÖ in einer parlamentarischen Anfrage angeschwärzt.
Es bleibt nur ein Wermutstropfen für die Wiener Polizei. Der Autor ist sicher, dass alles anders gekommen wäre, wenn die Polizei nicht den Hinweis des Polizeihundeführers Christian P. auf Priklopil verschlampt hätte. Den Hundeführer belaste es bis heute, dass er mit seinem Hinweis die Gefangenschaft Kampuschs nicht um acht Jahre verkürzen konnte.
Verschwörung
Reichard beschreibt auch jene Verschwörungstheoretiker, die sich schon während der laufenden Fahndung einmischten. Höchst aktiv war ein ehemaliger Familienrichter und versuchter Präsidentschaftskandidat, der sich bei seinen Privat-Erhebungen als Polizist ausgab. Zur Jagdgesellschaft gesellten sich auch ein Geisterheiler, ein Hellseher und ein Privatdetektiv.
Jagdgesellschaft
Besonders heftig wurde es durch einen Grazer Kripo-Oberst, der sich zuerst in wirre Theorien verrannt hatte – sich später aber aus anderen Gründen erschoss. Sein Bruder deutete den Selbstmord kurzerhand in einen Mord um und begann die Jagd auf angebliche Hintermänner bei Justiz und Polizei. Er zeigte eine Staatsanwältin, Beamte des Stadtpolizeikommandos Graz und der Tatortgruppe des Landeskriminalamtes Steiermark als angebliche Mittäter an.
Zu ihnen gesellte sich noch ein ehemaliger Höchstrichter, der die angeblichen Taten an die Klub-Obmänner aller Parlamentsparteien verteilte. Als sich auch noch ein Verschwörungstheoretiker, der als BZÖ-Mandatar in Brüssel saß, dazu mischte, war eine mittlere Staatskrise perfekt.
Die Angegriffenen mussten nicht nur ergebnislose Ermittlungen erdulden. Erst vor wenigen Wochen gelang es einem Teil der Gruppe in einem deutschen Medium (Spiegel online) eine obskure Mordtheorie zu lancieren. Diesmal ging es um den Entführer Priklopil, der sich nach dem Auffliegen der Tat vor die Schnellbahn geworfen hatte.
Auch die angeschwärzten "aufrechten Beamten" werden in Reichards Buch entlastet: Konkret die Beamten der Staatsanwaltschaften in Wien, Graz und Innsbruck, der "SOKO Burgenland", des Bundeskriminalamts, der Wiener Polizei und der Polizeiinspektion Deutsch-Wagram.
Perverse Fantasien
Stefan Aust, Herausgeber der Tageszeitung Die Welt, rechnet anhand der im Buch geschilderten Fakten mit den Kampusch-Jägern ab: "Sie beweisen, dass ihre Mutmaßungen über Komplizen und Pornos nichts als perverse Fantasien sind." Reichard zum Schicksal der Natascha Kampusch: "Sie war wieder eine Gefangene geworden, zurückgeschoben ins Verlies gesellschaftlicher Verbannung. Diese zweite böse Tat an ihr haben Menschen zu verantworten, deren Verbohrtheit und Eitelkeit mächtiger war als ihr Gewissen. Dagegen war Natascha Kampusch machtlos."
http://kurier.at/chronik/niederoesterreich/fall-natascha-kampusch-das-ende-der-verschwoerung/188.242.715