Februarkämpfe 1934
"Wir waren nur noch das Gsindel"
Interview | Marie-Theres Egyed 7. Februar 2014, 18:15
Die politische Lage droht zu eskalieren: Arbeiter gegen Hahnenschwanzler. Alfred Hirschenberger ist dreizehn Jahre alt, als die Heimwehr Floridsdorf mit Kanonen beschießt
STANDARD: Gemeindebauten wurden mit Kanonen beschossen, in Wien, Linz und Steyr wurde gekämpft: Die Februarkämpfe 1934 sind das letzte Aufbäumen der Arbeiterbewegung gegen Kanzler Engelbert Dollfuß, bevor die Sozialdemokratische Arbeiterpartei verboten wird. Was sind Ihre Erinnerungen an diese Kämpfe?
Hirschenberger: Es war am 12. Februar, bei Arbeitsbeginn standen auf einmal in den Werkstätten die Maschinen still: Generalstreik. Die Arbeiter vom E-Werk schalteten ab, die Straßenbahnen standen. Zu Fuß ging ich 2,5 Stunden nach Hause. Zu Hause in Floridsdorf haben sich die Schutzbündler, die bewaffnete Arbeiterwehr, schon im Arbeiterheim versammelt. Die ihnen im Krieg anbefohlenen und nun vorsorglich versteckten Waffen haben sie hervorgeholt, um die Demokratie zu verteidigen. Nur die Eisenbahner haben nicht gestreikt, deswegen konnte Kanzler Engelbert Dollfuß die Soldaten mit der Bahn nach Wien bringen. Die Soldaten der Heimwehr wurden auf dem Kahlenberg stationiert - von dort haben sie auf Wien mit Kanonen geschossen, vor allem auf Floridsdorf. Gleich der zweite Schuss hat im Gemeindebau Schlingerhof ein großes Loch gerissen.
STANDARD: Sie waren damals dreizehn Jahre alt. Haben Sie mit Ihrer Familie auch im Schlingerhof gewohnt?
Hirschenberger: Nein, wir haben in einem Gemeindebau in der Brünner Straße gewohnt. Dort war ein Wartehäuschen, der erste Schuss der Kanonen hat das Wartehäuschen zertrümmert. Ein Toter ist auch dort gelegen, das war der erste Tote, den ich je gesehen habe.
STANDARD: Ist der Gemeindebau selbst auch beschossen worden?
Hirschenberger: Bei uns ist hineingeschossen worden, das Projektil hat in der Wohnung eingeschlagen. Gegenüber hat ein Polizist gewohnt, wir wissen aber nicht, ob er in unser Fenster geschossen hat. Auf der Straße patrouillierten Polizeipanzerwagen, ein Geschütz war auf die Fenster gerichtet. Meine Mutter wollte nicht, dass ich hinausschaue: "Wenn sie dich sehen, schießen sie sonst rauf."
STANDARD: Floridsdorf war als Arbeiterbezirk heftig umkämpft ...
Hirschenberger: Ja, in der Baumergasse war eine Wachstube der Polizei. Die Schutzbündler haben die Wachstube beschossen, die Wachleute gefangen genommen und im Gemeindebau in den Keller gesperrt. Einer schlug vor, einen aufmüpfigen Hahnenschwanzler, also einen Heimwehrsoldaten, zu erschießen. Ein Schutzbündler hat sich dagegengestellt. Zwei Tage später, als die Schutzbündler von den Hahnenschwanzlern und dem Militär überrannt wurden, hat ausgerechnet dieser beschützte Polizist den Schutzbündler niedergetreten.
STANDARD: Ihr älterer Bruder hat auch mitgekämpft?
Hirschenberger: Er hat sich gemeldet und freiwillig gegen den aufkommenden Faschismus mitgekämpft. Das ist der Unterschied zwischen dem Schutzbund und einem Soldaten. Soldaten stehen unter Befehlsgewalt und brauchen keine Entscheidung zu treffen, weil sie gehorchen müssen. Der Schutzbündler hat nicht gehorchen müssen, sondern aus freien Stücken mitgetan. So musste er damit fertig werden, dass er unter Umständen jemanden ermordet. Mein Bruder lag mit einem Maschinengewehr in der Brünner Straße im Straßengraben, und seine Aufgabe war es, den Angriff abzuwehren. Er ist aber nicht zum Schießen gekommen. Der Kampf hat ja auch nicht lange gedauert, alles ist sehr schnell zusammengebrochen.
STANDARD: Nach dem von Dollfuß niedergeschlagenen Aufstand wurden Schutzbündler verhaftet und teilweise hingerichtet.
Hirschenberger: Die Hahnenschwanzler haben die Gemeindebauten besetzt und sind in die Wohnungen eingedrungen. Sie wollten zeigen, dass sie die Herrscher waren, und haben alles nach den Uniformen der Schutzbündler durchsucht. Viele haben sie in der Waschkuchl verbrannt.
STANDARD: Was hat Ihr Bruder mit seiner Uniform gemacht?
Hirschenberger: Meine Mutter wollte nicht, dass wir sie verbrennen. Es gab schon das Gerücht, dass die Waschküchen kontrolliert werden. Sie hat mir aufgetragen, die Uniform anzuziehen, darüber einen Bauernjanker zu tragen und sie in unserem Schrebergarten zu vergraben. Das habe ich gemacht.
STANDARD: Bestand nach Unterdrückung der Kämpfe Gefahr für Sie und Ihre Familie?
Hirschenberger: Viele Leute sind verhaftet worden, mein Bruder aber vorerst nicht. Erst nach drei Monaten, als wir schon geglaubt haben, dass eh schon wieder alles in Ordnung ist, hat es an der Tür geklopft. Ein Hausbewohner hat ihn verraten. Zwei Kriminalbeamte standen vor der Tür, wir haben gerade Nachtmahl gegessen, und auf dem Tisch sind illegale Zeitungen gelegen - Die Rote Fahne und die Arbeiter-Zeitung. Die Zeitungen haben wir sofort in der Tischlade versteckt. Meinen Bruder haben die Beamten gleich mitgenommen. Erst nach drei Monaten kam er wieder frei.
STANDARD: Heimwehr und Militär waren eine Übermacht: War es von Anfang an ein verlorener Kampf?
Hirschenberger: Die Schutzbündler waren vorbereitet, dass es zu einem Kampf kommen wird und dass sich die andere Seite nicht damit abfinden wird. Es war einfach nicht zu gewinnen, die Reaktion war weitaus stärker. Im Gemeindebau wurde diskutiert, wer kämpfen gehen soll. "Die, die keine Arbeit haben, sollen kämpfen, für die muss sich etwas ändern. Diejenigen, die Arbeit haben, sollen bleiben." Damit war das Ganze schon "hatschert".
STANDARD: Nach den Februarkämpfen wurde die sozialdemokratische Arbeiterpartei verboten, die Arbeiterbewegung wurde in den Untergrund gedrängt.
Hirschenberger: Die Stimmung war aufgebracht, die Lage war angespannt. Das Denunziantentum ist wach geworden, man ist sofort vorgeladen worden, wenn etwas verdächtig war. Wir, die Proletarier, waren nur noch das Gsindel. Viele Schutzbündler sind über Tschechien in die Sowjetunion geflüchtet - aber dort sind mehr Kommunisten umgebracht worden als unter Hitler. Trotzdem war für uns die Sowjetunion ein Zufluchtsort. Viele sind nicht mehr heimgekommen. Josef Stalin, Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, hat nach dem Hitler-Stalin-Pakt viele Schutzbündler nach Deutschland ausgeliefert.
STANDARD: Das Wien der 1930er-Jahre war geprägt von Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise und politisch-ideologischen Gräben. Wie haben Sie das erlebt?
Hirschenberger: Die Höfe waren voll mit bettelnden Sängern. Sie sind durch die Straßen gezogen und haben darauf gewartet, dass jemand einen Groschen in ein Papier wickelt und zu ihnen runterschmeißt. In der Hoffnungslosigkeit hat man dann auch an die Nazis geglaubt. Meine Ideale waren alles andere als "Heil Hitler".
STANDARD: Sie waren Arbeiterkind und Kommunist.
Hirschenberger: Die Revolte im 34er-Jahr ist zerschlagen worden, Dollfuß ist da gewesen, Adolf Hitler war im Anflug, den wollte ich auch nicht - also was bleibt noch über? Von der französischen, linken Literatur geleitet, habe ich zumindest mit den Kommunisten sympathisiert.
STANDARD: Verrat, Verfolgung und Denunziation gab es schon im austrofaschistischen Ständestaat. War das ein Vorgeschmack auf die Nazizeit, wo sich das dann noch gesteigert hat?
Hirschenberger: Wir hatten schon im Ständestaat Angst vor Verrat, aber es war nicht so arg wie unter Hitler. Von den Nazis habe ich nichts anderes erwartet als die Fortsetzung von dem Ganzen. Illegale Zeitungen haben wir weiterhin gelesen. Aber das war aus, als der Hitler gekommen ist. Da haben wir sie auch nicht mehr bekommen.
STANDARD: Als Linker mussten Sie doch Angst vor nationalsozialistischer Verfolgung gehabt haben?
Hirschenberger: Mein Chef hatte das Goldene Parteiabzeichen gehabt - ein illegaler Nazi -, aber er hat auch gewusst, was ich bin, und hat es akzeptiert. Ich weiß aber nicht warum. Vielleicht war ich ihm so sympathisch, oder er hat den Betrieb als seine Familie gesehen. Auch sonst war meine Einstellung bekannt. Meine Mutter ist waschen gegangen bei einer Frau, die auch illegaler Nazi war. Sie hat ihr einmal gesagt: "Sag deinem Buam, er soll nicht die Gosch'n so weit aufreißen."
STANDARD: Dennoch mussten Sie für Hitler-Deutschland in den Krieg ziehen.
Hirschenberger: Ich bin 1939 eingerückt und war zuerst ein Jahr lang bei der Wehrmacht, dann hat mich die Firma angefordert. Als Werkzeugmacher war ich ziemlich lange als "UK", als unabkömmlich, eingestuft. Ich bin erst relativ spät wieder eingerückt, dann bin ich übergelaufen zu den Russen und bin Ende 1945 zurückgekommen, da war ich 26 Jahre alt.
STANDARD: Sie haben die Sozialdemokratie damals erlebt. Hat die SPÖ von heute noch etwas von den Idealen, für die gekämpft wurde?
Hirschenberger: Ich bin in der sozialistischen Jugend und Partei aufgewachsen. Unser Ziel war es immer, eine andere Gesellschaftsform anzustreben. Es geht nicht um eine Revolution, sondern um die Absicht. Die Absicht muss bestehen, gleich mit welchem Erfolg. Dieses Ziel gibt es bei der SPÖ nicht mehr. In der österreichischen Sozialdemokratie will man keinen Kampf, die sind sich lieber schön traut und einig mit ihrem Koalitionspartner. Aber in der Schweiz haben die Sozialisten noch im Parteiprogramm stehen, dass sie die Gesellschaft verändern wollen.
STANDARD: Erstmals begehen ÖVP und SPÖ dieses Jahr gemeinsam das Gedenken an die Februar-Aufstände. Ist das zu spät?
Hirschenberger: Jahrelang ist nichts geschehen. Jedes Jahr stehen ein paar einsame Hanseln vor dem ehemaligen Gestapo-Hauptquartier am Morzinplatz. Warum macht der Staat da nichts? Das wäre seine Aufgabe, der Opfer zu gedenken. Die Kommunisten haben den größten Blutzoll gezahlt. (Marie-Theres Egyed, DER STANDARD, 8.2.2014)
Alfred Hirschenberger (94) wuchs als Arbeiterkind in Floridsdorf auf. In dem Roman "Eruption und Erosion" beschreibt er seine Sicht auf den Februar 1934. Das Buch ist im Trafo-Literaturverlag erschienen.