Die Lawinenkatastrophe von Galtür im Februar 1999, die das Dorf Galtür
und den Weiler Valzur im hinteren Paznaun, einem Seitental des Inns, teilweise
verschüttete, war eines der größten Lawinenunglücke in der Geschichte
Österreichs und gleichzeitig der Auslöser der größten Evakuierungsaktion
mittels Hubschraubern.
Vorgeschichte und Auslöser
Der Lawinenwinter 1999 war
insgesamt in den Alpen eines der verheerendsten Starkschneeereignisse der
Geschichte. Insbesondere die beiden Staulagen 27.–31. Januar und 5.–12. Februar
bauten eine mächtige, aber hochgradig instabile Schneedecke auf, die die
Niederschläge der Staulage 17.–25. Februar nicht mehr tragen konnte, was dann
zu zahlreichen Selbstauslösungen führte.
Ab dem 20. Jänner 1999 kam es
über dem Nordatlantik immer wieder zu schweren Stürmen, deren
Niederschlagsfronten an der Nordseite der Alpen zu ergiebigen Schneefällen
führten. Im Raum Galtür gab es bis zum 23. Februar etwa vier Meter Neuschnee,
damit fiel im Monat Februar etwa sechsmal so viel Schnee wie gewöhnlich in
diesem Monat. Noch extremere Schneemengen sammelten sich im Anrissgebiet der
Unglückslawinen. Dies war auf die Topographie des betreffenden Bergkammes
zurückzuführen, welcher auf seiner damaligen Luvseite sehr flach in einem
großen Hochplateau abfällt. So konnte der stürmische Wind enorme Mengen
Triebschnee von diesem Plateau auf den nach Galtür gerichteten Leehang
verlagern.
Auch dies war sehr ungewöhnlich,
da es sich um extremes Steilgelände handelt, in dem sich Lawinen bei vergleichbarer
Schneeakkumulation meist viel eher spontan lösen und so nicht jene Größe von
1999 erreichen. Auf diese Weise lässt sich der etwas verwirrende Umstand
verstehen, dass zum Unglück von Galtür letztlich ein extrem stabiler
Schneedeckenaufbau geführt hat. Die Abfolge von mehreren Sturmtiefs mit
entsprechend großen Temperatursprüngen von arktischer Kälte bis zu Temperaturen
nahe dem Gefrierpunkt sowie jeweils ein bis zwei Tage Pause zwischen den großen
Niederschlagsereignissen führten dazu, dass sich der Neuschnee jeweils soweit
setzen und stabilisieren konnte, dass er den nächsten Schnee wieder auffangen
konnte. Gleichzeitig konnten sich in den kurzen Niederschlagspausen keine
ausgeprägten Schwachschichten in der Schneedecke ausbilden.
So wurde der Kollaps der bis
dahin enorm angewachsenen Schneedecke bis zum 23. Februar 1999 hinausgezögert.
An diesem Tag gab die Verbindung zum kantigen Schneedeckenfundament aus dem
Frühwinter des Jahres unter der gewaltigen auf ihr lastenden Masse nach und die
Lawine ging mit einer 100 Meter hohen Staubwolke zu Tal.
Die Katastrophe
Die starken Schneefälle hatten in
Westösterreich zu zahlreichen Verkehrsbehinderungen geführt. Zwischen Ende
Jänner und dem 18. Februar mussten Hubschrauber des österreichischen
Bundesheers und des Innenministeriums rund 40 Versorgungs-, Wildfütterungs- und
Erkundungsflüge mit Lawinenkommissionen durchführen.
Ab dem 27./28. Jänner herrschten
im Raum Paznaun Lawinenwarnstufen ab 3, immer wieder aber 4/5, und die
Silvretta Bundesstraße (B 188) zwischen Pians und Galtür – die einzige
Zufahrtsstraße nach Galtür, da ab Wirl die weiterführende
Silvretta-Hochalpenstraße im Winter prinzipiell gesperrt ist – wurde seit dem
6. Februar immer wieder aus Sicherheitsgründen geschlossen, sodass die Region
nicht mehr erreichbar war. Im Paznaun mussten ab dem 9. Februar wiederholt
Versorgungsflüge mit einer in Schwaz stationierten Alouette III des Bundesheers
geflogen werden, da auch die einzige Zugangsstraße wieder gesperrt wurde.
Zuletzt war sie eine ganze Woche lang gesperrt worden. Lediglich am Samstag,
dem 13., wurde sie für einige Stunden geöffnet, um den Urlauber-Schichtwechsel
zu ermöglichen. Zu dieser Zeit befanden sich neben den etwa 850 Einwohnern etwa
5.000 Urlaubsgäste im Tal.
Zu den Kritikern, die sich
nachdrücklich für eine frühzeitige Räumung Galtürs ausgesprochen hatten,
gehörte auch ein Experte aus Tirol. Sein Argument, dass es in Galtür in einem
Zeitraum von 500 Jahren zu 13 Lawinenabgängen mit insgesamt 57 Toten gekommen
sei, wurde von Galtür nicht akzeptiert. Alle diese Lawinen seien vom
mittlerweile gesicherten Nordhang abgegangen und vom südexponierten Hang, woher
diesmal die Lawinen kamen, hätte sich bisher noch keine einzige Lawine gelöst.
Ab dem 20. Februar 1999 boten
zwei private österreichische Hubschrauber-Unternehmen den Eingeschlossenen die
Möglichkeit, diese gegen rund 180 Euro auszufliegen.
Dienstag, 23. Februar 1999: Die große Lawine
Am 23. Februar 1999 mussten wegen
der schlechten Wetterverhältnisse die Versorgungsflüge mit Hubschraubern des
österreichischen Bundesheeres, die seit dem 20. Februar durchgeführt wurden,
eingestellt werden.
Die erste Lawine mit etwa 400
Metern Breite ging am 23. Februar 1999 gegen 16:00 Uhr vom nördlich von Galtür
gelegenen Sonnberg ab. Die Abrissstelle lag in einer Höhe von ungefähr 2.700
Metern Seehöhe. Die Lawine, die sich mehrfach teilte, zerstörte zahlreiche
Häuser und verschüttete über 50 Menschen, von denen etwa 20 relativ rasch
geborgen werden konnten.
Gegen 16:30 Uhr langte die
Meldung über eine große Lawine in der Pontlatz-Kaserne in Landeck ein. Der
Schneesturm verhinderte den Start von Bundesheerhubschraubern mit
Hilfsmannschaften. In einer Krisensitzung wurde beschlossen, um 6:45 Uhr des
nächsten Tages mit den Hilfsflügen zu beginnen und während der Nacht die
notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Bei entsprechender Wetterlage sollten
die Flüge aber auch schon während der Nachtstunden durchgeführt werden.
Die Bewohner von Galtür und
eingeschlossene Urlauber waren deshalb in der Nacht auf sich alleine gestellt,
die Verschütteten zu suchen und Verletzte zu versorgen. Unter anderem wurde in
der Sporthalle ein Notlazarett eingerichtet, in dem der Gemeindearzt sowie
Ärzte und Krankenschwestern, die sich unter den Touristen befanden, die
Lawinenopfer betreuten.
Ungefähr drei Stunden nach der
ersten Lawine wurde die Tiroler Landeswarnzentrale von Anrufen besorgter
Angehöriger überrollt, die ebenso wie die Medien nach Informationen verlangten.
Etwa 20 Kamerateams suchten wegen der verhängten Flugverbotszone um eine
Genehmigung für Hubschrauberflüge nach Galtür an.
Wegen zahlloser Telefonate waren
sowohl das Festnetz als auch die Mobiltelefonnetze dermaßen überlastet, dass
eine Kontaktaufnahme mit den Verantwortlichen in Galtür fast nicht möglich war.
Deshalb wurde gegen 19:30 Uhr die Kurzwellengruppe des Rotkreuz-Landesverbands
Tirol damit beauftragt, eine Funkverbindung in die von der Außenwelt
abgeschnittene Gemeinde herzustellen. Ansprechpartner dort war der Arzt und
Funkamateur Walter Köck, den man wenige Minuten nach 21:00 Uhr schließlich
erreichen konnte. Am 24. Februar wurde der erste echte Einsatz einer
Kurzwellengruppe des Roten Kreuzes gegen 21:00 Uhr beendet.
Gegen Mitternacht ging eine
weitere Lawine Richtung Galtür ab, diese forderte aber keine Menschenleben.
Da der Einsatzstab die Stärke der
eingesetzten Fliegerkräfte als nicht mehr ausreichend erachtete, richtete die
österreichische Bundesregierung in der Nacht vom 23. auf den 24. Februar 1999 ein
Hilfeersuchen an die NATO sowie die Nachbarstaaten Österreichs. Die Spitäler in
der näheren Umgebung richteten sich für die nächsten Tage auf eine große Zahl
Verletzter ein. Nicht dringend notwendige Operationen wurden verschoben.
Fahrzeuge für den Krankentransport und Notärzte wurden nach Landeck in die
Pontlatz-Kaserne verlegt.
Mittwoch, 24. Februar 1999: Valzur
Da die Festlegung von geeigneten
Landeplätzen in Galtür aufgrund der Österreichischen Militärkarte zu unsicher
war, wurde während der Nachtstunden vom für Galtür zuständigen Raumplaner eine
Gefahrenzonenkarte unter Zuhilfenahme von Informationen, die über den Kurzwellenfunk
des Roten Kreuzes und der Feuerwehr einlangten, adaptiert und dem Krisenstab
zur Verfügung gestellt.
Ab 6:45 Uhr konnten die ersten
Helfer samt Material (ungefähr 200 Personen, Lawinensuchhunde, medizinisches
Material, etc.) mit den Bundesheerhubschraubern nach Galtür gebracht werden. Im
Laufe des Vormittags wurde die Zahl der Helfer auf etwa 400 aufgestockt. Ab etwa
7:15 Uhr wurden die ersten Schwerstverletzten mit dem Rettungshubschrauber
Christophorus 5 des ÖAMTC nach Zams ins Spital gebracht.
Um das Bedürfnis der Medien nach
Informationen zu stillen, wurde in der Pontlatzkaserne ein Medienzentrum
eingerichtet. Zusätzlich wurden Angehörige der Heeresbild- und Filmstelle in
Galtür eingeflogen, um die Journalisten mit Bild- und Filmmaterial versorgen zu
können. Erst nach der Bergung der letzten vermissten Person wurden Reporter und
Filmteams – insgesamt etwa 150 Personen – mit Militärhubschraubern nach Galtür
geflogen, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen und um an einer
Pressekonferenz mit dem örtlichen Einsatzleiter, dem Bürgermeister, dem
Landeshauptmann von Tirol (Wendelin Weingartner) sowie Helfern bei den Bergungsarbeiten
teilzunehmen.
Ab etwa 16:00 Uhr setzte
neuerlich starker Schneefall ein, so dass der Flugbetrieb wieder eingestellt
werden musste. Kurz danach kam es im benachbarten Valzur zu einem weiteren
Lawinenabgang, bei dem zehn Menschen verschüttet wurden. Ein Hubschrauberpilot
der Flugpolizei des Innenministeriums, der es mit seinem Hubschrauber nicht
mehr vor dem Schneesturm zurück nach Landeck geschafft hatte, riskierte trotz
des schlechten Wetters den Flug ins fünf Kilometer entfernte Valzur. Auf diese
Art und Weise konnten in relativ kurzer Zeit rund 150 Helfer mit Suchhunden und
Ausrüstung an den Einsatzort gebracht werden. Vier verschüttete Personen
konnten noch lebend geborgen werden.
Zwar trafen die ersten
ausländischen Hilfskräfte in Tirol ein, konnten aber wegen der Wetterlage nicht
mehr eingesetzt werden.
Gegen 20:00 Uhr musste in Valzur
wegen zu großer Lawinengefahr die Suche nach Verschütteten unterbrochen werden.
In den Morgenstunden des nächsten Tages wurde die Suchaktion wieder
aufgenommen. Beendet wurde sie um 12:00 Uhr des 26. Februar.
Donnerstag, 25. Februar 1999
Bei wesentlich besserem Wetter
als in den Tagen davor konnten die Piloten des Bundesheeres bereits am Morgen
wieder ihre Transportflüge aufnehmen. Die ausländischen Helikopter trafen im
Laufe des Vormittags im Einsatzgebiet ein. Nach einer Einweisung in die Lage
begannen sie mit ihrer Aufgabe. Landeplätze im Inntal waren die Kaserne in
Landeck sowie die gesperrte Inntal-Autobahn bei Imst, im Paznaun Galtür,
Ischgl, Kappl, Mathon, Paznaunerhof, Tschaffein, Valzur, Versahl und Wirl. Um
durch die vom Flugverkehr entstehenden Luftvibrationen keine weiteren
Lawinenabgänge auszulösen, flogen die Hubschrauber nach Möglichkeit unterhalb
der Waldgrenze und mit einem entsprechenden Sicherheitsabstand zu den
Berghängen. Geflogen wurde nach der Rechtsregel.
Freitag, 26. Februar 1999
Auch am Freitag herrschte gutes
Flugwetter, so dass die Maschinen in extrem kurzen Abständen fliegen konnten.
Im Laufe des Tages trafen auch Helikopter der französischen Luftwaffe ein, um
sich an der Rettungsaktion zu beteiligen. Von der in Bludesch in Vorarlberg
gelegenen Walgau-Kaserne operierten drei österreichische Agusta Bell 212 und
eine Alouette III. Unterstützung fanden sie in einer UH 1D aus Deutschland und
einem schweizerischen Super Puma.
Samstag, 27. Februar 1999
An diesem Tag wurde der
Rettungseinsatz auf der Lawine von Galtür beendet. Angehörige des
österreichischen Bundesheers waren allerdings noch bis zum 17. Juni 1999 mit
Aufräumungsarbeiten beschäftigt.
Am 28. Februar wurde die
Lawinenwarnstufe erstmals wieder auf 3 zurückgenommen, am Abend um 18:00 Uhr
konnte die Straße zwischen Pians und Galtür für den öffentlichen Verkehr wieder
gänzlich freigegeben werden.
Versorgung der Evakuierten
Sammelstellen für die Evakuierten
waren die Pontlatzkaserne (Landeck) und die Verdroßkaserne (Imst). Hier
erfolgten eine Erstversorgung (unter anderem mit Essen, aber auch medizinisch
und erstmals in Österreich in einem Katastrophenfall auch psychologisch durch
etwa 30 freiwillige Psychologen und Psychiater) sowie eine Registrierung. Auch
Vertreter der deutschen und niederländischen Botschaften waren anwesend.
Personen, die anschließend sofort in ihre Heimat zurückkehren wollten, wurden
mit Bussen zu den Bahnhöfen gebracht. Von dort wurden sie entweder mit
fahrplanmäßigen Zügen oder Sonderzügen kostenlos in ihre Heimatorte in ganz
Europa gebracht. An dem Rettungseinsatz, der schließlich neben dem Paznaun auch
das Kaunertal, das Pitztal und das Stanzertal umfasste, waren neben Österreich
auch Einheiten aus Deutschland, den Vereinigten Staaten, Frankreich und der
Schweiz beteiligt.