Mittwoch, 19. März 2014

Wenns im Standard steht....

"Die Zeit der Hooligans ist vorbei"



Heino Hassler kennt die deutsche Hooliganszene aus der Innen- und Außenperspektive. Im Interview spricht der langjährige Nürnberger Fanprojekt-Mitarbeiter über den Erlebnisspielplatz Stadion und die schlechten Manieren ostdeutscher Hooligans
Heino Hassler hat keine Berührungsängste, was seine Vergangenheit betrifft. "Wenn nicht die alte Leier vom Saulus zum Paulus im Mittelpunkt steht, können wir das Interview gern machen", sagt er bei unserem ersten Telefonat. Und es ist wirklich lange her, dass der heute 58-Jährige selbst zur erlebnisorientierten Nürnberger Fanszene gehörte. Später, als sich die Vereine angesichts steigender Gewalt vermehrt 
für ihre Fans zu interessieren begannen, wurde Hassler zum Vermittler und baute 
die Fanarbeit in Nürnberg auf. Für den ballesterer lässt er drei Jahrzehnte Hooligan-Geschichte noch einmal Revue passieren.

ballesterer: Sie waren in den 1970er Jahren in der gewaltbereiten Fanszene unterwegs, als von Hooligans noch nicht die Rede war. Wann hatten die Hooligans in Deutschland ihren Durchbruch?
Heino Hassler: Die "Red Devils Nürnberg" haben sich 1980 gegründet. Davor hat es Ende der 70er schon Gruppen gegeben, die an den Film "Clockwork Orange" angelehnt waren und die wir Popper nannten. Die sind ohne Fanartikel ins Stadion gegangen, hatten aber teilweise bei strahlendem Sonnenschein dicke Regenschirme dabei. Das waren die Vorbilder, denen viele nacheifern wollten. Bald haben sich überall im Land kleine Grüppchen gebildet. Die Medien haben den Begriff Hooligan aus England übernommen, und die Leute haben sich dann auch selbst so genannt.
Was hat diese Bewegung für die Jugendlichen so attraktiv gemacht?
Hassler: In den deutschen Stadien waren damals viel weniger Zuschauer, man hat sich also schön austoben können. Sicherheit war überhaupt kein Thema: keine Kameras, kaum Polizei. Das haben viele Leute als Anlass genommen, um einmal richtig Gas zu geben. Gekommen sind sie aus allen Schichten der Gesellschaft. Wir hatten vom arbeitslosen Jugendlichen bis zum Architekten die komplette Bandbreite. Auch politisch gesehen war da von links bis rechts alles dabei. Der gemeinsame Nenner war in unserem Fall der 1. FC Nürnberg, obwohl es den Hools immer mehr um das Repräsentieren ihrer Stadt als ihren Verein gegangen ist.
Woher kommt das rechte Image, das viele Hooligans in Deutschland hatten?
Na ja, von den Ursprungsgruppen waren schon viele eindeutig rechts, zum 
Beispiel die Dortmunder "Borussenfront". Das hat sich dann aber relativ schnell geändert, vor allem durch den Zulauf von ausländischen Jugendlichen. Da hat man dann gesagt: "Das sind unsere Kumpels, die sind Teil der Gruppe." Die Nürnberger Szene hat sich darauf geeinigt, dass man politisch neutral ist. Ich kann mich an schöne Szenen bei Busfahrten erinnern, wo die einen Skinheadmusik hören wollten und die anderen ganz etwas 
anderes. Dann hat man sich auf Schlager geeinigt, und alle waren gleich unglücklich.
In welchem gesellschaftspolitischen Kontext ist die Hooliganszene in den 1980er Jahren entstanden?
Das war die erste Generation von Kindern, wo in den Familien aufgrund des Arbeitskräftemangels auch die Frauen gearbeitet haben. Die Kinder wurden zum Teil 
zu den Großeltern abgeschoben. Dann ist es mit den Restriktionen vonseiten der Politik 
losgegangen. Jugendliche haben sich nicht mehr so austoben können wie in meiner Generation. Wir haben damals aus gefundenen Materialien noch irgendwo ein Lager bauen können, ohne dass gleich die Planierraupe gekommen ist. Für die nächste Generation ist der Fußball zum Erlebnisspielplatz geworden. Dort hat es zwei Gegner gegeben: die gegnerischen Hooligans und die Polizei.
Was hat sich nach der Wende 1989 auf dem Hooligansektor getan?
Das war ein Schock. Die meisten westdeutschen Gruppen waren überrascht von der unglaublichen Anzahl und Qualität, die die Leute im Osten hatten. Wir haben 
es schlicht nicht glauben können, als die BFCler auf einmal mit 500 Mann dagestanden sind. Das hat es im Westen in keiner Stadt gegeben. Bei uns waren Hooligans kleidungstechnisch komplett neutral, die hatten halt eine Chevignon-Jacke und New-Balance--Turnschuhe an. Dann fahren wir nach Dresden, und auf einmal kommen Leute mit Schals und Trikots und hauen auf uns ein. Wir haben überhaupt nicht gewusst, was los war. Auch bei den Länderspielen sind auf einmal die Osthooligans aufgetaucht, die 
überhaupt kein Benehmen hatten. Die haben sich wie die letzten Schweine aufgeführt, unseren Hools war das wirklich peinlich.
Wie haben sich die ostdeutschen Hooligans gegenüber der Polizei verhalten?
Die waren einfach 20 Jahre hinten, auch was den Umgang mit der Polizei betrifft. Im Westen hätte sich keine Gruppe getraut, die Polizei anzugreifen. Im Osten war das völlig normal. Das waren alles Sachen, wo die Westler sagten: "Wow, wie sind denn die drauf!"
1990 ist in Leipzig der BFC-Fan Mike Polley erschossen worden, welche Auswirkungen hatte das?
Das war im Prinzip die Initialzündung dafür, dass sich das Verhältnis zur 
Polizei verschärft hat. Der Schütze war ein Volkspolizist, der in Bedrängnis die Waffe gezogen hat, weil er es nicht anders gewohnt war. Danach sind in ganz Ostdeutschland die Einsatzleiter ausgetauscht worden. Man hat gesagt, dass die Volkspolizisten nicht 
in der Lage seien, mit so etwas umzugehen. Die Sache hat kurzfristig auch zu einem gewissen Solidarisierungseffekt zwischen Ost und West geführt.
In den 1990er Jahren ist der Staat verstärkt gegen die Hooligans vorgegangen. Was hat die Szene wirklich getroffen?
Die Überwachung wurde total ausgebaut. Ein Typ aus Frankfurt war der allererste szenenkundige Polizeibeamte. Danach ist es losgegangen, da hat es dann bis runter in die dritte Liga in jedem Kaff fünf Vollzeit-Szenenkundige gegeben. Es sind Dateien angelegt und Leute überwacht worden, die Ausreiseverbote und Gefährderansprachen haben begonnen. So hat sich das immer mehr nach oben geschraubt. Irgendwann haben viele Hools dann die Lust verloren. Einmal wollten die Nürnberger mit zwei Bussen zu einem Spiel nach Prag fahren. An der Grenze haben sie ihnen erklärt, dass sie nicht ausreisen dürfen, und haben die Busse zurück nach Nürnberg begleitet. Solche Dinge sind immer öfter passiert, und viele haben dann gesagt: "Darauf habe ich keinen Bock mehr."
Welche Bedeutung hatten die englischen Vorbilder für die Hooligans?
England war das, was Italien später für die Ultras war. Jeder deutsche Hool ist zwei-, dreimal rübergefahren, hat dort Urlaub gemacht, geschaut, was läuft und dann mit großen Augen davon erzählt. Die großen Firms haben hier zigtausende Videos verkauft. England war das Mekka des Hooliganismus. In Holland hat es auch eine große Szene gegeben, bei Feyenoord und Ajax. Aber die Holländer sind nie auswärts zur Nationalmannschaft gefahren, deswegen waren sie nur im Europacup ein attraktiver Gegner. Im Süden war das anders. In der Türkei hat es noch keine Szene gegeben, Griechenland hat man nicht so mitgekriegt. Italien hat man eher weniger gut gefunden, weil es da auch Messerstechereien gab.
Waren Waffen unter deutschen Hooligans verpönt?
Zur Ursprungsgeschichte der Hooligans in England gehörte das Dogma "ohne Waffen". Das war auch in der deutschen Hooliganszene akzeptiert, wurde aber nicht immer eingehalten. Bestes Beispiel: Hamburg. Das waren unterschiedliche Gruppen, die gemeinsam zum HSV gefahren sind. Da haben sich die Capos untereinander nicht einigen können, die Gruppe der "Hamburger Hools" war damals bekannt für Chakos und Schlagringe.
Sie arbeiten seit Ende der 1980er Jahre mit Fußballfans. Was kann man als Fanarbeiter bei Hooligans bewirken?
Mein erstes Ziel war, die Waffen aus dem Spiel zu bringen. Nach zwei Jahren haben wir das in Nürnberg erreicht, und dann sind auch die Hamburger ohne Waffen zu uns gekommen. Danach haben wir Kontakte und Freundschaften zwischen den einzelnen Gruppen gefördert, was gar nicht so schwer war. Die Leute haben sich ja von den Länderspielen gekannt und haben schnell gesehen, dass das Gegenüber meist genauso tickt wie sie selber. Durch diese Kontakte sind die heißen Spiele immer weniger geworden.
Haben die Medien die Hooligans größer gemacht, als sie waren?
Ja, jede Kleinigkeit ist aufgeblasen worden. In England ist deswegen irgendwann eine Nachrichtensperre in Bezug auf Hooligans veranlasst worden, weil sich die Hools die Berichte natürlich ausgeschnitten und übers Bett gehängt haben. Was die Medien nicht erkannt haben, war, dass die Hools im Alltag großteils nicht gewalttätig waren, da waren auch völlig normale Leute dabei.
Gegen Ende der 1990er Jahre sind in Deutschland immer mehr Ultragruppen aufgetreten. Wie war deren Verhältnis zu den Hools?
Zunächst nicht existent. Den Hools hat das Verständnis für die Einstellung der Ultras gefehlt. Nach ein paar Jahren haben sie aber doch gemerkt, dass die Ultras durchaus ihren Mann stehen können. Bei Nürnberg war ein Knackpunkt die UEFA-Cup-Saison 2007, wo bei den Auswärtsspielen alle zusammenhalten mussten. Dadurch ist gegenseitige Akzeptanz entstanden. Davor ist es durchaus auch zu Reibereien gekommen. Einmal haben die Ultras ihre Freunde von Rapid eingeladen, ohne die Hools zu informieren. Die waren sauer und haben sie abgepasst, um ihnen zu zeigen, wer in der Stadt das Sagen hat. Allerdings sind statt des angekündigten Busses nur zwei Autoladungen aus Wien gekommen – und die haben ordentlich einstecken müssen. Das ist aber sauber aufgearbeitet worden, und die Hools haben gecheckt, dass sie einen Fehler gemacht haben.
Aktuell kommt es in Deutschland bei Konflikten innerhalb der Kurve mit politischem Hintergrund immer wieder zur Rückkehr von Alt-Hools. Wie beurteilen Sie diese Entwicklungen?
Diese Tendenzen betreffen Städte, wo es früher rechte Hoolgruppen gegeben hat. Beginnend mit Aachen, dann Dortmund und Duisburg. Bei Dortmund sehe ich einen Zusammenhang damit, dass der "SS-Siggi", Siegfried Borchardt, jetzt wieder parteipolitisch aktiv ist. In Duisburg hat das Erstarken der Rechten dazu geführt, dass die 25 Jahre alte Freundschaft zu den Frankfurtern in Trümmern liegt. Ich kann mir das nur so erklären, dass die Hools den linken Ultragruppen zeigen wollen, dass sie auch noch da sind.
Wie viele Hooligans sind heute in Deutschland überhaupt noch da?
Geben tut es sie schon noch, sie machen ihre Treffen und pflegen alte Freundschaften. Aktiv sind im Vergleich zur Blütezeit in den 1990ern aber vielleicht noch zehn Prozent. Die paar, die es heute noch gibt, machen Wald- und Wiesenaktionen und haben mit Fußball nicht viel am Hut. Den Leuten, die noch ins Stadion gehen, wird von anderen Fans durchaus großer Respekt entgegengebracht. Als sich die Eintracht–Frankfurt-Spieler nach dem Match in Porto bei den mitgereisten Fans bedankt haben, ist die komplette "Adlerfront" mit nacktem Oberkörper in der ersten Reihe gestanden. Da ist ein gewisser Respekt da, das ist in Nürnberg nicht anders.
Wie sieht es bei Länderspielen aus?
Die Nationalmannschaft ist bei den Hools unten durch, weil der DFB alles unternimmt, um es den Leuten schwer zu machen. Das zeigt natürlich Wirkung – und die strammen Rechten gehen auch deswegen nicht mehr hin, weil heutzutage Leute wie Mesut Özil, Sami Khedira und Jerome Boateng für Deutschland spielen.
Kann man unterm Strich sagen, Hooligans passen nicht mehr in die heutige Zeit?
Jede Zeit hat ihre Jugendbewegungen und Jugendkulturen. Und die Zeit der Hools ist ganz sicher vorbei. Heute ist man Ultra, mit dem Unterschied, dass sich der Großteil als gewaltfrei definiert. Wenn ich mir die Ultrablöcke in Nürnberg anschaue, sind das in Summe 4.000 Fans, von denen nur ein sehr kleiner Teil gewaltbereit ist. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu früher: Wenn wir damals mit 500 Leuten auswärts gefahren sind, waren 200 davon gewaltbereit. Wer sich heute den Ultras anschließt, macht das nicht, weil sie so gewalttätig sind. (Interview: Reinhard Krennhuber)

Heino Hassler (58) ist seit der Gründung des Fanprojekts Nürnberg 1989 dort als Mitarbeiter tätig. Selbst ist der leidenschaftliche Motorrad-fahrer im 1968 gegründeten Fanklub "Seerose" aktiv. 
Zwischen 1988 und 2008 war er bei allen Welt- und Europameisterschaften.