Donnerstag, 25. Dezember 2014

Ungarns Räterepublik

Von Revolutionären und gefallenen Engeln
Magyarországi Tanácsköztársaság
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Mit der Räterepublik wurde in Ungarn 1919 erstmals die Umsetzung der kommunistischen Idee versucht

Wien - "Im Jahre 1919 war Kommunismus ein neues Wort mit einem guten, rechten und hoffnungsvollen Klang", erinnert sich der Schriftsteller Arthur Koestler in seinen Memoiren an die wenigen Monate der ungarischen Räterepublik. Nur 133 Tage dauerte dieses kommunistische Experiment nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Monarchie, doch es prägte das Leben, Denken und Schaffen vieler Künstler und Intellektueller dieser Zeit.
Eine Größe des ungarischen Geisteslebens war sogar als Regierungsmitglied der Räterepublik aktiv: der Philosoph und Literaturwissenschafter Georg Lukács, der als stellvertretender Volkskommissar für das Unterrichtswesen zuständig war. Koestler war damals 14 Jahre alt und erinnert sich an "seltsame, aufregende Dinge", die sich in diesen Tagen an seiner Schule ereigneten: "Neue Lehrer traten in Erscheinung, die auf eine neue Weise zu uns sprachen und uns mit einem feierlichen, wohlgemeinten Ernst wie Erwachsene behandelten."
Bildung, Kunst und Kultur hatten hohe Priorität: Das Schulwesen, Theater und Museen wurden verstaatlicht, eine einheitliche Schule für alle 6- bis 14-Jährigen eingeführt, bekannte Künstler entwarfen Propagandaplakate: "Es ist nur dem Sachverständigen bekannte geschichtliche Kuriosität, dass die Plakate der ungarischen Kommune von 1919 einen der Höhepunkte der angewandten Kunst darstellen", schreibt Koestler.
Kulturwissenschaftliche Terra incognita
An der Budapester Universität lehrte in dieser Zeit der später berühmt gewordene Soziologe Karl Mannheim, der nach der Niederschlagung der Räterepublik nach Wien emigrierte.
Auch in einem Frühwerk Anna Seghers', dem Roman Die Gefährten, spielen die Räterepublik und ihre später verfolgten Vertreter eine zentrale Rolle. Erstaunlicherweise ist diese historische Kerbe im Bewusstsein der europäischen Linksintellektuellen bis heute weitgehend eine kulturwissenschaftliche Terra incognita.
Ein Versäumnis, welches das Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte und Theorie der Biografie kürzlich veranlasste, gemeinsam mit dem Institut für ungarische Geschichtsforschung in Wien (Balassi-Institut, Collegium Hungaricum Wien) und dem Institut für europäische und vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Wien (Abteilung Finno-Ugristik) ein Symposium zu "Ungarn 1919: Die Verlockung des Kommunismus" zu veranstalten.
Dass sich gerade die österreichische Forschung für dieses Thema interessiert, ist kein Zufall, wie der Biografieforscher und Initiator des Symposiums, Albert Dikovich, betont: "Viele der politisch involvierten Intellektuellen flüchteten nach der Niederschlagung der Räterepublik nach Wien, wo sie eigene Zeitschriften herausgaben und von wo aus versucht wurde, die ungarische Politik aus dem Untergrund zu beeinflussen."
Hoffnungsvoller Anfang
Welche Änderungen brachte die Räteregierung unter Béla Kun den Menschen? Durch eine Reihe von Maßnahmen sollte die Lebenssituation der Bevölkerung im Sinne des Sozialismus verbessert werden: Industrie-, Bergbau-, Verkehrs- und größere Handelsbetriebe, Banken und Versicherungen sowie der Großgrundbesitz wurden verstaatlicht.
Die Löhne der Arbeiter und die Renten der Kriegsopfer wurden deutlich angehoben, kostenlose Gesundheitsfürsorge, der Achtstundentag und bezahlter Jahresurlaub eingeführt. Uneheliche Kinder wurden rechtlich den ehelichen gleichgestellt, die Mieten für Kleinwohnungen gesenkt, Schulunterricht und Hochschulstudium waren kostenlos.
Frauen und Männer ab 18 Jahren waren zur Wahl der Räte berechtigt (ausgenommen waren allerdings Geistliche und "Kapitalisten"). Pressezensur und ein großer Propagandaaufwand sollten die sozialistische Indoktrinierung der Bevölkerung vorantreiben.
Indes scheiterte die "Diktatur des Proletariats" nicht nur aufgrund der aufreibenden kriegerischen Auseinandersetzungen mit den von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs unterstützten Nachbarländern.
"Die Räteregierung machte auch schwerwiegende politische Fehler, durch die sie ihren Rückhalt in der Bevölkerung verspielte", sagt Dikovich.
Die Verstaatlichung des Großgrundbesitzes rief vor allem bei den Millionen Kleinstbauern großen Unmut hervor, da sie sich vom neuen Regime eine Aufteilung des Landes erhofft hatten. "Dadurch kam es verstärkt zu Produktionsausfällen und konterrevolutionären Aktionen, die blutige Gegenmaßnahmen der Kommunisten zur Folge hatten."
Bittere Ironie der Geschichte
Am 1. August 1919 besetzten rumänische Truppen Budapest, das kommunistische Experiment war beendet. Béla Kun konnte nach Österreich flüchten und emigrierte später in die Sowjetunion. Dort wurde er 1938 im Rahmen der Stalin'schen Säuberungen erschossen.
Ein bitterer Zynismus der Geschichte, der auch Arthur Koestlers politische und schriftstellerische Entwicklung beeinflusste: "Ich zweifle nicht daran, dass auch der ungarische Kommunismus im Lauf der Zeit in einen totalitären Polizeistaat ausgeartet wäre, da er sich seinem russischen Vorbild hätte zwangsweise anpassen müssen", schreibt er in seinen Erinnerungen. "Doch dies ist eine nachträgliche Erkenntnis; die Anfänge der Revolution in Ungarn, in Bayern, im Ruhrgebiet und in Russland selbst waren von einer hoffnungsvollen und überschäumenden Stimmung getragen."
In seinem 1940 erschienenen Bestseller Sonnenfinsternis rechnet Arthur Koestler schließlich mit dem Kommunismus ab. Über seinen Weg der Desillusionierung meinte er nicht ohne (Selbst-)Ironie: "Ehemalige Kommunisten sind gefallene Engel, welche die Taktlosigkeit begehen, zu verraten, dass es in ihrem Himmel nicht ganz so zugeht, wie man es sich vorstellt." (Doris Griesser, DER STANDARD, 24.12.2014)