Versammlungsfreiheit: Ja, dürfen s' denn des?
KOMMENTAR DER ANDEREN | GEORG BÜRSTMAYR
2. Februar 2015, 17:46
In Österreich hält sich hartnäckig die Legende, dass
Demonstrationen "genehmigt" werden müssten. Seit bald 100 Jahren ist
das nicht mehr so, auch wenn viele das vor lauter Obrigkeitshörigkeit
ignorieren.
Es ist wohl eine der legendärsten Anekdoten Österreichs.
Kaiser Ferdinand I. blickt im März 1848 genervt aus der Hofburg auf eine
lärmende Menge und erfährt von Metternich: "Die machen eine Revolution,
Majestät." Er fragt fassungslos zurück: "Ja, dürfen s' denn
des?"
Sie durften nicht. Demonstrationen, von Revolutionen einmal
ganz abgesehen, waren in der k. u. k. Monarchie nicht vorgesehen. Die
1848er-Revolution, das erste Aufbegehren eines aufgeklärten Bürgertums in
Österreich, wurde blutig über den Haufen geschossen. Wenige Jahre später
herrschte der - neue - Kaiser wieder unangefochten und absolut. Zaghafte
Versuche einer ersten Verfassung waren schubladisiert. Erst nach der 1866
verlorenen Schlacht von Königgrätz sah sich das Kaiserhaus gezwungen, den
wieder aufflammenden Rufen nach Grundrechten und einer Verfassung nachzugeben.
So war das in früheren Jahrhunderten generell: Das Bürgertum erhielt Rechte
erst, wenn die Herrschenden wackelig im Sattel saßen. Voilà: Österreich hatte
mit dem Staatsgrundgesetz 1867 seinen ersten Menschenrechtskatalog.
Darin auch enthalten: das Recht auf Versammlungsfreiheit.
Freilich hieß es gleich im Anschluss: "Die Ausübung dieser Rechte wird
durch besondere Gesetze geregelt." Und das entsprechende Gesetz sah vor,
dass Versammlungen unter freiem Himmel genehmigt werden mussten. So ganz
geheuer war dem Kaiser die Sache mit der neuen Freiheit wohl nicht, vielleicht
wollte er aber einfach auch keinen Krach mehr vor seiner Hofburg. Noch war er
stark genug, ihn zu verhindern.
Aufgehoben
51 Jahre und einen weiteren verlorenen Krieg später war dann
Schluss mit der Monarchie, damit aber auch Schluss mit derartigen
Beschränkungen. Schon am 30. Oktober 1918 beschloss die provisorische
Nationalversammlung: "Die Ausnahmsverfügungen betreffs des Vereins- und
Versammlungsrechts sind aufgehoben. Die volle Vereins- und Versammlungsfreiheit
ohne Unterschied des Geschlechts ist hergestellt."
Es brauchte freilich fast ein weiteres halbes Jahrhundert,
bis der Verfassungsgerichtshof (VfGH) 1964 festhielt, dass mit diesem Beschluss
- also schon 1918! - auch die Genehmigungspflicht für Versammlungen unter
freiem Himmel gefallen war. Fast 50 Jahre hatte sich die typisch
österreichische Vorstellung, die Ausübung eines fundamentalen Rechts müsse erst
eigens erlaubt werden, quasi irrtümlich in den Gesetzbüchern gehalten. Nun
wurde der (laut VfGH eigentlich längst ungültige) Genehmigungsparagraf
endgültig gestrichen.
Seither ist es also eindeutige und unstrittige Rechtslage,
dass Versammlungen nicht genehmigt werden müssen, ja gar nicht können. Sie sind
per se zulässig und verfassungsrechtlich geschützt (zwar sollen sie im Vorfeld
bei der Polizei angezeigt werden, und die Polizei kann beziehungsweise muss sie
im Einzelfall untersagen, wenn sie die öffentliche Sicherheit oder das
öffentliche Wohl gefährden oder den Strafgesetzen zuwiderlaufen. Die
Voraussetzungen für so ein Verbot sind allerdings sehr streng. Im Einzelfall
des "NoWKR-Bündnisses" dürften sie heuer dennoch vorgelegen haben -
aber das ist eine andere Geschichte).
Zeitsprung um weitere 50 Jahre. Geschäftsleute und
Wirtschaftskammer diskutieren ein Demonstrationsverbot wegen
Geschäftsschädigung für die Ringstraße und/oder die großen Einkaufsstraßen,
ohne dass sie verlacht werden (das verfassungsgesetzlich gewährleistete
Versammlungsrecht ließe derartige Verbote wegen vermögensrechtlicher Nachteile
nicht einmal im Ansatz zu). Eine Bezirksvorsteherin in Wien fordert allen
Ernstes den Einsatz des Bundesheeres gegen Demonstranten, ohne dass ein
Aufschrei durch Österreich geht. Und praktisch alle österreichischen Medien, ob
TV, Print oder elektronisch, wiederholen stur und immer wieder in ihren
Meldungen die Formulierung, die Polizei hätte - jüngst wieder rund um den
Akademikerball - Demonstrationen und Kundgebungen erlaubt, zugelassen oder
genehmigt. Niemandem fällt auf, dass sie damit über eine Schimäre berichten,
die so irreal ist wie das Ungeheuer von Loch Ness.
Die Genehmigung, Erlaubnis oder Zulassung einer
Demonstration gibt es in Österreich nicht. Seit 1918 ist das die Rechtslage,
seit 1964 ist das endgültig klipp und klar. Seit 50 Jahren wurde in Österreich
keine einzige Demonstration, keine Kundgebung, keine Versammlung mehr
"genehmigt". Einfach, weil es das nicht braucht, weil das nicht geht,
weil es gar nicht möglich ist.
Und trotzdem sieht ganz Österreich immer noch aus dem
Fenster und fragt: "Ja, dürfen s' denn des?" Es hat schon einen
Grund, dass sich die Anekdote vom Kaiser Ferdinand so hartnäckig hält. Der
Obrigkeitsstaat der k. u. k. Monarchie ist aus unseren Köpfen einfach nicht
rauszukriegen. (Georg Bürstmayr, DER STANDARD, 3.2.2015)
Georg Bürstmayr (Jahrgang 1963) ist Rechtsanwalt in Wien.
VfSlg. 4885/1964: (Auszug des Leitsatzes):
Leitsatz
Bloß zufälliges Zusammentreffen mehrerer Menschen keine Versammlung Versammlungen (im engeren Sinn) unterliegen nicht der Bewilligungspflicht sondern der Anzeigepflicht; Verhängung einer Verwaltungsstrafe wegen Aufstellen eines Informationstisches ohne Bewilligung; Zweck dieser Veranstaltung Information zufällig vorüberkommender Passanten; keine Versammlung mangels "gewisser Assoziation der Zusammengekommenen"; keine Verletzung des Rechtes auf Versammlungsfreiheit; Möglichkeit der Berührung des Rechtes auf Meinungsäußerungsfreiheit entsprechen materiellem Gesetzesvorbehalt des Art10 Abs2 MRK; keine Bedenken gegen Abwägung des Interesses an der Meinungsäußerungsfreiheit gegen jenes des Straßenverkehrs durch Organe der Vollziehung im Einzelfall; keine denkunmögliche Gesetzesanwendung.
Leitsatz
Bloß zufälliges Zusammentreffen mehrerer Menschen keine Versammlung Versammlungen (im engeren Sinn) unterliegen nicht der Bewilligungspflicht sondern der Anzeigepflicht; Verhängung einer Verwaltungsstrafe wegen Aufstellen eines Informationstisches ohne Bewilligung; Zweck dieser Veranstaltung Information zufällig vorüberkommender Passanten; keine Versammlung mangels "gewisser Assoziation der Zusammengekommenen"; keine Verletzung des Rechtes auf Versammlungsfreiheit; Möglichkeit der Berührung des Rechtes auf Meinungsäußerungsfreiheit entsprechen materiellem Gesetzesvorbehalt des Art10 Abs2 MRK; keine Bedenken gegen Abwägung des Interesses an der Meinungsäußerungsfreiheit gegen jenes des Straßenverkehrs durch Organe der Vollziehung im Einzelfall; keine denkunmögliche Gesetzesanwendung.
Strafrechts-Prof. Helmut Fuchs bezweifelt im Ö1-"Mittagsjournal", dass die Blockade der PEGIDA-Route unter die §§ 284 oder 285 StGB ("Sprenung" oder "Störung einer Versammlung") fällt: "Wenn die Versammlung bereits an dem Ort ist, wo sie stattfinden kann, dann kann man nicht davon sprechen, dass der Versammlungsraum unzugänglich gemacht wurde."
Auch LVT Wien-Chef Erich Zwettler gibt gegenüber Ö1 bekannt, dass "keineswegs fix" sei, dass diese Paragraphen angewendet werden - es werde noch genauere Abklärungen mit Beamten vor Ort und der Staatsanwaltschaft geben, so Zwettler. Die LPD Oberösterreich prüft ein Verbot der angekündigten PEGIDA-Versammlung in Linz am Sonntag, zu der sich auf Facebook bereits über 1.000 GegendemonstrantInnen angekündigt haben (https://www.facebook.com/events/642878275818878).
Gegen mehrere Teilnehmer der PEGIDA-Kundgebung werde wegen § 3, Verbotsgesetz, ermittelt und vorliegendes Bildmaterial ausgewertet.