Foto: https://www.flickr.com/photos/theredproject/ CC BY-SA 2.0Foto: https://www.flickr.com/photos/theredproject/ CC BY-SA 2.0
Vor 25 Jahren brachte das chinesische Regime tausende Aktivistinnen und Aktivisten in Peking um.  Studierende und ArbeiterInnen revoltierten gegen die Unterdrückung des Regimes. Auch in den Protestbewegungen heute, wird jährlich diesem Ereignis gedacht. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir einen Augenzeugenbericht von 1989 eines Unterstützers von “Militant”. Steve Jolly, damals 27 Jahre alt, geboren in London, ging in Südafrika zur Schule und besuchte dort die Universität von Kapstadt. Nach mehrjähriger Aktivität als Unterstüt­zer der Zeitung „Militant“ in der britischen Arbeiterbewe­gung übersiedelte er nach Australien und wurde Herausgeber der dortigen „Militant“. Heute ist er Stadtrat in Melbourne und aktiv in der australischen Socialist Party.

Steve Jolly: Augenzeuge in China

Auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Mai, Juni 1989
Ich ging nach China, um aus erster Hand die Bewe­gung im bevölkerungsreichsten Land der Welt, mit einem Viertel der Weltbevölkerung, kennenzulernen. Ich ging, um politische und organisatorische Erfahrungen mit den besten der Studie­renden in Peking und Schanghai und den besten des Proletariats auszutauschen.
Nichts hätte mich auf das vorbereiten können, was ich gesehen habe. Es war das Großartigste, was ich in der ganzen Zeit, seit ich Politik betreibe, gesehen habe. Ich kam am Sonntag vor dem Mas­saker an, dem letzten Sonntag im Mai. Nachdem ich mich eingerichtet hatte, wollte ich zum Platz des Himmlischen Friedens gehen. Ein gewaltiger Marsch fand gerade statt. Daher war es schon eine Schlacht für sich, überhaupt zum Platz zu gelangen.
Es war ein Marsch von ca. 200.000 Men­schen — einige der Studierenden waren, wie ich später hörte, etwas ent­täuscht, dass er nicht größer war. Viele Arbeite­rInnen arbeite­ten nicht, da es ja Sonntag war, und nahmen an dem Marsch teil. Er fand auf einer achtspurigen Schnellstraße statt, die absolut vollgestopft war — eine kilometerlange Masse roter Fahnen mit chinesischer Schrift. Dort waren Delegati­onen der StahlarbeiterInnen, Universitä­ten, Lehrervereinigungen etc., die Parolen gegen die Regierung an­stimmten und alle die Internationale sangen.
Wenn das, was ich heute sage, einen Grund hat, dann denjenigen, die Lügen zu widerlegen, die die stalinistische chinesi­sche Regierung in die Welt gesetzt hat, und die international von der kapitalisti­schen Presse übernommen wurden, nämlich dass diese Bewegung der Mas­sen in China „konterrevolutionär“ oder „pro-kapitalistisch“ sei. Denn vom Anfang bis zum Ende habe ich nie auch nur einen Menschen getroffen — sei er Student, Ar­beiter oder auch Bauer — der irgendwel­che Einbildung hatte, dass das Ziel ihres Kampfes der Kapitalismus sei, egal wel­cher Art, Gestalt oder Form.

Der Platz des Himmlischen Friedens

Nach ungefähr drei Stunden gelangte ich zum Platz des Himmlischen Friedens. Er für sich allein war schon ein einmaliger Anblick. Dort im Zentrum von Peking liegt dieser aus architektonischer Sicht ab­scheuliche stalinisti­sche Platz. Er ist ge­waltig, hat wahrscheinlich ungefähr die Größe von vier bis fünf Kricketfeldern oder fünf bzw. sechs Fußballplätzen. Di­rekt in der Mitte steht der historisch be­deutsame Obelisk, das Denkmal der Hel­den des Volkes. Viele Reden Maos, viele große Versammlungen fanden in der Ver­gangenheit dort statt. Der größte Teil des Platzes wurde von Zelten eingenommen — einige wa­ren Marke Eigenbau, andere hatten die Studierenden von Hongkonger KommilitonInnen und aus dem Westen erhalten. In einigen Zelten waren immer noch Hungerstreikende, obwohl die meisten diese Form des Streiks einge­stellt hatten.
Im Norden des Platzes liegt die Verbotene Stadt mit einem großen Bild von Mao, der auf den Platz herabschaut. Ich weiß nicht, was er gedacht haben würde, wenn er hätte sehen können, was dort vor ihm ge­schah! Nebenbei bemerkt, das ist das einzige Bildnis von Mao, das es in Peking noch gibt. In der Jugend existieren nur wenige Illusionen über Mao. Offensicht­lich gab es eine massive politische Kam­pagne der Bürokratie gegen Mao nach dessen Tod. Die Erfahrungen mit der Kulturre­volution brachten ihn in Misskre­dit. Seine Frau und die „Viererbande“ sind der Regierung und dem Volk absolut ver­hasst. Für ältere ArbeiterInnen, die sich an die Zeit vor 1949 und an die frühen Jahre danach erinnern können, ist es et­was anders, weil sie noch wissen, wie die Büro­kratie früher zurückhaltender, be­grenzter und weniger korrupt war als heute, wo die großen Bürokraten und Ar­meeführer in dicken Wagen in Peking he­rumfahren.
Auf dem Platz des Himmlischen Friedens gibt es außerdem drei scheußlich ausse­hende Gebäude im Süden, Westen und Osten. Aber sie sahen klein aus, vergli­chen mit der Volksmasse auf dem Platz selbst.
Ich hatte das Gefühl, im Zentrum der Welt zu sein, denn die Augen und Ohren von Arbeitern, Studenten und Bauern der ganzen Welt richteten sich auf diesen Platz — jeden Tag im Radio, in der Zei­tung und im Fernsehen. Die Elite der ka­pitalistischen Journalisten der ganzen Welt war hier. Aber was viel wichtiger war, hier prote­stierten die besten der Stu­dierenden und des Proletariats eines Viertels der Weltbevölkerung.
Als ich dort ankam, dachte ich, ich müsse hingehen und mit den Leuten diskutieren. Zuerst war ich etwas besorgt darüber, wie sie mich aufnehmen würden. In der Schule hört man vom „Bambusvorhang“ und fragt sich, was man als Mensch von der anderen Seite des Planeten zu bieten hat. Was weiß man schon über China? Denn diese Leute spielten offensichtlich nicht. Sie riskierten ihr Leben im Hunger­streik und waren der Gefahr der Unter­drückung ausgesetzt, die sie zu der Zeit schon zu spüren bekamen, und die eine Woche später noch viel stärker werden sollte.
Aber sobald ich auf die Zelte zuging, war jegliche Besorgnis wie weggeblasen. Ich kam zum ersten Zelt und traf dort einige Studierende aus Schanghai. Sie waren seit einigen Tagen dort. Glücklicherweise sprachen ein paar von ihnen Englisch. Ich setzte mich und wurde gefragt:
„Bist du Reporter?“ Ich antwortete: „Nein, ich bin Marxist. Ich bin ein Sozialist aus dem Westen. Ich bin hier, um mir anzu­hören, was ihr zu sagen habt, denn wir wollen uns nicht auf die kapitalistischen Zeitungen ver­lassen, um die Forderungen eures Kampfes zu erfahren. Wir wollen sie von euch selbst hören. Ihr sollt wis­sen, dass Arbeiter und Jugendliche auf der ganzen Welt euren Kampf mit großer Anteilnahme verfolgen. Wir wollen von euch lernen. Ihr zeigt uns einen Weg nach vorne. Aber wir würden auch gerne einige Erfahrungen austauschen. Denn vielleicht könnten einige der Erfahrungen, die wir in Übersee gemacht haben, seien sie politisch oder orga­nisatorisch, euch helfen.“

Überschäumende Freude

Als ich das gesagt hatte, konnte man die große Freude darüber sehen, dass je­mand gekommen war, um sie zu unter­stützen. Sie gaben mir einen kleinen Stuhl und boten mir immer wieder Zigaretten und kalte Getränke an — ich lehnte na­türlich dankend ab! Ihr solltet sehen, wie arm diese Studenten sind. Auch wenn man dort die Uni­versität besucht — und darauf komme ich später zurück — gehört man, wirtschaftlich gesehen, nicht zu einer pri­vilegierten Elite. Diese Leute, von denen einige im Hun­gerstreik gewesen waren, saßen einfach da und behan­delten mich fast wie einen König, weil ich als Sozialist gekommen war und sie unterstützen wollte.
Sobald ich zu reden anfing, versammel­ten sich Leute um das Zelt. Auf einmal waren es 50. Es wären noch mehr gewe­sen, aber da ich so weit hinten in dem kleinen Zelt saß, war es den Leuten draußen nicht möglich, zu hören, was ich sagte. Sie rangelten direkt miteinander, um nach vorne zu kommen, damit sie hö­ren konnten, was ich zu sagen hatte. Es erinnerte mich an John Reeds „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“, ich war aber von noch größerer Genugtuung er­füllt, denn wir waren nicht einfach als Re­porter dort. Selbstverständlich woll­ten wir etwas lernen, aber auch die Entwicklung dieser Bewegung mit marxistischen Ideen und marxistischer Or­ganisation unterstüt­zen.
In den Diskussionen gaben sie mir einen Überblick über die Erfahrungen der letz­ten Wochen in China, was die Studieren­denbewegung betrifft, und über ihre Vor­stel­lungen von den Perspektiven und nächsten Schritten. Was sie im Grunde von mir wollten, war genau das, was ich ihnen anbieten konnte. Sie sagten mir oft: „Wir er­halten viel Geld aus Übersee, und das ist großartig. Aber wir wollen mehr als Geld. Wir wollen Ideen. Das ist der beste Weg uns zu helfen.“ Das sagte man mir immer wie­der in anderen darauffol­genden Diskussionen.
Was ich den Studenten aus Schanghai an diesem Tag und in den meisten anderen Diskussionen sagte, war dies: „Die erste Lehre, die ihr lernen müsst, ist die Not­wendigkeit für die Studierendenbewe­gung, sich mit den ArbeiterInnen zu ver­binden, da die Studierenden den Kampf nicht alleine gewinnen können.“ Ich ging über zur Frage der Macht der Arbeiter­klasse, zum Grund, warum die Arbeite­rInnen diesen Kampf leiten müssen, und warum es für die Stu­dierenden wichtig sei, zu versuchen, auf jede mögliche Art Verbindungen mit den ArbeiterInnen her­zustellen — und wenn es irgendeine Ent­wicklung in Richtung einer unabhängi­gen Gewerkschaft gäbe, sollten sie sie unter­stützen und ausbauen. Denn das sei ihr Schlüssel zum Sieg — nicht nur für die ArbeiterInnen, sondern auch für die Stu­dierenden selbst. Wir besprachen die Frage, warum die Russische Revolution im Oktober 1917, die von der Arbeiter­klasse geführt worden war, sich von der Chinesischen Revolu­tion 1949 unter­schied, die natürlich nicht von der Ar­bei­terklasse angeführt worden war.
Der zweite Punkt betraf die Forderungen, das Pro­gramm, das für die ArbeiterInnen- und Studierendenbewegung nötig war. Wir waren übereingekommen, dass diese beiden Kämpfe gemeinsam vorangetrie­ben werden müssten. Es folgten Lenins vier Punkte gegen die Bürokratie: Die je­derzeitige Wähl- und Abwählbarkeit aller Funktionäre, sie dürfen nicht mehr ver­dienen als FacharbeiterInnen usw.; die Notwendigkeit einer freien Presse; kein Einparteienstaat; und das Recht aller Menschen, die die Planwirt­schaft unter­stützen, sich zu organisieren. Wir beton­ten die Notwendigkeit der Arbeiterbewaff­nung — natürlich nicht so, dass sechs oder sieben bewaffnet seien, um Deng oder Li Peng abzuknallen (ich muss aller­dings auch sagen, dass bei den Studen­ten einige terroristische Vor­stellungen herrschten, allerdings mehr aus Frustrati­on als aus irgendwelchen anderen Grün­den). Jeder müsste bewaffnet sein. Nicht eine „Volks-Befreiungs-Armee“, sondern ein bewaffnetes Volk, so erklärten wir.

Demokratische Reform im Stalinis­mus?

Der dritte Punkt, den wir besprachen, war der schwierigste. Es war der, bei dem wir die meisten Pro­bleme hatten, von einigen Studenten und Arbeitern Zu­stimmung zu erlangen, obwohl wir es in neun von zehn Fällen schließlich schafften. Darum ging es: Ist es in ei­nem stalinistischen Land wie China oder auch der So­wjetunion oder der DDR für eine starke ArbeiterIn­nen- oder Studierendenbewegung mit dem richtigen Programm möglich, einer stalinistischen Regierung demokratische Rechte abzugewinnen? Was mir diese Studierenden aus Schanghai und andere Studierende und ArbeiterInnen, mit denen ich sprach, sagten, war folgendes: „Wir glauben, dass es möglich ist. Schau, was heute in der Sowjetunion passiert. Schau dir die Wahlen in Polen an. Und sieh dir den Westen an: Ihr habt den Kapitalis­mus, der noch schlimmer ist, als das, was wir haben, und doch besitzt ihr de­mokratische Rechte. Müsste das dann nicht auch hier unter einer so­genannten sozialistischen Regierung möglich sein?“ Diese Fragen mussten wir von Grund auf theoretisch beantwor­ten und erklären.
Die Studierenden haben tatsächlich reich­lich Informatio­nen über die Außenwelt, selbst von der offiziellen Presse. Insofern die Bürokratie mit dem US-Imperialismus in Konflikt kommt, liegt es in ihrem Inte­resse, z.B. die Situation der Schwarzen in Amerika, die Massenarbeitslo­sigkeit, den Abgrund zwischen Reich und Arm darzu­stellen. Auf der anderen Seite wird eine wohlwollende Analyse des pakistanischen Regimes oder der chileni­schen Diktatur verbreitet, weil die chinesische Bürokratie diese Regimes unterstützt. Die Zeitungen übernehmen auch einfach sehr viel Mate­rial der internationalen kapitalistischen Presse.

Chinesische Bürokratie

Die Menschen erhalten viele Informatio­nen über die Entwicklungen in Osteuropa und der Sowjetunion. Es liegt im Interes­se von Deng und der Bürokratie, heraus­zustellen, welche Probleme Glasnost und Perestrojka auf­werfen. Sie glauben, das werde eine gute Wirkung auf das Be­wusstsein der Massen in China haben. Vor ungefähr zwei Monaten hielt Deng eine wichtige Rede vor der Elite der Büro­kratie. In den Hongkonger Zeitungen wurde darüber berichtet. Er sagte mehr oder weniger: „Wir ha­ben zwei Möglich­keiten. Wir können Gorbatschows Weg gehen. Aber in einem Land mit einer Mil­liarde Menschen hieße das, mit dem Feuer zu spielen. Seht euch die Pro­bleme an, die Gorbatschow hat. Er hat eine na­tionale Be­wegung ausgelöst, die er nicht mehr kontrollieren kann. Er hat eine Op­positionsbewegung hervorgerufen, die nach hinten losgehen wird. Er glaubt, be­sonders klug zu sein, aber das ist er nicht. In China haben wir keine an­dere Alternative, als einen klaren Kopf zu be­wahren, und die Dinge ruhig zu halten. Also was soll‘s, wenn wir eine Million Menschen töten müssen, wir haben schließlich eine Milliarde.“ Das ist die gleiche Menschenverachtung, die die al­ten chinesischen Kaiser an den Tag leg­ten.
Aber trotz ihrer Weigerung, Gorba­tschows Weg des Glasnost zu gehen, sieht sich die chinesische Bürokratie in gleicher Weise einer Bewegung gegen­über.
Jedenfalls versuchten wir, die Frage nach den Mög­lichkeiten demokratischer Re­formen unter dem Stalinismus folgen­dermaßen zu beantworten. Erstens ist die Situation im Westen anders. Die kapita­listische Klasse hat wirt­schaftliche Macht dadurch, dass sie die Produktionsmittel besitzt. Sie hat durch den Staat auch die politische Macht. Bei einer starken Arbei­terbewegung werden die Kapitalisten manchmal gezwungen, selbst linke Re­gierun­gen von Arbeiterparteien zuzulas­sen — aber nur solange sie noch die Kontrolle über die Wirtschaft haben und dieser Regierung vorschreiben können, was sie tun kann und was nicht — wie es beispielsweise zur Zeit in Au­stralien ge­schieht.
Das ist in der kapitalistischen Welt mög­lich, sagte ich in den Diskussionen, aber nur, wenn man eine starke ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung hat. Darauf musste ich näher eingehen. Ich legte dar, dass nur 15% der Bevölkerung in der ka­pitalistischen Welt demokratische Rechte hätten. Und dass auch die nur durch Kampf ge­wonnen worden seien. Wir sprachen z.B. über die Ge­schichte der Suffragetten-Bewegung: Wie die Arbeite­rin­nen das Wahlrecht erhalten hatten. Sowie die Kämpfe im australischen Eure­ka, wo in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Arbeiterklasse Austra­liens das Wahl­recht endgültig erkämpft hatte. Das Wahlrecht war ihr nicht auf dem Silbertablett serviert worden.
Dann sprach ich darüber, dass dies in der stalinisti­schen Welt vollkommen anders aussehe. Warum? Wegen der Verstaatli­chung der Wirtschaft — in China als Er­geb­nis der 1949er Revolution und in Russland wegen der Revolution von 1917 — hat die Bürokratie nichts als die Staatsmacht. Der Staat kontrolliert die Hebel der Wirt­schaft, und sollte die Büro­kratie ihre Staatsmacht verlie­ren, würde sie ihre Privilegien einbüßen. Dann wäre sie völlig machtlos. Wenn Deng die Staatsmacht verlöre, dann würde man ihn am nächsten Laternenpfahl aufhängen. Die Bürokratie wird dementsprechend bis zum bitteren Ende gegen wirkliche demo­kratische Rechte der Arbeiterklasse und der Studentenbewegung in China kämp­fen.

Forderungen

Als wir über diese Frage gesprochen hatten, und theoretisch einer Meinung wa­ren, mussten wir uns fragen, welche Kon­sequenzen wir daraus zu ziehen hätten. Die Folgerungen sind ziemlich einfach. Die ersten und wich­tigsten Forderungen müssen die Übergangsforderungen sein, Lenins vier Punkte usw., die Gründung und Ent­wicklung einer unabhängigen Ge­werkschaftsbewegung, der weitere Fort­schritt der Studierendenbewegung und ihre Verbindung mit den ArbeiterInnen u.a.. Gleichzeitig wäre es völlig falsch, sich vor der furchtbaren Tatsache zu drü­cken, der man ins Auge sehen muss: Dass keine dieser Forderungen der Ar­beiterInnen und Studierenden in China unter der Kommunistischen Partei und ih­rer Regierung er­kämpft und gesichert werden kann. Das ist absolut un­möglich.
Aber was ist mit dem Reform-Flügel der Kom­munistischen Partei, fragten die Stu­dierenden, was ist mit Zhao? Die Illusio­nen in ihn, besonders bei den aktiven Schichten der ArbeiterInnen und Studie­renden, sind nicht halb so groß, wie die kapitalistische Presse behauptet, aber sie existieren. So sprachen wir über die Situ­ation in Po­len: Die Wahlen stehen nicht für den Beginn einer Demo­kratisierung in der polnischen Gesellschaft. Der einzige Grund, warum sie stattfanden, ist erstens, weil die Füh­rer von Solidarnosc, wie Walesa, von Jaruzelski und dem polni­schen Regime gezähmt wurden und zweitens, weil sie sehr eingegrenzte de­mokratische Reformen darstellten, nicht wirkliche demokratische Rechte und Macht für das Volk. Es sieht so aus, dass die Bürokratie begrenzte Re­formen von oben gewährt, um eine Revolution von unten zu verhindern. Ich erzählte ihnen ebenfalls, dass in der Sowjetunion Seite an Seite mit Glasnost eine Unterdrüc­kung der Massen in Georgien vor sich geht, usw.. Das musste daraufhin ausführlich besprochen werden, und um es deutlich zu sagen: Die Folgerung eines jeden Pro­gramms der Studierenden und ArbeiterIn­nen in China muss eine neue Regierung sein, eine neue revolutionäre Regierung, eine politische Revolution, wie wir als MarxistInnen sagen würden. Mit anderen Worten, die ArbeiterInnen und Studieren­den müssen die Macht übernehmen. Das ist der einzig mögli­che Weg für das chi­nesische Volk, Reformen durchzufüh­ren und zu erhalten. Als wir uns darüber einig waren, gingen wir über zu den organisato­rischen Schlussfolgerungen, die daraus zu ziehen seien.
Das alles war leicht, da die meisten der Studierenden und ArbeiterInnen Kennt­nisse über die Schriften von Marx, Engels und Lenin besaßen. Allerdings wusste keiner von ihnen etwas über Trotzki. Manchmal war es möglich, auf Trotzki zu kommen, wenn man über die Wirkung sprach, die Stalins Konterrevolution in der Sowjetunion auf die Entwicklung in China selbst hatte. Ich stellte dar, wie die fal­sche Politik der stalinistischen Bürokratie in der Sowjetunion durch ihren Einfluss auf die Führung der KP Chinas zur Nie­derschlagung der chinesischen Revoluti­on 1925-27 führte. Und wie Mao sich dann von der Arbei­terklasse in den Städ­ten distanzierte, um sich auf die Bauern­schaft zu stützen. Wie daher die Revolu­tion von 1949 nicht von der Arbeiterklasse geführt worden war. Aber das bedeutete nicht, dass die Ideen des wahren Marxis­mus vollkommen verloren waren. In Russland war es Trotzki — ich erklärte seine führende Rolle mit Lenin in der Re­volution von 1917 —‚ der den Ideen und Tradi­tionen treu blieb. Ich stellte die Posi­tion dar, die er in Hinsicht auf die Chine­sische Revolution und die Weltre­volution in den zwanziger und dreißiger Jahren hatte.
All dies war Gegenstand der meisten meiner Diskus­sionen mit den Studieren­den. Und nach gerade diesen Ge­sprä­chen mit den Schanghaier Studierenden nahmen sie mich zusammen mit den ka­pitalistischen Reportern mit zum Denkmal der Helden des Volkes, wo alle Führer wohnten. An jenem Tag traf ich viele der Studierendenführer. Ich muss sagen, dass sie nicht so sehr an der Theorie in­te­ressiert waren wie die breite Masse. Aber nicht, weil sie anders lebten als die breite Masse, sondern weil sie das Gefühl hat­ten, eine Schlacht führen zu müssen. Sie waren mehr daran interessiert, ob ich Geld spenden, ei­nige Zelte beschaffen oder durch meine Verbindungen mit der westlichen Arbeiterbewegung internatio­nale Solidarität organisieren könnte, wenn jemand von ihnen ins Gefängnis käme: Praktische Fragen wie diese.
Ich muss hinzufügen, dass diese Führer, die in den Augen der Studierenden dem Recht der Abwählbarkeit zu unterstehen hatten, nicht besser lebten als die breite Masse und sogar als erste den Kopf ris­kierten. Diese Führer waren äußerst tap­fer. Die erste Gruppe der Führer war im Hungerstreik gewesen. Ich traf einige von denen, die schon von Anfang an dabei gewesen waren. Manche von ihnen hatten Gehirnschäden davongetragen. Ich hatte das Gefühl, mit Kindern zu reden; es war furchtbar, mit diesen Helden zu sprechen, die ihr Gehirn aufgegeben hatten und nur dahinvegetierten. Sie konn­ten Gespräche führen, aber sie waren äußerst verstört, angespannt und nervös. Ständig kamen sie vom Thema ab. Sie werden sich nie­mals davon erholen.
Ich würde es niemals zulassen, dass auch nur ein schlechtes Wort über ir­gendeinen der Führer gesprochen wird. Denn viele von ihnen sind jetzt tot. Sie sind wahre Märtyrer und Helden gewesen. Viele wussten, dass sie in dem Moment, als sie den Entschluss gefasst hatten, diese Bewegung zu führen, praktisch ihr eigenes Todesurteil unterzeichnet hatten: Sie wussten, was ihnen passieren konnte. Um ein Wort dafür zu finden: Diese Leute waren von einem Kaliber, das ich außer­halb der marxistischen Tendenz niemals erlebt hatte. Es war ein großartiges Privi­leg, diese GenossInnen — und das waren sie — kennen­lernen zu dürfen.
Es gab übrigens nie nur eine einzige Or­ganisation, die die Studierenden anführte. Auch an dem Denkmal waren es fünf oder sechs Studierendengruppen. Zu ei­nem früheren Zeitpunkt des Kampfes wa­ren einige der Führer im Kommunisti­schen Jugendverband recht aktiv gewe­sen. An­fangs sahen sie die Bewegung nur als Unterstützung für Zhao in seinem Kampf gegen die Vertreter einer harten Linie. Diese Illusion dauerte aber nicht lange an. Vor meiner Ankunft hatte eine kämpferischere Gruppe die Führung von einer gemäßigteren Gruppe übernom­men, die den Platz räumen wollte. Alle waren sich darüber einig, dass es eine zentrale Studierendenorganisation geben müsse. Diese ohne Theorie und Pro­gramm auf die Beine zu stel­len, war schon schwieriger. Als die Bewegung ab­zuebben begann, entwickelten sich Kon­flikte zwischen den ver­schiedenen Grup­pen, keine politischen, sondern über die Frage der Verteilung von Zelten, Geld, usw..

Hunger nach Theorie

In den nächsten Tagen führte ich noch mehrere Ge­spräche mit den FührerInnen und mit vielen anderen in etli­chen Zelten. Immer wieder — und das war etwas, was ich bei der politischen Arbeit im Westen nie erlebt habe — ging ich ganz einfach auf irgendein Zelt zu, fing an zu sprechen, und sobald ich gesagt hatte, wer ich war, ver­sammelten sich die Leute um uns. boten kalte Getränke und Zigaretten an, klopften mir auf die Schulter und wollten mein Autogramm. Die Leute fragten nach meinem Autogramm, als ob ich irgendein Popstar wäre. Aber das geschah nicht aus einer schmeichlerischen „Wie schön, einen Westler kennenzulernen“—Haltung, sondern: „Du bist der erste Sozialist aus dem Westen, den ich treffe, und das ist wirklich ein Privileg, dich kennenzuler­nen.“ Natürlich lag das Privileg in Wirk­lichkeit bei mir, nicht bei ihnen. Ich kann es nicht genug betonen, dass es bei den Studierenden einen wahren Hunger nach Theorie gab. Wir beendeten unsere Ge­spräche immer in völliger Über­einstim­mung über die Ideen und den weiteren Weg.
Es muss noch gesagt werden, dass ein hohes kulturel­les Niveau unter diesen Studierenden herrschte: Es wurde nicht geflucht, gab keine Drogen, keinen Alko­hol und keinen Sexismus. Weibliche und männliche Studierende lebten und lagen nebeneinander auf dem Platz ohne jeg­li­che Komplikationen. Menschen verschie­denen Geschlechts behandelten einander mit großem Respekt.
Am Dienstagabend sollte ich auf einer Versammlung der FührerInnen sprechen. Dort wurde mir die Ehre zuteil, die Pla­kette des Platzes des Himmlischen Frie­dens zu erhal­ten. Hiervon wurde nur eine begrenzte Anzahl hergestellt für jene Stu­dierenden, die heldenhafte Taten voll­bracht hatten. Es war für sie so etwas wie das Viktoria—Kreuz des britischen Impe­rialismus. Ich fühlte mich sehr privi­legiert, es zu bekommen. Viele der Studierenden, die ich traf, hatten keins erhalten. Ich glaube, sie waren ein wenig neidisch. Von diesem Banner werde ich mich nie­mals trennen, es sei denn, jemand bietet $1.000 für den Kampffonds des australi­schen Militant, dann überlege ich es mir vielleicht! Ansonsten werde ich es für immer be­halten.

Die unabhängige Gewerkschaft

Am Montagabend geschah etwas absolut Fantastisches. Einige Studierenden sag­ten: „Komm‘ mit uns und wir stellen dich einigen ArbeiterInnen vor, die eine unab­hängige Ge­werkschaftsbewegung grün­den wollen.“ Also nahmen sie mich mit zur Verbotenen Stadt. Ich weiß nicht, ob ihr den Film „Der letzte Kaiser“ gesehen habt. Dort wird ge­zeigt, wie die Verbotene Stadt mit der alten Ordnung der chinesi­schen Kaiser identifiziert wurde. Nun brachten sie mich dorthin. Wir kamen zu dem riesigen verschlossenen Tor, ca. zehn Meter hoch. Davor standen keine Studierenden, sondern ArbeiterInnen, die versuchten, hineinzukommen. Auf der anderen Seite standen sechs mit Base­ballschlägern bewaffnete ArbeiterInnen, eine kleine Arbeitermiliz, die das Tor be­wachte. Hinter ihnen standen dreißig Ar­beiterführer, die die Gründung einer un­abhängigen Gewerkschaft vorbereiteten, nach der Art von Solidarnosc, wie sie meinten.
Also bahnten mein Dolmetscher und ich uns einen Weg durch die ArbeiterInnen, um mit Hilfe des von den Studierenden ausgestellten Sicherheitsausweises durch das Tor gelassen zu werden. Aber die Ar­beitermiliz sah uns nur streng an. Wahr­scheinlich dachten sie, ich sei ein Re­por­ter, der eine Story wollte. Aber als sie dann hörten, wer ich war, wurde das Tor geöffnet. Alle anderen ArbeiterInnen ver­suchten, mit uns hineinzukommen. Sie mussten zurückbleiben, so groß war die Begeisterung über die Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft und die Be­gierde, herauszufinden, was vor sich ging.
Apropos Begeisterung, auf den Straßen sah man Leute, die sich um Telegrafen­masten versammelten. Zuerst hielt ich das für seltsam, warum betrachten sich alle diese Leute einen Telegrafenmasten? Aber wenn man näher kam, sah man Untergrundzeitungen am Pfosten befe­s­tigt. Jeder wollte sie lesen, also kämpfte man sich durch. Es war so wie ein Bericht über die Russische Re­volution von 1917, einfach großartig. Jeder, der mit Flug­blättern unterwegs war, wurde sozusagen überfallen, so wie wenn Zehn-Dollar-Scheine in Sydney verteilt wür­den. Die Leute rissen sie ihnen einfach aus der Hand. Sie lasen fast alles. Ich bekam zu­fällig eine kapitalisti­sche Zeitung aus Hongkong in die Finger, und sogar die wurde in Fetzen gerissen. Die Leute baten mich um Fotos und Artikel daraus. So groß war der Hunger nach Infor­mation und Ideen.
Wir kamen also in die Verbotene Stadt. Da sie nun wussten, wer ich war, gerieten sie in Aufregung. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Ihre Reaktion war sogar noch besser als die der Studierenden. Sie sagten: „Das ist fantastisch“ und holten sechs Stühle für mich, für meinen Dol­metscher und für vier Arbeiterführer. Nicht aus bü­rokratischen Gründen, son­dern weil hier eine diszipliniertere Haltung herrschte als bei den Studierenden, be­standen sie darauf, dass an diesem Tref­fen nur sechs Leute teilnehmen sollten. Später sollte ich dann zum Rest spre­chen. Die anderen ArbeiterInnen waren so verärgert, dass zwei von ihnen in Tränen ausbrachen, weil sie nicht daran teilneh­men durften, als wir über unsere Ideen sprachen.
Ein Unterschied zwischen den Gesprä­chen mit ArbeiterInnen und Studierenden war, dass sich alle ArbeiterInnen Notizen machten. Jeder hatte einen Notizblock, und sie schrieben jedes Wort auf, das ich sagte. Da weniger von ihnen Englisch sprachen als bei den Studierenden, re­dete ich langsam und durch den Dolmet­scher. Wir diskutierten drei Stunden lang, besonders über die Frage der Leh­ren, die man aus der polnischen „Solidarität“ zie­hen sollte. Die ArbeiterInnen, die sehr ernst waren, kamen schnell darauf, was ich sagen wollte. „Im Grunde sagst du, dass wir die Kommunistische Partei stür­zen sollen“, sagten sie. Der Groschen fiel sehr viel schneller als bei den Studieren­den. Das soll keine Anklage gegen die Studierenden sein, sondern das ergibt sich aus der Klassenlage und der Rolle der ArbeiterInnen in der Gesellschaft. Au­ßerdem hatte eine Menge dieser Leute Familien. Sie setzten also das Leben ihrer ganzen Familie aufs Spiel.
Einer der ArbeiterInnen erzählte mir, dass er 80% seines Lohns für die unabhängige Gewerkschaft spendet. Er sagte: „Das ist alles, was ich im Leben habe.“ Ich fragte: „Du meinst, das ist wie eine Investition für die Zukunft.“ Er antwortete: „Genau das ist es!“ Das erinnerte mich an einige der Berichte aus Südafrika, wo die Arbeite­rInnen ihre Gewerkschaft als Ausweg aus Apartheid und Kapitalismus ansehen.
Bei den Studierenden war es viel leichter, zu einer grundsätzlichen Übereinstim­mung über die Ideen zu kommen, auch zur vollen Übereinstimmung über das ge­samte Programm. Die Frage des Sturzes der Kommunisti­schen Partei und der Er­richtung einer neuen ArbeiterInnen- und Studierendenregierung wollten die Arbei­terInnen erst schlucken, als sie völlig überzeugt waren, dass meine Aussagen ernst gemeint waren. Es war leicht für mich, aus Übersee daherzukommen und über all dies zu reden. Aber sie mussten es durchführen. Also kam das Gespräch immerfort darauf zurück, ob es möglich sei, ihre Forde­rungen unter einer Regie­rung der Kommunistischen Par­tei durch­zusetzen. Sie mussten immer wieder da­von über­zeugt werden, dass dies unmög­lich wäre. Es war nicht einfach, das bei dem scheinbaren Gegenbeispiel der „So­lidarität“ in Polen klarzumachen. Aber nach diesen drei Stunden hatten wir ein großartiges Gespräch geführt. Sie sagten: „Morgen werden wir unsere Gewerkschaft grün­den. Möchtest du kommen und auf der Gründungsver­sammlung sprechen? Komm‘ wieder zur Verbotenen Stadt und wir werden weiterreden.“ Ich dachte, O.K., ich würde wieder hingehen, unsere Soli­darität mit dieser Entwicklung anbieten und mit den dreißig ArbeiterInnen über ihre Zukunft sprechen. Ich verabschiedete mich, um weitere Gespräche mit den Studierenden zu führen.
Als ich am nächsten Tag zurückkam, wa­ren drei der vier Führer, mit denen ich ge­sprochen hatte, in der vorhergehenden Nacht verhaftet worden, mit ihren Notiz­blöcken. Um ehrlich zu sein, beunruhigte mich das ein wenig! Warum waren sie verhaftet worden? In jenen Ta­gen wurden innerhalb der Bürokratie Gespräche dar­über geführt, was zu tun sei. „Sollen wir die Bewegung zer­schlagen, sollen wir die Armee hinschicken, oder sollen wir war­ten, bis sie einfach abstirbt?“ Meiner Mei­nung nach war es der Wendepunkt, als sie Wind bekamen von der potentiellen Entwicklung einer unabhängigen Gewerk­schaftsbewegung — sie wussten aus der Erfahrung mit Solidarnosc, wie schnell sich eine solche Bewegung ent­wickeln konnte. Ich glaube, das war der Anlass, weswegen beschlossen wurde, „den Daumen drauf zu halten“ und zuzuschla­gen. Die Verhaftung dieser drei Arbeiter­führer war also kein Zufall, denn keiner der Studierenden war zu dem Zeitpunkt verhaftet worden, jedenfalls nicht in Pe­king. Aber diese ArbeiterInnen waren so­fort verhaftet worden, als die Bürokratie davon hörte, was vor sich ging.
Am Dienstag erfuhr ich in der Verbotenen Stadt von den Verhaftungen. Ich tat alles, was in unserer Macht stand, Solidaritäts­aktionen mit Hilfe internationaler Ver­bin­dungen zu organisieren, um diese drei ArbeiterInnen frei zu bekommen. Sie wur­den übrigens am nächsten Tag wieder freigelassen, obwohl die meisten von ih­nen hin­terher getötet wurden — aber dazu komme ich später. Die Ereignisse überschlugen sich.
Als ich an jenem Abend zur Verbotenen Stadt kam, waren alle im Aufbruch. Ich fragte: „Was ist mit der Ver­sammlung?“ Sie antworteten: „Die Versammlung findet hier nicht statt. Wir werden sie auf der anderen Straßenseite abhalten.“ Und ich sagte: „Oh“. Wir saßen dort einige Stun­den, bis es anfing, dunkel zu werden. Un­gefähr um sieben oder acht Uhr über­querten wir die Straße von der Verbote­nen Stadt zum Platz des Himmli­schen Friedens. Es war spät abends, nach der Arbeit. In den vorhergehenden 24 Stun­den waren überall in Peking Plakate er­schienen, die bekanntgaben, dass heute Abend eine unabhängige Gewerkschaft gegründet werde. Also waren um neun Uhr ein halbe Million Menschen auf dem Platz versammelt. Ich würde sagen, dass gut 40—50% von ihnen ArbeiterInnen wa­ren.

Eine halbe Million Menschen

Wir bahnten uns einen Weg zum Denk­mal der Helden des Volkes. Von dort aus war es wirklich ein einmaliger Anblick. Man sah eine halbe Million Menschen vor sich, verzweifelt nach Ideen suchend, nach Organisation und Führung auf dem Weg nach vorne, um ihren Kampf zu ge­winnen. Es war ein ungeheurer Anblick: eine halbe Million Menschen, die die Ket­ten des täglichen Lebens abgeworfen hatten, wo sie sonst nur daran dachten, et­was zu verdienen, um die Familie zu ernähren. Jetzt war die Politik ihr Haupt­interesse. Es war stockdunkel. Jemand machte ein Foto mit Blitzlicht. Ein anderer zündete eine Zigarette an. Kleine Lichter flammten auf. Man fühlt sich wirklich klein, wenn man die Macht der Arbeiter­klasse, oder wenigstens die verborgene Macht der Arbeiterklasse, direkt vor sich hat. Es wird mir klar, dass eine solche Bewegung mit marxistischen Ideen von keiner Macht auf Erden gestoppt werden könnte.
Vor der Versammlung kamen mehrere Leute, um ihre Solidarität auszudrücken: ein buddhistischer Mönch, ein einheimi­scher Popstar und — besonders interes­sant — eine 98 Jahre alte Frau, schon sehr gebrechlich, kam vorbei, die auf dem „Langen Marsch“ gewesen war und Mao ge­kannt hatte. Sie riskierte wirklich ihr Leben, in dem Al­ter, und besonders, da es immer deutlicher wurde, dass es ir­gendeine Art von Zuschlagen durch die Regierung geben würde — obwohl nie­mand erwartet hat, dass es so blutig wer­den würde. Ich bekam eine kurze Über­setzung. Sie sagte, sie habe ihr Leben der Revolution von 1949 gewidmet, und es würde ihr überhaupt keine Freude ma­chen, hier stehen zu müssen, 40 Jahre später, und immer noch kämpfen zu müssen. Aber sie müsse es tun. Sie sagte, sie habe durch die Studierenden Mut bekommen, und sie hätte das Gefühl, bei ihnen zu sein, und, obwohl sie bald sterben werde, müsse der Kampf weiter­gehen. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass mir die Tränen in die Augen stiegen, als ich sie sah. Sie erhielt stürmischen Bei­fall.
Ungefähr um zehn Uhr begann die Ver­sammlung. Ich möchte an diesem Punkt einige Hintergrundinformationen geben. Überall in Peking, besonders im Zentrum, hatte die Regierung große Lautsprecher an den Telegrafenma­sten befestigen las­sen. Den ganzen Tag, ununterbrochen, besonders seit Beginn der Bewegung, brüllten sie stän­dige Kommentare in die Gegend, fast wie im Film „1984“. In spöt­tischem Tonfall redeten sie vom „Ab­schaum der Gesellschaft“, „Chaos“, „Konterrevolu­tionären“. Gleichzei­tig sah man direkt vor sich die besten der Jugend der Welt, des Proletariats von China, im Kampf für unverfälschten Sozialismus und demokratische Rechte im Rahmen des So­zialismus. Aber auf dem Platz selbst hatten die Studierenden ihr eigenes Lautsprechernetz. Sie schmetterten im­mer lauter die Internationale, fast als wollten sie sagen: „Das sind alles Lügen, wir sind keine Konterrevolutionäre, wir sind eher diejenigen, die die beste Tradi­tion der inter­nationalen Arbeiterbewegung weiterführen.“

Die Geburt der Gewerkschaft

Ungefähr um zehn Uhr stand der Gewerk­schaftsführer auf und las der versam­melten Menge die Forderungen der Ge­werkschaft vor, warum sie gegründet wurde, die Präambel, usw.. Ich war der zweite Redner. Ich stand auf und erklärte unsere Solidarität im Namen der Arbeite­rInnen und Studierenden überall, die vol­ler Begeiste­rung mit dieser Bewegung sympathisierten, die in Peking und in an­deren Städten in China in den vorange­gange­nen Wochen stattgefunden hatte. Dann erklärte ich das Programm, das die Studierenden fast unbewusst übernom­men hatten: Die Notwendigkeit der jeder­zeitigen Wähl- und Abwählbarkeit der Funktionäre, die Notwendigkeit, dass kein Funktionär mehr als einen durchschnittli­chen Facharbeiterlohn verdient usw. Ich fuhr fort mit der Frage der kommunisti­schen Regierung. Ich sagte, dass jeder „Kom­munist“ oder jede „kommunistische“ Regierung, die ArbeiterInnen verhaftete und sich gegen die demokratischen Rechte der ArbeiterInnen stellte, nicht wirklich kommunistisch sei. Ich sagte, dass die einzigen wahren Kommunisten in China — die, die den Traditionen von Marx, Engels und Lenin folgen — jene seien, die diese Bewegung unter­stützten. Ich kann euch sagen, dass besonders diese Aus­sage sehr gut aufgenommen wurde. So etwas wollten die Leute hören. Ich sprach ca. 10-15 Minuten lang. Es kam sehr gut an. Nach mir kamen noch zwei Redner.
Die Leute wollten nicht hören: „Ihr müsst den Weg des Westens gehen“, oder „Wir haben großartige demokrati­sche Rechte im Westen, diesen Weg müsst ihr auch ge­hen“. Ein Student stellte dies so dar: „Wenn wir kapitali­stisch würden, wäre es wie in Indien, nicht wie in Japan. Wir ha­ben hier eine Milliarde Menschen. Wenn die Kapita­listen nach China kämen, wür­den sie uns wirtschaftlich in Stücke rei­ßen. Wir haben da keine falschen Vorstel­lungen.“
Die kapitalistischen Journalisten interpre­tierten viel in die sogenannte „Freiheits­statue“ hinein, die die Studierenden auf dem Platz aufgestellt hatten. Aber für die Studierenden war sie kein Symbol der Unterstützung für den US-Imperialismus oder dafür, zum Kapitalismus zu­rückzu­kehren. Sie symbolisierte demokratische Rechte. Viele der Studierenden zweifelten daran, ob man sie überhaupt hätte auf­stellen sollen. „Wenn wir in Südamerika wären“, sagten sie mir, „würde dies nicht so gut ankom­men“. Hier war diese Sta­tue, dort wurde die ganze Zeit die Inter­nationale gespielt. Es war absolut nicht die Rede davon, zum Kapitalismus zu­rückzukehren.
Denn die Vorteile der Planwirtschaft — wie der Ge­sundheitsdienst — sind für je­den sichtbar. Ein kleines Beispiel: Ein ganzer Tag im Zoo von Peking — der wahr­scheinlich der beste Zoo der Welt ist — kostet nicht mehr als den Gegenwert eines australischen Cents. U-Bahnen, Busse, Mieten usw. sind billig, fast zum Nulltarif. Es gibt zwar eine Gebühr, aber die beträgt nur einen sehr klei­nen Pro­zentsatz des Einkommens. Das große Problem für die ArbeiterInnen ist die In­flation, die Auswirkungen auf Nah­rungs­mittel und Kleidung hat.
Ein Student sagte zu mir: „Wir wissen viel vom We­sten, wir sind nicht dumm. Wir wissen, dass nur eine Minderheit der Menschen im Westen in Ländern wie Ja­pan, Australien oder Großbritannien lebt. Wir wissen auch, was die Schwarzen in Amerika zu leiden haben. Wir wissen, dass es in Amerika viele Arbeitslose gibt. Wir wis­sen, dass die meisten Menschen im sogenannten Westen, in der kapitalis­tischen Welt, in Afrika, Süd- und Mittel­ame­rika usw. leben.“ Diese Leute wuss­ten, was vor sich ging. Sie wollten die Vorteile aus der Revolution von 1949 be­wahren, mit anderen Worten, die staatli­che Planwirtschaft und die anderen kultu­rellen, gesellschaftlichen und wirt­schaftli­chen Vorteile. Aber sie glaubten, dass diese Vor­teile begrenzt wären, dass der großartige Unterneh­mungsgeist, der in einer Milliarde Menschen steckt, von der bürokratischen Ordnung erstickt würde.
Die bürgerliche Presse sieht die chinesi­schen ArbeiterInnen als „faul“ an, weil es sehr viel personelle Überbesetzung zu geben scheint. Wenn also ein Rationali­sierungsexperte von MacDonald nach China käme, wäre das für ihn ein Erfolgs­erlebnis! Aber es ist nicht eine „Überbe­setzung“ als solche, oder dass Chinesen „faul geboren“ werden. Die Tatsache, dass jeder einen Arbeitsplatz hat, ist ge­rade einer der Vorteile der Planwirtschaft. Obwohl die sogenannten „Markt-Sozia­listen“ in der Bürokratie dem natürlich ein Ende bereiten wollen. Aber warum sollte man härter arbeiten, wenn man weiß, dass man, egal was man tut, nicht mehr Vorteile davon hat, und wenn man das Gefühl hat, kein Mitspracherecht bei den Regie­rungsgeschäften zu haben, wo es eigentlich die „eigene“ Regierung sein sollte? Es ist ein bisschen anders als die Arbeit für eine kapitalistische Firma. Wenn man hier härter arbeitet und seine Arbeit um zwei Uhr beendet, obwohl man erst um fünf Uhr nach Hause gehen sollte, erlaubte es der Chef nicht, dass man drei Stunden früher geht. Man be­kommt einfach für drei weitere Stunden Ar­beit. Leider ist es in diesen sogenann­ten „sozialisti­schen“ Ländern fast genau so. Das ist der Grund dafür, dass die Be­geisterung an den Arbeitsplätzen, die Produk­tion zu steigern, nicht mehr die gleiche ist wie in den ersten Jahren nach 1949. Es liegt an der Bürokratie, nicht an den Menschen. Dessen sind sie sich durchaus bewusst.
Selbst in der Regierungspresse gab es vor der Niederschlagung Artikel, die be­schrieben, wie Investitionen aus Übersee kämen, aber durch bürokratische Miss­wirtschaft und Korruption zurückgehalten würden. Es kämen Firmen ins Land, die versuchten, Rohstoffe zu bekommen und Güter von einer Provinz in die andere zu transportieren. Das ist fast wie Feudalis­mus. Die Nation zu vereinigen war eine der historischen Aufgaben der bürgerli­chen Revolution. Aber auf der Basis des Stalinis­mus hat die Chinesische Revolu­tion nicht einmal das er­reicht. Um etwas von Kanton nach Peking zu transportie­ren, muss man verschiedene Provinzen mit unterschiedli­chen Steuersystemen durchqueren. Formulare müssen ausge­füllt werden, alle dreifach. Wenn man in Peking eine Schachtel Streichhölzer kau­fen will, erhält man eine Quittung — dreifach, nicht nur doppelt. Das ist die völlig verrückte Bürokratie. Nicht einmal in der Kolonialwelt ist es so.
„Sozialismus in einem Land“ erstickt die Wirtschaft. In der Zeitung erschien ein Brief eines Wissenschaftlers aus Schanghai. Schaut euch Sibirien an, schrieb er. Es muss weiterentwickelt wer­den. Es besteht ein Mangel an sowjeti­schen ArbeiterInnen, die bereit sind, nach Sibirien zu gehen. Sie müssen den drei- oder vierfachen Durchschnittslohn erhal­ten. Wir haben ein Übermaß an Leuten in Nordost-China, in Peking. Sie würden lie­bend gerne nach Sibirien gehen. Auch noch mit der Hälfte dessen, was die sow­jetischen ArbeiterInnen bekommen, wür­den sie im­mer noch mehr verdienen als in China. Da wir beide sozialistische Länder sind, und weil Gorbatschow uns nun be­sucht hat, könnten wir doch sicherlich ei­nen gemein­samen Ausweg finden? Das hat er vorgeschlagen. Aber auf der Basis einer bürokratischen Ordnung ist das na­türlich unmöglich.

Eine Regierung von Dinosauriern

In anderen Leserbriefen beschwert man sich über das Maß an Umweltverschmut­zung, das sehr groß ist, be­sonders in Pe­king, weil es im Binnenland liegt. Man gibt die Schuld daran der Bürokratie, und das ist wichtig. All das bezeichnet die Frustra­tion, die sich besonders bei Intellektuellen und Studierenden bemerkbar macht, aber doch eine tiefere, weit verbreitete Stim­mung wiedergibt. Alles bewegte und lo­ckerte sich, man durfte sich außer­halb der Landesgrenzen bewegen und in Übersee studie­ren — aber man wurde immer noch von der gleichen bürokrati­schen Elite politisch beherrscht, fast noch wie zur Zeit der Kulturrevolution. Die ganze Zeit gab es eine kombinierte, aber ungleichmäßige Entwicklung, veraltete politische Strukturen, Seite an Seite mit äußerst fort­schrittlicher Technologie. In Peking, und besonders in Schanghai kommt man sich vor wie in London. Es gibt Nachtclubs und Restaurants wie in jeder beliebigen westlichen Stadt. Aber an der Spitze steht eine altmodi­sche, über­holte Regierung, die in der Vergangenheit lebt, die darüber redet, dass „eine Million“ Menschen entbehr­lich“ sei, oder: „die neue Generation hat die Lehren aus dem ‘Langen Marsch‘ vergessen. Sie hat das Land nie befreit, wir haben es getan.“
Die wirtschaftliche und die politische Si­tuation wider­sprechen einander völlig, und das hatte große Wirkung auf die In­tellektuellen. Als diese Menschen die poli­tische Öffnung in der Sowjetunion, Polen, Ungarn, usw. sahen, sagten sie sich: das wollen wir auch! Es war keine Bewegung von unten gegen wirtschaftliche Ver­schlechte­rung, es war anfangs eine intel­lektuelle Bewegung. Des­halb dauerte es eine Weile, bis die ArbeiterInnen einsa­hen, wie wichtig es für sie war, an diesem Kampf teilzunehmen.
Aber aus allen Teilen der Gesellschaft kam massive Unterstützung. Nicht nur aus den Reihen der ArbeiterInnen, son­dern sogar aus großen Schichten der Bü­rokratie selbst. Am Tag meiner Ankunft z.B. nahm an dem Marsch eine Delegati­on der „Pekinger Volkszeitung“ teil, der meistgelesenen Zeitung der Welt. Sie be­richtete täglich über die Geschehnisse. Um die Zensur irrezuführen be­gannen sie so: „Auf dem Platz des Himmlischen Friedens geschah heute Furchtbares.“ Dann gaben sie detailliert wieder, was genau geschehen war. Am Schluss schrieben sie: „Nach den Worten des Premier Li Peng war es verbrecherisch.“! Sie erhielten großartige Reaktionen von den Leuten auf dem Marsch. Sogar im Regierungs-Fern sehen wurde in leicht veränderter Form von den Ent­wicklungen berichtet. So konnten die Menschen in ande­ren Städten und auch auf dem Land verfolgen, was vor sich ging. Aber der wirkungsvollste Weg, Nachrichten weiter­zugeben, war die „Busch­trommel“, wie wir es in Australien nennen. Es gab nur we­nige Einschränkungen der Freizügigkeit für die Stadtbewohner. Die Züge waren vollgestopft mit Studierenden, die aus Schanghai und ande­ren Städten hin und her reisten.
Trotzdem war die Arbeiterklasse nicht an die Spitze der Bewegung getreten oder hatte ihr nicht einmal ihren Stempel in Form von Streiks aufgedrückt. Auf dem Gipfel des Kampfes, vor meiner Ankunft, verließen ArbeiterInnen ihre Baustellen und Fabriken und nahmen an den De­mon­­strationen teil. Aber auch das konnte nicht als organi­sierter Streik angesehen werden. Am Tag nach dem Mas­saker, als der Generalstreik ausgerufen wurde, kam es zum völligen Stillstand des Transport­wesens. Hotelangestellte traten in den Ausstand. Aber beispielsweise die Bauin­dustrie lief weiter. Die ArbeiterInnen be­fürchteten nämlich teilweise, ihren Ar­beitsplatz zu verlieren, wenn sie, ohne Garantie auf Sieg, sich dieser Bewegung anschlössen. Diese Probleme sprachen die Gewerkschaftsführer an, als ich mich mit ihnen unterhielt.

Die Stimmung der ArbeiterInnen

In den Fabriken, herrschte die Angst vor der Mög­lichkeit des Endes dieser Bewe­gung und ebenso davor, dass die Forde­rungen noch zu unausgereift waren. „Wir stimmen mit den Forderungen der Studie­renden nach demo­kratischen Rechten überein, aber sie reden eigentlich nicht di­rekt von Macht. Und wir sind nicht zuver­sichtlich, dass wir nicht, wenn wir strei­ken, doch wieder mit den gleichen Bas­tarden dasitzen, die uns bei unserer Ar­beit oder die Gesellschaft als ganzes be­herrschen“ — also die Bürokratie der Kommunistischen Partei. Das war es, was die ArbeiterInnen dachten. Bevor sie nicht überzeugt sein konnten, dass es ir­gendeine Veränderung geben würde, zö­gerten die ArbeiterInnen sogar, der unabhängigen Gewerkschaft beizutreten.
Eigentlich hatten die wirtschaftlichen Re­formen der letzten zehn Jahre wider­sprüchliche Wirkungen. Einige Arbeite­rInnen haben Vorteile daraus. Es gibt z.B. keinen Man­gel an Konsumgütern, we­nigstens nicht in Peking oder Schanghai, von Autos bis zu ausländischen Zigaret­ten. Es ist nicht so wie in Polen. Außer­dem wird ein System, in welchem die Bü­rokratie und Ausländer spezielles Geld haben, anderes als normale Leute, immer wieder zusam­menbrechen. Wenn man im Taxi fährt, muss man mit frem­der Wäh­rung zahlen. Viele ArbeiterInnen haben diese fremde Währung, mit der sie Kon­sumgüter kaufen können.
Von diesen ArbeiterInnen, die etwas bes­ser leben, kam die aktive Unterstützung für die Bewegung. Die Gründer der unab­hängigen Gewerkschaft, z.B., hatten zum größten Teil ziemlich gut bezahlte Ar­beitsplätze. Vielleicht waren sie deshalb selbstbewusster — und gleichzeitig wur­den ihre Einkünfte von der Inflation weg­gerafft. Auf keinen Fall wollen diese Ar­beiterInnen zur strengen Zentralisierung der Vergangenheit, zur Unterdrückung, die mit der Kul­turrevolution einherging, zurückkehren. Fast wie die Studierenden sagen sie, sie hätten „wirtschaftliche Re­formen“ gehabt, wie wäre es jetzt mit Demokratie dazu, Demokratie auf der Ba­sis einer Planwirtschaft.
Wenn die unabhängige Gewerkschaft ei­nen Monat oder auch nur zwei Wochen früher gegründet worden wäre, wäre sie sehr schnell gewachsen. Die Studieren­den hatten Vertrauen zu den ArbeiterIn­nen. Aber die Gewerkschaft wurde ge­gründet, als die Studierendenbewegung bereits am Abebben war. Die Masse der ArbeiterInnen, die glaubte, am meisten zu verlieren zu haben, war noch nicht zuver­sichtlich genug, aktiv daran teilzunehmen. Aber wenn das nächste Mal eine Bewe­gung entsteht, gibt es keinen Zweifel, dass sich gleich zu Beginn eine unabhän­gige Ge­werkschaft bilden wird.

Schanghai

Am Tag nach dieser Versammlung — historisch, weil sie die erste unabhängige Gewerkschaft in China seit der Revolution von 1949 in die Welt setzte — ging ich nach Schanghai. An der dortigen Univer­sität führte ich einige großartige Gesprä­che mit Studierenden.
Ich möchte einiges über den Lebensstil der Studierenden erzählen. Man mag den Eindruck haben, dass die Studierenden in China in gewisser Weise eine privilegierte Elite seien, die in den Kampf gezogen seien, weil sie über die Lebensbedingun­gen um sie herum entsetzt wären, nicht über ihre eigenen. Das ist ein falscher Eindruck. Die meisten Studierenden der Universität in Schanghai wohnen auf dem Campus und in Studierendenwohnhei­men, die in ei­nem furchtbaren Zustand sind. Sie wohnen zu zehnt in einem Schlafsaal, ohne Teppich oder wenigs­tens Fußbodenfliesen, mit Betonböden und Betonwänden. Sie haben noch nicht einmal Farbe an den Wänden und keine Hei­zung. Und das Essen… der Geruch ist das Schlimmste. Man kann es zwar schlucken, aber der Geruch macht es äu­ßerst schwierig. Die Unterstützung, die sie von der Regierung erhalten, ist sehr klein. Sie leben teilweise in sehr großer wirtschaftlicher Not. Das einzige Privileg, das sie besitzen, ist die Chance, zu stu­dieren und zu lernen.
Abends organisierten die Studierenden ein Treffen, auf dem ich sprechen sollte, mit einem Hungerstreikenden, der am nächsten Tag nach Peking fahren sollte. 500 Men­schen nahmen daran teil, umge­ben von Studierenden, die mit Stöcken bewaffnet waren, weil die Universitätslei­tung die Versammlung verboten hatte. Ich erklärte die Verbindung zwischen dem Kampf in China und denen in ande­ren stalinistischen Ländern, in Polen, Jugos­lawien und der Sowjetunion. Wieder ein­mal zeigte sich der Interna­tionalismus der Studierenden. Als ich ihre Erfahrungen international verallgemeinerte, kamen die meisten Reak­tionen. Nachtwachen bei Kerzenlicht vor der chinesischen Bot­schaft in London oder in New York inte­ressierten sie nicht. Sie wollten Ideen, wollten eine Art Führung für die Bewe­gung und den richtigen Weg hin. Das war ihnen soviel wert wie tausend Tränen im Rest der Welt. So we­nigstens der Ein­druck, den ich von ihnen hatte.
Ich wusste nicht, dass, als ich zu denen sprach, die ich für eine geschützte Menge von 500 Menschen hielt, meine Rede über den Studierenden-Sender direkt zu 50.000 Menschen in der Universität über­tragen wurde! Am näch­sten Tag kehrte ich nach Peking zurück — so schnell wie möglich. Am Samstag war ich wieder auf dem Platz des Himmlischen Friedens, am Tag vor dem Massaker. Wie vorher schon, führte ich auch an diesem Tag ei­nige her­vorragende Gespräche mit ver­schiedenen Studierendengrup­pen, im In­halt ähnlich wie zuvor.

Samstag, der 3. Juni

Gegen Abend ging ich zurück zum Denkmal, um mich zu setzen. Es war eine warme, milde Nacht. Tausende von Men­schen waren dort. Es war Samstagabend und wir ruhten uns alle ein wenig aus. Morgen würde ein neuer Tag sein … und sonntags kamen immer die ArbeiterInnen hier­her. Alles schien in Ordnung. Am frü­hen Abend lag eine leichte Spannung in der Luft. Sofort holten die Studierenden jene herbei, die sie als „Lumpen-Jugend“ bezeichne­ten, ehemalige Zuchthäusler, wie sie sie nannten, die die Studierenden unterstützten, rau, aber zuverlässig. Ei­gent­lich ganz nette Jungs. Sie kamen be­waffnet mit Mistga­beln und Knüppeln. Sie setzten sich in meiner Nähe hin. Sie spra­chen kein Englisch. Aber einer von ihnen gab mir einen Schluck Wasser, ich nahm es…und es schmeckte wie irischer, schwarzgebrannter Whisky, es war über­haupt kein Wasser, sondern das stärkste, das ich je in meinem Leben getrunken habe! Ich glaubte, es sei Wasser und nahm daher einen kräftigen Schluck.

Aber ich musste nicht husten, also dach­ten sie wohl, „der ist schon in Ordnung!“

Im Laufe des Samstag geschah einiges, das mir und den Studierenden das Gefühl gab, dass in dieser Nacht etwas passie­ren würde. Zum ersten hatte die Regie­rung Spione auf den Platz geschickt. Die chinesische Regierung be­sitzt nicht diese Erfahrung in Sachen Unterdrückung, von der man schon gehört hat, wenn man „Die rote Ka­pelle“ oder „Tagebuch der Hölle“ gelesen oder die DDR besucht hat. Die Unterdrückung hier ist grober, blu­ti­ger. Diese Spione trugen z.B. alle weiße T-Shirts und Khaki! Offensichtlich war ih­nen befohlen worden, ge­trennt aufzutre­ten, aber sobald sie den Platz erreicht hatten, bekamen sie solche Angst, dass sie alle beisammen standen! Die Studie­renden nahmen sie gefangen, schleppten sie zum Denkmal der Helden des Volkes und verprügelten sie. Sie töteten sie nicht, verprügelten sie nur. Dann stellten sie sie vor ein Mikrophon, und man konnte hö­ren: „Oh, es tut mir leid, ich wollte das nicht tun, ich wurde gezwungen, hierher zu kommen“. Dann verprügelten sie sie nochmals und ließen sie laufen. Das war eine ganz gute Taktik.
Die Studierenden und ArbeiterInnen auf dem Platz waren nicht bewaffnet. In den vorhergehenden Tagen und Wochen hat­ten ArbeiterInnen aus den Waffenfabri­ken, die im Streik waren, den Studieren­den Waffen angeboten. Die Studierenden lehnten ab. An diesem Samstag, als die 27. Armee in Richtung Peking zog, hielten zwei gepanzerte Armeetransporter — die in Wirklichkeit voll mit Waffen waren, nicht mit Soldaten — und boten den Stu­dierenden diese Waffen an. Wieder lehn­ten sie ab. Sie besaßen nur Knüppel. Ei­nige Studierenden hatten Handfeuerwaf­fen, und sie empfanden sich selbst als Terroristen. Sie wollten Li Peng erschie­ßen. Sie waren nicht daran interessiert, ihre Waffen mit den anderen zu teilen. Es war wie ein Privileg, sie waren fast stolz auf die Tatsache, dass sie eine Waffe hatten. Allerdings hatten sie nur sechs oder sieben Patronen.
Noch bevor es dunkel wurde, ca. fünf Uhr nachmit­tags, zogen 3.000 Soldaten in die große Halle des Volkes, westlich des Platzes des Himmlischen Friedens. Sie übernahmen das Gebäude. Dahinter sa­ßen sie alle in konzentrischen Kreisen. Die meisten waren unbewaffnet, außer einigen in der Mitte. Die Studierenden umringten sie und sprachen mit ihnen. Einige dieser Gespräche verlie­fen gut. Manche Soldaten weinten und sagten: „Wir wol­len gar nicht hier sein“.
Über die Armee muss gesagt werden, dass sie eine Bauernarmee ist. Wie zu je­der Zeit der chinesischen Ge­schichte ist es eine Bauernarmee. Aus einer Fabrik mit tausend ArbeiterInnen werden viel­leicht drei einberufen. Als Industriearbei­ter muss man schon sehr viel Pech ha­ben, um in die Armee gehen zu müssen. Wenn man zur Uni­versität geht, kann man fast sicher sein, nicht einberu­fen zu werden. Die meisten Bauern aber wollen in die Armee, denn nach drei Dienstjahren darf man in der Stadt leben — was bei Bauern sonst nicht der Fall ist. Also sind auch die „Pekinger Truppen“ Bauern aus der Gegend um Peking, nicht Industriear­beiter oder Studierende aus Peking.
Es ist eine bewusste Taktik der Bürokra­tie, die Armee nicht auf Industriearbeitern aufzubauen. Trotzdem, wenn (unbewaff­nete) Soldaten bisher geschickt worden waren, um den Platz zu räumen, hatten sie auf die Appelle der ArbeiterInnen und Studierenden reagiert, welche die Trup­pen und ihre Fahrzeuge umringten und sie überredeten weg­zugehen.

Barbarei

An jenem Samstagabend kehrte ein Stu­dent aus dem Westen der Stadt zurück und berichtete uns, dass Solda­ten mit Tränengas angerückt seien. Ungefähr ei­nen Tag vorher war ein Militärfahrzeug in eine Gruppe von drei Studierenden gefah­ren und hatte sie getötet. Die Stimmung war also ziemlich angeheizt. Ein Student fing an, Steine nach den Soldaten zu werfen. Und das war der Beginn der Bar­barei, die ich einige Stunden später sehen sollte.
Einige der Soldaten liefen in die Menge und fingen den Studierenden. Sie schleppten ihn zwischen die 3.000 Sol­daten und zogen ihn aus. Es war immer noch sehr heiß, ca. 32° C. Sie schlugen ihn mit einem hölzernen Knüppel auf den Kopf. Er stand immer noch. Sie sorgten dafür, dass er stehen blieb. Sie zertrüm­merten ihm den Schädel. Er stand einfach da und verblutete. Ungefähr zwei Stunden später fiel er tot um. Es war ein entsetzli­cher Anblick. Sie zwangen ihn, dort zu stehen, aus sei­ner Kopfwunde blutend, bis er starb.
Aber zu diesem Zeitpunkt waren die Ar­beiterInnen und Studierenden noch zu­versichtlich. Die ArbeiterInnen der unab­hängigen Gewerkschaft übernahmen jetzt die Planung. Sie hatten Stadtpläne und sagten: „Die Soldaten sind hier, die Sol­daten sind dort … wir sollten Arbeiterba­taillone hierhin schicken und dorthin … die älteren Arbeiterinnen (die am besten mit den Soldaten sprechen und sie vom Schießen abhalten konnten) sollten wir dorthin schicken, denn das sind die grau­samsten der Soldaten, bei denen am meisten Überredungskraft ge­braucht wird.“ Je weiter der Samstagabend fort­schritt, desto mehr übernahmen die Ar­beiterInnen die Führung von den Studie­renden. Fast als ob sie dachten: „Dies ist jetzt unsere Schlacht. Ihr Studierenden habt die Bewegung so­weit geführt, das ist O.K., aber jetzt müssen wir übernehmen.“ Die unabhängige Gewerkschaft war zu dem Zeitpunkt erst im Anfangsstadium. Sie war schließlich erst einige Tage alt. Und da sie erst gegründet wurde, als die Bewegung bereits wieder abebbte, und nicht gleich am Anfang, hatten viele Ar­beiterInnen immer noch Angst, der Ge­werkschaft beizutreten oder sich von ihr leiten zu lassen. Aber die Gewerk­schaftsführer taten, was sie konnten, ohne zu vergessen, dass sie kein ausge­feiltes marxistisches Programm hatten, und dass sie nicht bewaffnet waren.
Um Mitternacht geschah es. Die 27. Ar­mee rückte vom Westen her an. Das wa­ren keine Soldaten aus Peking. Sie hatten in Vietnam gekämpft. Sie hatten die nati­onalen Rechte der tibetischen Bevölke­rung unterdrückt. Sie waren an der russi­schen Grenze gewesen. Diese Soldaten waren ans Töten gewöhnt. Und in den Wochen vorher konnte man sogar in den Regierungszeitungen und im Fernsehen sehen, dass die Bürokratie und die Be­fehlshaber diese Soldaten schon in La­gern vor der Stadt stationiert hatten. Sie durften keine Zeitungen lesen. Sie wurden nur auf eines getrimmt: „Wenn ihr in die Stadt ein­zieht: die Leute, die euch gege­nüberstehen, sind Faschisten, Konterre­volutionäre. Sie werden Dinge zu euch sa­gen, wie z.B., die Volksbefreiungsar­mee könne die Leute nicht einfach er­schießen, usw.. Aber das ist nur ein Trick. Das meinen die nicht so. Das ist nur Pro­paganda.“ Diese Soldaten waren also auf das vorbereitet, was Studierenden und ArbeiterInnen zu ihnen sagen würden. Das war Gehirnwäsche.
Es gab Gerüchte, dass sie Drogen ge­spritzt bekämen. Man erzählte ihnen na­türlich, dass der Platz des Himmlischen Friedens verseucht sei, was nicht stimmte. Vor der Niederschlagung gaben offizielle Regierungszeitungen zu, dass die Zahl der Verkehrsunfälle und Verbre­chen in Pe­king — welches im Grunde unter Kontrolle und Verwal­tung der Ar­beiterInnen stand, oder zumindest Ele­mente von Doppelherrschaft aufwies — gesunken war. Ich sah in Pe­king vor der Eskalation nicht einen Polizisten, außer Verkehrspolizisten, und auch die waren überflüssig. Sie standen nur herum, wäh­rend die Studierenden den Verkehr re­gelten. Jedenfalls ging das Gerücht um, dass diese Sol­daten so etwas wie Auf­putschmittel oder Adrenalinsprit­zen er­hielten. Ein französischer Reporter, der in Algerien gekämpft hatte, erzählte mir, dass sie damals, wenn sie im 24-Stun­den-Einsatz waren, Spritzen bekamen, welche sie wach und aufmerksam halten sollten. Er nahm an, dass sie hier den Soldaten das gleiche verabreichten.
Wenn das, was folgt, nicht mehr so flüs­sig sein sollte, dann deshalb, weil ich in der letzten Woche einige entsetzliche Dinge gesehen habe, schreckliche Dinge, die ich nie wieder sehen möchte. Die ein­zige Garantie dage­gen ist die Verbindung der Bewegung mit marxistischen Ideen. Darum kommt man einfach nicht herum.

Mitternacht

Um Mitternacht rückten die Soldaten in folgender Formation ein. Zuerst die, die Tränengas warfen. Es gibt verschiedene Formen Tränengas. Das hier ließ nicht die Augen tränen, sondern löste Krämpfe in Magen und Brust aus. Einige Studie­renden hatten mir eine Gasmaske gege­ben, und ich fühlte mich sehr privilegiert, fast als hätte ich noch einmal dieses Banner erhalten, denn es gab sehr we­nige dieser Masken. Ich wollte sie nicht nehmen, aber sie bestanden darauf, es war unmöglich, nein zu sagen.
Danach kamen die Soldaten mit Schlag­stöcken. Das ist reine Ironie: Auf der ei­nen Seite redet die Bürokratie davon, dass die Studierenden pro-kapitalistisch und die Re­gierung eine „revolutionäre Regierung“ sei, auf der an­deren Seite wa­ren diese Schlagstöcke aus Taiwan im­por­tiert. Das kapitalistische, konterrevolu­tionäre Taiwan versorgte die chinesischen Stalinisten mit Schlagstöcken, um chine­sische ArbeiterInnen und Studierenden damit zu verprügeln. Es waren nicht nur einfache Schlagstöcke. Diese waren elektrische Schlagstöcke, so dass man nicht nur einen furchtbaren Schlag auf den Kopf, oder wo sie einen auch treffen mögen, sondern gleichzeitig einen elektri­schen Schock bekommt.
Das war die zweite Welle. Die dritte be­stand aus be­waffneten Fußsoldaten. Dar­auf folgten Panzer und gepan­zerte Ar­meetransporter. Mit den gepanzerten Fahrzeugen kamen Kommandeure in Jeeps im Stil der US-Jeeps im 2. Welt­krieg mit großen Antennen. Es waren auch Hub­schrauber da, aber die waren bei Nacht nicht sehr nütz­lich, da sie keine Scheinwerfer hatten. Sie sollten die Leute nur einschüchtern. Am nächsten Tag wa­ren sie al­lerdings zumindest für die Re­gierung nützlich.
Etwa um sechs Uhr nachmittags wurden auf den Straßen, die zum Platz führten, mit Bussen Barrikaden errichtet. Die Leute auf dem Platz steckten die Busse in Brand, als sie die Soldaten kommen sa­hen. In jeder Straße im Zentrum von Pe­king gibt es Zäune von ca. ei­nem halben Meter Höhe. Sie gruben diese Zäune aus und stellten sie auf jeder Seite der bren­nenden Busse auf. Sie rissen die Wege auf, um steinerne Barrikaden zu er­richten. Es wurde viel aufgebaut. Backsteine wur­den zerbrochen, damit sie leicht weiter geworfen werden konnten. Ein großer Stein, den man nicht werfen kann, ist nutzlos. Nur einige wenige ArbeiterInnen und Studierenden hatten Waffen.
Aber die Schlacht verlief an der politi­schen Front, d.h. auf dem Felde der Pro­paganda. Selbst als die Sol­daten mit dem Tränengas kamen, liefen die Leute ihnen entgegen und riefen: „Ihr könnt uns nicht erschießen, ihr seid die Armee des Vol­kes! Wie könnt ihr das Volk erschießen?“ Man hörte, dass sogar in dieser Nacht ei­nige Soldaten sich weigerten zu schießen, und dass ihre Kommandeure sie mit Waffen bedrohen mussten, damit sie es doch taten. Als es geschah, und sie an­fingen zu schießen, dachte selbst ich als Marxist zunächst, sie könnten es nicht tun. Das klingt vielleicht naiv, aber ein solches Massaker direkt vor sich zu se­hen, war ein schockierendes Erlebnis. Man lässt sich von der Bewegung um sich herum beeinflussen, und die Bewe­gung um mich herum war überzeugt, dass die Soldaten nicht schießen würden. Als es geschah, war es ein Schlag für das ganze System.

Massaker

Sie haben das Feuer eröffnet, und die Menschen fallen einfach um, immer mehr. Einige stehen manchmal wie­der auf und gehen auf die Soldaten zu, einige mit roten Fahnen, einige mit Steinen, an­dere rufen nur. Sie bre­chen zusammen, sie stehen wieder auf. Die Soldaten schießen jeden nieder.
Ich habe einen Dreijährigen gesehen, mit einem Bajo­nett durch die Brust. Ich habe eine schwangere Frau gesehen, der sie das Bajonett in den Leib gestochen hat­ten, und ihr ungeborenes Kind lag neben ihr auf dem Boden. Es war absolut grau­enhaft, was sie taten.
Es war ein halbstündiger Zug einer an­greifenden Ar­mee, die durch die Barrika­den hindurch gegen die Studierenden und ArbeiterInnen kämpfte. Sie hatten sich im Laufe des Nachmittags in den Arbeiter­vierteln formiert. Als sie vorrückten — und dabei blieben sie zusammen, denn kei­ner der Soldaten wollte von den ande­ren getrennt wer­den — folgten diesem halbstündigen Zug Tausende von unbe­waffneten ArbeiterInnen, manche auf Fahrrädern. Diese Masse von ArbeiterIn­nen hinter den Sol­daten konnte nicht ge­gen sie kämpfen, aber sie sangen die In­ternationale. Die Soldaten im hinteren Teil der Truppe wussten nicht, was sie tun sollten. Sie schossen gelegentlich. Jeder ließ sich fallen. Man wusste nicht, wie ­viele getötet wurden, denn manche stan­den wieder auf, und die Toten blieben zwischen ihnen auf dem Boden lie­gen. Es sah fast aus wie Wellen am Strand, im­mer und immer wieder, und sie sangen die Internationale.
Später in der Nacht wurden die Menschen immer ver­bitterter. Sie riefen den Solda­ten „Faschisten, Faschi­sten“ zu. Jeder, der die Frechheit besitzt zu behaupten, diese Bewegung sei konterrevolutionär, hätte bloß einmal fünf Minuten dort sein sollen.
Auch die bürgerlichen Journalisten konn­ten nicht glauben, was sie sahen. Einige dieser Journalisten be­kamen Angst und liefen davon, andere waren recht tapfer. Die Journalisten haben mehr Mumm als die reformi­stischen Führer der Arbeiter­bewegung im Westen, denn sie werden von ihren Zeitungen von Brennpunkt zu Brennpunkt geschickt, und sie legen sich ein Ver­ständnis für weltweite Entwicklun­gen zu. Sie sehen die Weltrevolution di­rekt vor sich ablaufen. Aber sogar ei­nige dieser Leute konnten nicht glauben, was sie sahen.
Als die Soldaten den Platz des Himmli­schen Friedens, das Zentrum der Revolu­tion erreichten, umkreisten sie ihn und setzten sich hin. Die Studierenden und ArbeiterInnen wurden von Norden, Osten und Westen her umzingelt. Nur Richtung Süden gab es eine Fluchtmöglichkeit. die Soldaten gaben den Studierenden eine Stunde zu ver­schwinden. Zu diesem Zeit­punkt verließ ich den Platz mit drei Stu­dierenden, die mir halfen, in den Süden zu fliehen. Danach formierten sich viele der Studierendenführer zu einem Block, wie eine militärische Formation, und schoben sich durch die Truppen. Als sie zwischen den Soldaten durchliefen, wur­den sie ziemlich übel geschlagen, aber keiner von ihnen wurde getötet.
Einige der Studierenden und ArbeiterIn­nen blieben auf dem Platz. Die Soldaten mähten sie einfach um. Sie schossen sie tot. Sie erschossen sie einfach. Tote und Verletzte lagen auf dem Platz. Dann ka­men die Panzer und über­rollten sie, zer­drückten sie. Die Soldaten hatten Bulldo­zer, mit deren sie die Leichen und Zelte auf einen Haufen schafften und jeden und alles darin verbrannten. Ich bin über­zeugt., dass einige der Menschen noch am Le­ben waren, als sie verbrannt wur­den. Dafür habe ich allerdings keine Be­weise. Alle diese Menschen sind jetzt offi­ziell für vermisst erklärt, nicht für tot.
Das war am frühen Sonntag morgen. Bis zum Sonntag Mittag wurde in den Stra­ßen von Peking gekämpft. Als ich unge­fähr um sechs Uhr morgens zum Platz des Himmlischen Friedens zurückkehrte, sah ich die Kehr­seite, denn es war keine einseitige Schlacht.

Straßenkämpfe

Die Soldaten beschossen die Studieren­den auf den Straßen mit Tränengas. Die Studierenden flohen, versuchten über ei­nen Zaun zu klettern. Elf der Studieren­den, die die volle Wucht des Tränengases abbekamen, schafften es nicht, hinüber­zukommen. Ein Panzer fuhr nah am Zaun entlang und drückte sie zu Tode. Sie wa­ren flach wie Streichholzschachteln. Die­ser Panzer verlor den Anschluss an die anderen. Die ArbeiterInnen umzingelten ihn wie Ameisen eine tote Ratte. Sie ris­sen den Deckel ab. Drinnen saß ein Kommandeur, nicht nur ein einfacher Panzerfahrer. Sie holten ihn heraus, ver­prügelten ihn und verbrannten ihn bei le­bendigem Leibe, wie man es seit 1984/86 in Südafrika immer wieder sieht. Dann hängten sie ihn auf, als Warnung für die Soldaten weiter unten auf der Straße. So war es fast überall, seit das Massaker ange­fangen hatte. Wenn die Leute Sol­daten zu fassen be­kamen, rissen sie sie praktisch in Stücke. Zu diesem Zeitpunkt gab es hierzu einfach keine Alternative.
Wenn die ArbeiterInnen bewaffnet gewe­sen wären, und wenn schon früher im Kampf solche Exempel statuiert worden wären, hätte es anders ausgehen könne. Ich rede nicht von Exempeln an einzelnen Gefangenen oder einzel­nen verängstigten Spionen auf dem Platz des Himmlischen Friedens. In solchen Fällen sollte man sie ein wenig ver­prügeln, sie dazu bringen, sich zu entschuldigen und Propaganda daraus machen. Aber wenn Soldaten tö­ten, wie zu diesem Zeitpunkt, blindlings, barbarisch, dann muss man darauf brutal reagieren. Dies war Revolution oder Konterrevolution direkt vor den Augen al­ler, und so etwas ließ sich da nicht ver­hindern.
An jenem Sonntag herrschte Zorn, nicht Bedrückung. Ein frustrierter Zorn: „Wie konnte das passieren?“ Ich fühlte mich genauso. Ich hatte für den Montag auf dem Platz Versammlungen organisiert und benötigte volle sechs Stunden, um mir klarzumachen, dass der Platz ge­räumt war. Was das Zentrum der Welt zu sein schien, war über Nacht von Revolu­tion in Konterrevolution umgeschlagen, und der Platz des Himmlischen Friedens war nun ein einziges Blutbad der Metzger der 27. Armee. Ich hielt mich eigentlich für einen relativ erfahrenen Marxi­sten, der schon viel herumgekommen war und viel gesehen hatte! Aber ich kam mir vor wie ein Narr, weil ich wirklich sechs Stunden dafür brauchte. Ich sagte zu den Leuten: „Aber sicher sind die Studierenden noch dort. Ich werde am Montag weitere Ge­spräche mit ihnen führen.“ Die Leute lachten mich aus und sagten: „Sei nicht dumm. Sie sind tot. Es ist zuende.“
Und wenn schon ich so empfand, kann man sich vor­stellen, wie sich die chinesi­schen ArbeiterInnen und Studierenden fühlten, die ihr Leben, die alles aufs Spiel gesetzt hat­ten, für das, was die Bewe­gung auf dem Platz des Himm­lischen Friedens darstellte. Sie bedeutete ihnen alles. Und dann wurde sie derart zer­schlagen. Aber das zeigt die Notwendig­keit von Ideen. Was ihnen fehlte, war ein klares Programm, basierend auf klaren Perspektiven. Ebenso fehlte eine klare Führung. Dann hätte dies alles nicht ge­schehen müssen.
Als ich bei den Studierenden auf den Straßen um den Platz des Himmlischen Friedens war, bekam ich ein wenig Trä­nengas ab. Als die Situation sich zu­spitzte, bekam ich Angst. Ich würde lü­gen, behauptete ich etwas anderes. Je­der, der in den Krieg zieht, zurückkommt und be­hauptet, es sei großartig gewesen, ist entweder ein Narr oder ein Lügner. Wir hatten alle Angst. Aber an jenem Sonntag morgen war es anders. Wir wurden be­schossen und mit Tränengas angegriffen. Wegen der Toten um uns herum und des Zorns, den wir fühlten, waren wir alle, selbst ich, zu allem fähig.
Wenigstens zehn der Menschen, mit de­nen ich in den vorhergehenden Tagen diskutierte hatte, waren nun tot. Am Abend vorher hatte ich bei der „Lumpen-Jugend“ mit einem Mädchen gesprochen. Sie war 18 Jahre alt, hatte eine runde „John-Lennon“-Brille und ein schwarz-weißes Kleid — ein ziemlich schmächti­ges Mädchen. Wir alberten herum und plauderten miteinander. Am nächsten Tag fand ich ihre Leiche.
Ich war der einzige Westler, der sich auf der Straße aufhielt, und hatte meine Ka­mera dabei. Die Studierenden zogen mich von einer Leiche zur nächsten. „Mach‘ ein Foto hiervon. Was hältst du davon? Kannst du nach Hause fahren und den Leuten erzählen, was hier pas­siert?“ (Ei­nige der Studierenden gaben mir die Marke dieses Kommandeurs, den sie getötet hatten, und seine Knöpfe. Das mag zwar merkwürdig erscheinen, war es zu der Zeit aber nicht. Einige Tage später, als ich auf dem Weg zum Flughafen war, hielten die Soldaten Wagen an, und ich dachte: ich habe Fotos davon, wie dieser Kerl getötet wird, Fotos von seiner Leiche, seine Abzeichen, einen Tränengaskanis­ter und das Wappen des Platzes des Himmlischen Friedens. Also warf ich al­les, außer dem Wappen, auf die Straße.)
Am Tag des Massakers, als ich auf den Straßen herumging, habe ich wohl sechs oder sieben Straßentreffen abgehalten. Jedes Mal sagte ich: „Dieser Tag, der 4. Juni 1989, wird in die Geschichte einge­hen. Jeder, der heute gestorben ist, ist ein Märtyrer der Weltrevolution. Man wird sie nie vergessen. Alle ArbeiterInnen und Studierenden auf der ganzen Welt haben eine Lektion gelernt, und die ist sehr ein­fach. Kein denkender Arbeiter, kein den­kender Student irgendwo auf diesem Pla­neten, wird je wieder irgendwelche Illusio­nen in die Regierung der sogenannten Kommunistischen Partei haben. Sie kann sich nicht mehr eine revolutionäre Regie­rung nennen. Eine Regierung, der das Blut der chinesischen ArbeiterInnen und Studierenden an den Händen klebt, ist keine kommunistische Regierung. Von heute an sind die ArbeiterInnen und Stu­dierenden der gan­zen Welt mit den chi­nesischen Menschen.“
Die Reaktion auf diese Rede war absolute Erregung. Einige Leute versuchten, mich auf ihre Schultern zu he­ben. Da bekam ich wirklich Angst! Kugeln flogen um uns herum. Wenn ich dann gesagt hätte, dass China eine re­volutionäre Arbeiterpartei mit den Ideen von Marx, En­gels, Lenin und Trotzki braucht, dann wäre ich erle­digt gewesen. Alle Illusionen, zumindest in diesen Flügel der Kommunistischen Partei, welcher in der vorhergehenden Nacht diese Entscheidung getroffen hatte, waren für im­mer verschwunden.

Zerrissene Parteibücher

Die Kommunistische Partei hat 47 Mio. Mitglieder — das sind 5% der Bevölke­rung. Viele der Studierenden in der Be­wegung waren Mitglieder der Kommunis­tischen Partei, besonders in der Parteiju­gend, einige der ArbeiterInnen ebenfalls. Ich sah, wie zwei der ArbeiterInnen ihre Parteibücher am Tag nach dem Massaker zerrissen. Sie sagten: „Wir lassen uns nicht länger mit dieser Regierung identifi­zieren nach dem, was sie letzte Nacht getan hat.“
Die KPCh ist nicht das gleiche, wie die Re­gierungspartei in, sagen wir, Osteu­ropa oder der So­wjetunion. Es gab in der KPCh immer noch viele Leute, die sie, zumindest vor dem Massaker noch für eine re­volutionäre Organisation hielten, die die Gesellschaft vorwärtsbringt. Die Bürokratie in China ist wirtschaftlich ge­sehen erst eine relative Fessel für die Produktion. Es gab noch nicht den extre­men Hass gegen die Bürokratie wie in Osteuropa. Als Mitglied der Kommunisti­schen Partei war man nicht unbedingt gleich Bürokrat oder ein Streikbrecher. Aber heute ist die Situation anders. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Student oder Arbeiter mit Kenntnissen über die Geschehnisse der letzten Wo­chen jetzt noch mit revolutionären Illusio­nen der Kommunistischen Partei beitritt.
Das Entstehen dieser Bewegung bedeu­tete die „Ent­leerung“ der Kommunisti­schen Partei. Ihre Zellen befin­den sich in den Fabriken und in allen Wohngebieten, und nach außen hin verurteilten diese Zellen die Bewegung, wie die Regierung es vorschrieb. Aber als die Basismitglie­der der Partei sich der Bewegung zuwen­deten, konnte die Partei auf örtlicher Ebene nicht mehr funktionieren. In die­sem Sinne war es wie der Zusammen­bruch der kommunistischen Partei Polens nach der Entstehung von Solidarnosc 1980/81. Es wird sehr schwierig sein, die Partei an der Basis in gleicher Weise wieder aufzubauen. Es wird eine „Kom­munistische Partei“ der Streikbrecher und Spione sein.
Man kann natürlich nicht sagen, dass sämtliche Illu­sionen in die KP jetzt für immer zusammengebrochen sind. Wenn ein Reformer wie Zhao in der nächsten Phase die Macht übernähme, könnte er durchaus seine Schonfrist haben. Aber wer auch immer mit diesem Massaker identifiziert wird — in ihn wird es absolut keine Illu­sionen mehr geben, ganz egal welcher Art. Nichts wird mehr so sein wie vor dem 4. Juni. Es ist ein großer Wen­depunkt in der chinesischen Revolution. Es war eine Erfahrung für China wie 1905 für Russland.
Für eine Weile gingen die Straßenkämpfe weiter. Die Stadt war ein Schlachtfeld. Überall sah man ausge­brannte Lastwa­gen, ausgebrannte Panzer, Leichen, Blut. Mit Blut an die Wände geschrieben sah man die Parole „Ge­neralstreik“.
Die Menschen hatten unglaublichen Mut. Sie standen auf den Strassen, Kugeln und Tränengas um sie herum, und hatten immer noch das Verlangen nach Gesprä­chen und Theorie. Sie wollten wissen, was ich denke. Jeder, der behauptet, „Theorie sei nur etwas für Intellektuelle‘, hätte jetzt eingesehen, dass das absoluter Blödsinn ist. Besonders in Zeiten der Re­volution wollen die Menschen Theorie.
Aber die Konterrevolution gewann immer mehr die Oberhand. Im Laufe der Zeit wurde es immer riskanter für die Arbeite­rInnen, Studierenden und auch für mich. Es ist eine ziemlich bedrückende Ge­schichte von Morden und immer einseiti­geren Kämpfen. Darauf gehe ich nicht wei­ter ein.
Die Konsequenz, die man daraus ziehen muss, ist die Notwendigkeit, die Arbeiter­bewegung auf marxistischen Ideen aufzu­bauen, bevor es zu derartigen großen Explo­sionen kommt. Theorie ist die stärkste Waffe der Revolu­tion. Sie muss an erster Stelle stehen. Die Frage der Bewaffnung, der Taktik, der Strategie und der Organi­sation ist der Theorie unterge­ordnet. Gewehre und Pi­stolen sind natür­lich die tödlichsten Waffen im Arsenal der Arbeiterklasse. Sie aber können nicht wir­kungsvoll genutzt werden, wenn man nicht die richtigen Ideen und keine politi­sche Führung hat.
Einige kapitalistische Reporter meinten, es werde eine Konfrontation zwischen verschiedenen Teilen der Armee geben – die 38. Armee (aus der Gegend von Pe­king) ge­gen die 27. Armee. Ich denke, das war ziemlich übertrie­ben. Es stimmt, dass die 38. Armee vermutlich mit Zhao zu identifizieren war, mit dem Reform-Flügel der Bürokratie. Als die Bewegung zerschlagen wurde, begannen verschie­dene Teile der Bevölkerung ebenfalls auf „Befreier“ zu hoffen: Sie hofften, die 38. Armee werde kommen und die Stadt „be­freien“.
Die 38. Armee stand im Süden der Stadt und beim Flughafen im Osten. Aber ich glaube, das war nur für den Fall, dass sich die ArbeiterInnen erfolgreicher gegen die 27. Armee zur Wehr gesetzt hätten, und falls es in Schanghai, der größten Stadt Chinas, zur Explosion ge­kommen wäre, was einen schlimmeren Kampf entfacht hätte. Dann, glaube ich, wäre die 38. Armee in Peking eingerückt, von den Massen als „Befreier“ verstanden, in Wirklichkeit jedoch als Ersatz für die 27. Armee, um die Ordnung wieder herzu­stellen und das bürokratische Sy­stem aufrechtzuerhalten. Unter diesen Um­ständen hätte man Li Peng und Deng als Sündenböcke ablösen müssen.
Aber nachdem die 27. Armee die Bewe­gung erfolgreich zerschlagen hatte, wa­rum sollte die 38. Armee dann überhaupt noch einrücken? Ihre Kommandeure sind ge­nauso ein Teil der Bürokratie und sind genauso an Unterdrückungen in Tibet und anderen Gegenden beteiligt. Sie haben bloß ihre Muskeln spielen lassen, um zur 27. Armee zu sagen, „O.K., ihr habt die Arbeit erledigt, aber glaubt jetzt nicht, ihr seid der dominierende Teil der Bürokratie. Es gibt da immer noch andere Tenden­zen, und wir warten nur auf den richtigen Moment. Wenn wir gegen euch gekämpft hätten, hätten wir das Volk hinter uns ge­habt, und ihr wäret gelyncht worden.“
Nun hat Deng es geschafft, die Situation zu stabili­sieren. Er wird alles Notwendige tun, um diese Bewegung auszulöschen und die bürokratische Ordnung zu erhal­ten. Es wird noch viele Verhaftungen und Tötungen ge­ben. Es ist sehr schwierig für die Studierenden, sich jetzt im Untergrund zu halten, da sie so leicht zu iden­tifizieren sind. Die Bürokratie zeigt Fotos der Stu­dierenden im Fernsehen und kann sie dann nach wenigen Tagen verhaften. So­gar innerhalb des Proletariats scheint es Leute zu geben, die zur besten Zeit der Bewegung ge­dacht haben mögen, sie könnte gewinnen, also kann ich sie ei­gentlich unterstützen, oder wenigstens neutral dazu standen und jetzt dem Re­gime wieder loyal ergeben sind und die Menschen um sie herum denunzieren. Während 99% der Gesellschaft die Be­wegung auf ihrem Höhepunkt unterstützt hätten, sieht die Sache jetzt anders aus. Die Regierung ist nicht völlig isoliert.
Wenn es nötig ist, wird sich der „Bam­busvorhang“ wieder öffnen. Deng soll ge­sagt haben: „Welchen Sinn haben aus­ländische Investitionen, wenn wir alle an La­ternenpfählen aufgehängt werden.“, obwohl sie sich na­türlich nicht unbedingt selbst von ausländischen Inve­stitionen usw. abhängen wollen, falls sie es nicht müssen. Vielleicht müssen sie zu stren­ger Zentralisierung der Wirtschaft zurück­kehren. Gleichzeitig mit der Unterdrü­c­kung könnten sie versuchen, den Arbeite­rInnen und Bauern einige wirtschaftliche Zugeständnisse zu machen.
Schließlich werden vielleicht einige als Sündenböcke herhalten müssen. Li Peng ist selbst innerhalb der Büro­kratie ziem­lich unbeliebt. Es geht das Gerücht um, er sei an jenem Sonntag, nach dem Mas­saker, von einer seiner eigenen Wachen zweimal ins Bein geschossen worden. Es ist unmöglich, dass selbst eine erfolgrei­che Konterrevolution eine Milliarde Men­schen mit Hilfe der meistgehassten Per­son des Landes auf Dauer regiert. Es liegt nicht im Interesse der Bürokratie, ihn kurzfristig loszuwerden, aber irgendwann, denke ich, werden sie ihn „hinausbeför­dern“.
Ich bin sicher, dass alle aktiven Arbeite­rInnen und Stu­dierenden weltweit mit Leib und Seele bei jenen in China ist, welche in den letzten Wochen das höchste Opfer ge­bracht haben. Die größte Missachtung, die wir diesen Märtyrern der Weltrevoluti­on jemals entgegenbringen könnten, wäre, sie umsonst sterben zu lassen — sie ster­ben zu lassen, ohne Lehren für die nächste Schlacht daraus zu ziehen.
Wenn Deng meint, mit Hilfe der 27. Ar­mee — der meistgehassten Gruppe von Soldaten, die es wahrschein­lich momen­tan auf der Welt gibt — ein Viertel der Weltbevölkerung, eine Milliarde Men­schen unterdrücken zu können, macht er damit den größten Fehler seines Le­bens. Es steht außer Frage, dass diese Bewe­gung sich wieder erheben wird. Es mag eine Weile dauern, aber sie wird sich wie­der erheben.
Die Aufgabe der MarxistInnen überall ist die, sicherzu­stellen, dass Konsequenzen hieraus gezogen werden und dass, wenn das nächste Mal ein solcher Kampf aus­bricht, die Ideen des Marxismus präsent sind, um diese Bewe­gung im bevölke­rungsreichsten Land der Welt auszurü­s­ten. Erst dann können wir sagen, dass diese GenossInnen nicht umsonst gestor­ben sind, und dass 1989 wirklich der erste Schritt, wie 1905, zu einer erfolgrei­chen politischen Revolution in China in den nächsten Jahren gewesen ist.
Juni 1989

Ein Programm für die Arbeiterdemo­kratie

1917 legte Lenin, der Führer der Russi­schen Revolu­tion die grundlegenden Be­dingungen für den Beginn ei­ner Arbeiter­demokratie dar, welche, wie er sagte, die Ba­sis für die Umwandlung der Gesell­schaft zum Sozialismus sind:
  • Jederzeitige Wähl- und Abwählbar­keit aller Funktio­näre
  • Kein Funktionär darf mehr als einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn verdienen,
  • Zug um Zug Einarbeitung aller in ver­waltende und lei­tende Funktionen von Wirtschaft und Staat, also Rota­tion der Ämter;
  • Auflösung des stehenden Heeres und Kontrolle der Be­waffnung durch die gewählten Organe der Arbeiterklasse.
Keine dieser Bedingungen existiert in China, der UdSSR oder anderen stalinis­tischen Staaten. Sie bleiben die Haupt­ziele der politischen Revolution, für den Sturz der Bürokratie und die Gründung einer Arbeiterdemokratie in diesen Län­dern.
Die heutigen MarxistInnen fordern außer­dem:
  • Kein Ein-Parteien-System, sondern volle demokratische Freiheit für alle Personen und Parteien;
  • Gründung von unabhängigen Gewerk­schaften;
  • Gewählte ArbeiterInnen-, Studieren­den-, BäuerInnen- und Soldatenräte für die Übernahme der Kontrolle über die Pro­duktion und jeden Teil des Staates

Anhang: Chronologie der Ereignisse 1919-1989

4. Mai 1919: Demonstration von 3.000 Studierenden auf dem Platz des Himmli­schen Friedens in Peking gegen die Be­dingungen des Versailler Vertrages und für „Demokratie und Wissenschaft“.
1921: Gründung der Kommunistischen Partei Chinas durch die Jugend der „Be­wegung des 4. Mai“, die, inspiriert vorn Beispiel der Russischen Revolution, be­gannen, in China eine Arbeiterbewegung als einzige Grundlage für eine nationale Befreiung aufzubauen.
1925-27: Die revolutionäre Bewegung der chinesischen Arbeiterklasse, die Kommu­nistische Partei Chinas (KPCh), unter dem Einfluss der stalinisti­schen Politik der Kommunistischen Internationale, gab die Führung an die „nationaldemokrati­sche“ Kuomintang-Bewegung unter Tschiang Kai-schek ab, die fortfuhr, ihre kommunistischen „Ver­bündeten“ zu er­morden und die Arbeiterbewegung zu zerschlagen. Nach der Zerstörung der Ar­beiterbewegung begann die KPCh Gue­rillakämpfe auf dem Land.
1944-49: Die KPCh unter Mao Tse-tung kam an der Spitze einer Guerillaarmee an die Macht. Obwohl „100 Jahren Ka­pita­lismus“ verschrieben, war sie gezwungen, Verstaatlichungen der Produktion durch­zuführen, da dies die ein­zige Grundlage war, auf welcher nationale Unabhängig­keit zu erhalten war. Aber ohne die be­wusste aktive Teil­nahme der Arbeiter­klasse lag die Macht von Anfang an in den Händen einer bürokratischen stalinis­tischen Diktatur.
1958—60: „Der große Sprung nach vorne“. Versuche, durch extreme Zentrali­sierung eine Industrie in China aufzu­bauen. Sie scheiterten und führten zur Entmachtung Maos durch Reformbüro­kraten wie Deng Xiaoping und Liu Schao-tschi.
1966-76: „Kulturrevolution“. Jugendbewe­gung von Mao in „Roten Garden“ mobili­siert, um die Reformer, die „dem Kapita­lismus folgen“, aus der Bürokratie zu entfernen, und um eine Strategie strikter Zentralisierung, Autarkie und Kollektivie­rung der Landwirtschaft zu fördern. Die Bewegung der Roten Garden musste schließlich von der Armee niedergeworfen werden.
1976: Maos Tod verstärkt die Position des Reform-Flügels, geführt von Tschu En-lai, Hua Guofeng und Deng Xiaoping. „Die Viererbande“, unter der Führung von Maos Witwe Tschiang Tsching wird für Ausschreitungen in der Kulturrevolution vor Gericht gestellt.
1978: „Wandzeitungen“. Massenbewe­gung der Jugend, besonders der Studie­renden, ursprünglich von Deng initi­iert, gegen den „linken Flügel“ der Bürokratie und für Demokratie. Die Bewegung geriet jedoch außer Kontrolle und bedrohte die gesamte Bürokratie. Also wurde sie von Deng niedergedrückt, 200 Jugendliche in­haftiert.
Dezember 1986-Januar 1987: Neue Stu­dierendenbewegung. Hu Yaobang, Gene­ralsekretär der KPCh, wird von Deng ge­zwungen zurückzutreten, als Sündenbock für die Ver­langsamung der Wirtschaft, als die dezentralisierenden Reformen nicht mehr vorankamen.
November 1987: 13. Parteitag der KPCh. Deng tritt in „Halbruhestand“ und ernennt den Reformer Zhao Ziang zum General­sekretär. Der Parteitag erweitert das „Reformprogramm“, kennzeichnet aber auch den Beginn eines Wiederzusam­menschlusses von „konservativen“, zent­ralistischen Bürokraten unter Li Peng.
Juni 1988: Mord an einem Studierenden in der Pekinger Universität löst Studie­rendenproteste aus, die steigende Unzu­friedenheit widerspiegeln, besonders in städtischen Gegenden, wo die Reformpo­litik zu Inflationsraten von offiziell 21% (inoffiziell 31%) geführt hat.
Januar 1989: Studierendenunruhen gegen afrikanische Studierenden.
15. April: Hu Yaobang stirbt, angeblich während einer feurigen Debatte im Polit­büro. Position des „konservati­ven“ Flü­gels der Bürokratie gegen Zhao Ziang wird ge­stärkt.
17. April: 100.000 Studierende demonst­rieren auf dem Platz des Himmlischen Friedens zum Andenken an Hu, und um die Demokratie zu unterstützen.
21. April: Studierende demonstrieren er­neut und behalten die Nacht über die Kontrolle über den Platz des Himmli­schen Friedens.
22. April: Demonstrationen auf dem Platz gehen weiter während Hus Beiset­zung in der großen Halle des Volkes.
24. April: Studierenden beginnen Streik in den Klassenräu­men.
27. April: 50.000 Studierende marschie­ren zum Platz des Himmlischen Friedens, der Obrigkeit zum Trotz, und zie­hen 1 Mio. Sympathisanten an.
2. Mai: Fahrraddemonstration der Studie­rendenführer zu Re­gierungs- und Politbü­ros in ganz Peking. Sie fordern Verhand­lungen mit der Obrigkeit.
4. Mai: Studierendenmarsch zum Platz des Himmlischen Frie­dens, die Menge auf dem Platz wächst auf 100.000 Men­schen an. In zehn anderen Städten ebenfalls Studierendendemonstrationen.
13. Mai: 1.000 Studierende beginnen ei­nen Hungerstreik, um die Forderungen nach einer im Fernsehen übertragenen Debatte zwischen Studierenden und Re­gierung und anderen demokratischen Reformen zu unterstützen. Später kom­men weitere 2.000 Studierenden hinzu.
15. Mai: Gorbatschow kommt nach Pe­king. Jetzt ständige Besetzung des Plat­zes.
16. Mai: Gorbatschow trifft Deng an der großen Halle, während draußen auf dem Platz die Demonstration mit mittlerweile 250.000 Menschen weitergeht. Proteste in Schanghai und fünf anderen Provinz­hauptstädten.
17. Mai: 1 Million Menschen demonstrie­ren in Peking. Prote­ste in sieben anderen Städten
19. Mai: Truppen beginnen in Peking ein­zurücken. Drei­einhalbstündige Debatte zwischen Studierenden und Regie­rung in Schanghai im Fernsehen übertragen.
20. Mai: Das Kriegsrecht wird erklärt. Nur Zhao wider­spricht der Entscheidung des Politbüros. Massenmobili­sierung der Studierenden und ArbeiterInnen. Bau von Blockaden. Die Soldaten werden daran gehindert, auf dem Platz einzumarschie­ren, der Hungerstreik wird beendet, aber die Besetzung des Platzes geht weiter. Demonstrationen in zwanzig Städten.
21. Mai: Demonstrationen gehen weiter. Militärkomman­deure in Peking kritisieren die Erklärung des Kriegsrechts. 1 Million Menschen demonstrieren in Hongkong. Weitverbreitete Gerüchte über Li Pengs Rücktritt, die sich später als falsch her­ausstellen.
24. Mai: Der „reformistische“ Vorsitzen­de der Nationalen Volksversammlung Wan Li beendet einen Besuch in den USA vorzeitig, um zu versuchen, gemäßigte Kräfte zusammenzubringen. Li Peng er­hält Unterstützung der Militärführung.
25. Mai: Demonstrationen werden all­mählich kleiner.
28. Mai: Bewegung in China nimmt ab. Verstärkung der Position des konservati­ven Flügels der Bürokratie geht weiter. Größte Demonstration überhaupt in Hongkong und Demonstration in der portugiesischen Kolonie Macao.
4. Juni: Truppen räumen den Platz des Himmlischen Frie­dens, töten und ver­wunden Tausende. Eine Woche der Mas­senproteste, Demonstrationen und Streiks in China folgt.

http://www.sozialismus.info/2014/06/vor-25-jahren-massaker-auf-dem-platz-des-himmlischen-friedens/