Zuflucht in Liechtenstein
Am Kriegsende kamen Russen
Russische Soldaten, die auf der Seite Deutschlands gegen Stalin kämpften, fliehen 1945 nach Westen. In der Nacht auf den 3. Mai überschreiten knapp 500 von ihnen die liechtensteinische Grenze. Vaduz lehnt die Auslieferung an die Sowjetunion ab.
«Halt! Sofort anhalten!» Der zweimalige Ruf des Grenzwächters bleibt ungehört, die Wagenkolonne fährt auf dem steilen Strässchen weiter. Dem Auftrag folgend, die liechtensteinisch-österreichische Grenze zu schützen, zieht der Beamte seine Pistole und feuert auf das Vorderrad des ersten Fahrzeugs. Nach diesem Schuss, der die Kolonne zum Stehen bringt, ertönt aus der Dunkelheit: «Halt, nicht schiessen! Hier ist ein russischer General!»
Den Grenzwächtern, die aus einem winzigen Zollhäuschen den kleinen Grenzübergang überwachen, erklärt der aus dem vordersten Lastwagen springende Adjutant, der General möchte mit rund 600 Personen nach Liechtenstein übertreten, um der Gefangenschaft durch die Westalliierten zu entgehen. Der Schuss auf den Lastwagen ist eine Reflexhandlung, um dem Befehl Nachdruck zu verleihen, keinesfalls aber ein entschlossenes Entgegentreten. An die Schweizer Grenzwacht, die seit dem Zollvertrag von 1923 die liechtensteinische Grenze sichert, war die Weisung ergangen, gegen gewaltsam eindringende Gruppen keinen Widerstand zu leisten, weil die Schweiz nur die eigene Grenze militärisch verteidige, nicht aber die Grenze Liechtensteins zu Österreich, das seit dem Anschluss 1938 zum Grossdeutschen Reich gehörte.
Die Waffen türmen sich
Die Dunkelheit und das steile Strässchen nach Hinterschellenberg lassen die Kolonne nur langsam vorrücken. Bis die letzten zu Fuss auf den Boden des neutralen Fürstentums gelangen, sind im nahen Gasthof «Löwen» bereits Oskar Wyss, Chef der Eidgenössischen Grenzwacht in Liechtenstein, Fürst Franz Josef II. und die Mitglieder der Regierung eingetroffen. Liechtensteinische Hilfspolizisten helfen den in den Hinterschellenberg aufgebotenen Grenzwächtern, die Russen zu entwaffnen und die Fahrzeuge sicherzustellen: Lastwagen, Personenwagen, Pferdefuhrwerke, Fahr- und Motorräder und ein paar Handwagen. Unter einer Strassenlaterne türmen sich die Waffen zu einem Haufen, darunter 235 Langgewehre, Karabiner, Pistolen, Revolver, Kosakensäbel und Handgranaten.
Nicht alle sind Russen. Nicht alle gehören der «Ersten Russischen Nationalarmee» an, die General Artur Holmston als Hilfstruppe für die deutsche Wehrmacht im Kampf gegen die Sowjetunion aufgestellt hatte. Der in Richtung Westen flüchtenden Truppe hatten sich auch Zivilflüchtlinge angeschlossen. Sie werden nun von den Soldaten getrennt, die auf der Uniform Abzeichen mit den russischen Farben Weiss-Blau-Rot tragen, und am nächsten Tag zurück über die Grenze nach Österreich gebracht. Für die 494 Angehörigen der Nationalarmee sind Schulhäuser zur Verfügung gestellt worden, später erfolgt die Einquartierung in Internierungslagern.
General Artur Holmston, mit richtigem Namen Boris Alexejewitsch Smyslowsky, erklärt, dass er ein «National-Russe» sei und mit der deutschen Wehrmacht gegen die Sowjetunion gekämpft habe. Seine «Erste Russische Nationalarmee» habe nichts mit der Russischen Befreiungsarmee unter dem Kommando von Andrei Wlassow zu tun, sondern sei eine von ihm aufgestellte Truppe, die sich seit 1941 für «Freiheit und wahre Demokratie in unserem Vaterland» eingesetzt habe. Noch im Februar 1945 seien Einheiten zum Einsatz an die Ostfront geschickt worden, doch im April habe er entschieden, die Flucht in Richtung Süddeutschland anzutreten, um von dort in die Schweiz zu gelangen.
Der Rückzug der 6000-Mann-Armee von der Ostfront in die Nähe der schweizerischen Grenze war mit grossen Verlusten verbunden. Dass Holmston seine Truppe nicht in die Schweiz führte, hängt mit dem Ratschlag des Schweizer Journalisten Heinrich Blumer zusammen, der in Warschau als Übersetzer zur Holmston-Truppe gestossen war. Blumer habe ihm den Ratschlag gegeben, sagt Holmston, nicht den direkten Weg über die stark befestigte Grenze in die Schweiz zu wählen, sondern zuerst nach Liechtenstein zu gelangen, «in das Vorzimmer der Schweiz».
Die Schweiz erreichen die Russen dennoch nicht. Der Chef des Grenzwachtkorps, Oberst Oskar Wyss, deutet schon nach der Entwaffnung gegenüber dem liechtensteinischen Polizeikommandanten Josef Brunhart an, die Russen seien nun eine Angelegenheit des Fürstentums. Auf eine Anfrage der liechtensteinischen Regierung teilt das Eidgenössische Politische Departement wenige Tage später mit, die Schweiz könne die Russen nicht aufnehmen.
Zwei späte Rückkehrer
Viele der Internierten finden sich nicht leicht mit ihrer Situation ab. Schon nach wenigen Wochen kehren etliche freiwillig in ihr Heimatland zurück, andere werden durch Druck einer angereisten Sowjetdelegation zur Rückkehr bewogen. Liechtenstein widersetzt sich den sowjetischen Forderungen nach Auslieferung der Verbliebenen. Letztlich reisen 100 Internierte nach Argentinien, das sich zur Aufnahme bereit erklärt hat. Zwei kehren später nach Liechtenstein zurück. General Holmston übersiedelt 1975 nach Vaduz und stirbt 1988 im Alter von 90 Jahren. Der 1947 ausgereiste Leutnant Michael Sochin kehrt 1952 mit Frau und Kindern ins Fürstentum zurück, wo er – inzwischen zum Liechtensteiner geworden – 1985 stirbt.