Unter dem Namen Paris-Geschütz wurde
im Ersten Weltkrieg ein deutsches
Fernkampfgeschütz der Firma Krupp vom Kaliber 21 cm
bekannt. Es hatte eine außergewöhnliche Reichweitevon etwa 130
Kilometern. Zwischen dem 23. März 1918 und dem 8. August 1918 feuerten
drei bzw. zwei Paris-Geschütze etwa 800 Granaten auf Paris ab. Das Geschütz hatte eine Rohrlänge von
37 Metern, d. h. von 176 Kalibern (L/176). Das Rohr war eine
Konstruktion aus einem 17 m langen (Mantel-)Rohr mit 38 Zentimeter
Innendurchmesser (vom Geschütz Langer Max),
in das ein 30 m langes gezogenes 21-cm-Rohr (Seelenrohr)
eingesetzt wurde. Schließlich wurde noch ein 6 m langes glattes Rohr (die
sogenannte „Tüte“) angefügt. Die überlange Konstruktion wurde durch ein
charakteristisches hängebrückenartiges Spannwerk gegen Durchhängen geschützt.
Dieses Geschützrohr wurde als „Kaiser-Wilhelm-Rohr“ bezeichnet. Es verschoss
Spreng-Granaten von 106 Kilogramm Masse (Sprengladung
etwa 7 kg) mit einer ballistischen Haube und einer Mündungsgeschwindigkeit von bis zu 1645 Meter pro
Sekunde. Die Kanone hatte eine Gesamtmasse von rund 140 Tonnen und wurde mit
der Eisenbahn an den Einsatzort transportiert. Deswegen war es aber kein Eisenbahngeschütz, sondern schoss aus drehbaren sogenannten
Schießgerüsten von stationären Bettungen aus Beton oder Stahl. Die drei
verschiedenen Geschützstellungen lagen etwas abseits bestehender
Eisenbahnstrecken jeweils in Deckung eines größeren Waldes. In die Stellung
wurde ein mehrgleisiger Anschluss gebaut. Abseits der eigentlichen Stellung
wurden Scheinstellungen gelegt, sogar mit Gleisanschluss.
Die
Reichweite von circa 130 km beruhte auf einer ballistischen Besonderheit.
Mit einem hohen Abgangswinkel von bis zu 55°, einer sehr starken Treibladung
und dem überlangen Rohr konnte die Gipfelhöhe in den oberen Teil der Stratosphäre in etwa 38 bis 40 km Höhe gelegt
werden. Dadurch flog das Geschoss lange durch sehr dünne Luftschichten, so dass
dieFlugbahn weitgehend
der eines Schusses im luftleeren Raum glich. Alle anderen im Ersten Weltkrieg
verwendeten Ferngeschütze erzielten eine Reichweite von „nur“ etwa 40 km.
Mit der Entwicklung der
Paris-Geschütze wurde bereits 1916 begonnen. Maßgeblich daran beteiligt war der Artillerie-Konstrukteur
Dr. Ing. (Major) Fritz Rausenberger von der Firma Krupp, welcher bereits
die „Dicke Bertha“
entworfen hatte. Die Entwicklung erfolgte auf demSchießplatz der Firma Krupp nahe Meppen, der heutigen Wehrtechnischen Dienststelle 91. Da das
Testgelände im Emsland zu klein war und durch eine
Fehlberechnung bereits eine Granate im Wester-Moor bei Saterland außerhalb des Erprobungsgeländes
einschlug, musste man auf den Schießplatz Altenwalde ausweichen, da man hier bis auf die
offene Nordsee schießen konnte. Am 20. November 1917
wurde das erste fertiggestellte Paris-Geschütz in Altenwalde bei Cuxhaven an der Nordsee mit
westlicher Schussrichtung entlang den ostfriesischen Inseln erfolgreich
getestet. Bis Anfang 1918 wurden zwei weitere Paris-Geschütze gebaut, die
zusammen im Rahmen der deutschen Frühjahrsoffensive am 23. März 1918 erstmals aus der 1.
Stellung, dem Wald von Saint-Gobain bei Crépy-en-Laonnois,
eingesetzt wurden.
Die
Geschosse erreichten eine Flughöhe von etwa 40 km und eine Flugzeit von
drei Minuten. Die mehrteilige Treibladung aus Messing-Kartusche und zwei
Treibladungsbeuteln wog bis zu 196 kg. Um eine gleichmäßige Leistung zu
erreichen, wurden die hochbrisanten Treibladungen aus Röhrenpulver C/12 bei
konstant 15 °C temperiert nahe der Geschützstellung gelagert. Während der
etwa durchschnittlich 20 Minuten zwischen den Schüssen mussten der jeweils
vergrößerte Ladungsraum ausgemessen, die Gasdruck-Messungen ausgewertet und
zahlreiche Berechnungen ausgeführt werden. Neben den üblichen Einflüssen beim
Artillerie-Schießen waren weitere bedeutende, bisher unbekannte Faktoren zu
berücksichtigen. Die Schussweite von etwa 130 km, gemessen auf dem Umfangskreis
der Erdkugel, verkürzte sich
als Sehne betrachtet
um etwa 800 Meter. Aufgrund der überlangen Geschoss-Flugzeit war sogar die
Drehung der Erdkugel während dieser Zeit bei den Schusswerten zu berechnen,
sodass der Beschuss eigentlich ein Schießen mit Vorhalt auf ein sich bewegendes Ziel war.
Eine richtige Feuerleitung war aufgrund der Entfernung nicht
möglich, dazu mussten andere Möglichkeiten gefunden werden. Die Lage der
Einschläge soll unter anderem von deutschen Spionen in Paris beobachtet und
weitergemeldet worden sein. Anfangs fanden sich auch Berichte in den Zeitungen
der Stadt, die ins europäische Ausland geliefert und dort von deutschen Stellen
ausgewertet wurden, so lange, bis die französische Zensur das unterbinden
konnte. Hilfsweise wurde die Lage der Einschläge in Längsrichtung des Schießens
über die Messung des Gasdruckes beim Schuss durch in den Ladungsraum eingelegte
sogenannte "Kruppsche Mess-Eier" (Kupfer-Stauchkörper) geschätzt.
Durch
die enorme Abschussenergie der Treibladung mit einer Temperatur von 2000 °C und
einem Gasdruck bis zu 4800 bar wurde das Geschützrohr beim Schießen
regelrecht ausgezehrt. Bei jedem Schuss vergrößerte sich das Kaliber etwas, was
mittels nummerierter Granaten mit entsprechend steigendem Durchmesser und einer
ständigen Steigerung der Treibladung ausgeglichen werden musste. Beim Abschuss
verbrannte der größte Teil der Messingkartusche. Auch die ersten Kupfer-Führungsbänder
zur Aufnahme des Dralls hielten der Temperatur und dem Druck
nicht stand. Es mussten deshalb zusätzlich Drallnuten in die Stahlhülle der
Granaten eingeschnitten werden, mit dem Ergebnis, dass auch davon die
Geschützrohre vorzeitig verschlissen wurden. Die Granaten waren beim Laden mit
den Nuten regelrecht in die Züge und Felder des Rohres
"einzuschrauben". Die Nutzungsdauer eines Rohres aus der 1. Stellung
lag bei nur etwa 65 Schuss.
Nach
dieser ersten Leistung mussten die Rohre dann jeweils bei Krupp in Essen weiter
aufgebohrt werden auf Kaliber 22,4 und dann 23,8 cm. Durch das Aufbohren
erweiterte sich das Rohrvolumen, und beim Abschuss sank der Gasdruck. Diese
Rohre konnten nur noch aus der näher an Paris gelegenen 2. (Beaumont-en-Beine)
und 3. Stellung (Bruyères-sur-Fère) eingesetzt werden. Insgesamt waren sieben
Rohre vorhanden.
Nicht
nur die Stellung, sondern auch der Abschuss selbst musste getarnt werden. Um
die französische Schallmessortung zu erschweren, schossen abgestimmt
gleichzeitig mit einem der Paris-Geschütze jeweils etwa 30 andere schwere
deutsche Batterien aus benachbarten Stellungen. Geschossen wurde auch meist nur
am Tage, da allein das riesige Mündungsfeuer nachts die Stellung verraten
hätte. Ebenfalls wurde während französischer Fliegergefahr der Beschuss
eingestellt. Die Paris-Batterie wurde durch ein Infanterie-Bataillon und zehn
Fliegerabteilungen gesichert.
Auch wenn in der Fachliteratur mitunter von dem Paris-Geschütz
geschrieben wird, wurden insgesamt drei derartige Kanonen eingesetzt. Die
Paris-Geschütze hatten aufgrund ihrer Verwendung gegen die Zivilbevölkerung
keinerlei militärischen Nutzen. Durch die Treffer in Paris wurde der gewünschte
psychische Effekt mit Verwirrung und Angst zunächst erzielt, der aber wegen der
geringen Sprengladung der Granate und der erkennbar mangelnden Präzision der
Feuerleitung nach kurzer Zeit verpuffte. Insgesamt wurden 256 Zivilisten
getötet und 620 verwundet, davon gab es allein 88 Tote und 68 Verwundete bei
einem Volltreffer auf die Pfarrkirche
Saint-Gervais-Saint-Protais während des Karfreitags-Gottesdienstes am
29. März 1918 nachmittags. Die deutsche Propaganda nutzte diese
angeblichen Erfolge jedoch, um die Moral der Heimatfront zu stärken.
Obwohl es eine Artillerie-Verwendung
an Land war, lag die Bedienung in den Händen der Marine, da diese mit größeren Geschützen
mehr Erfahrung besaß. Eine Geschützmannschaft bestand aus 60 bis
80 Marinesoldaten, zuzüglich einer Gruppe ziviler Ingenieure für Technik
und Vermessung. Die Gesamtleitung des Schießens lag bei Vizeadmiral Maximilian Rogge.
Auf deutscher Seite waren die Erwartungen so groß, dass am ersten Einsatztag
sogar Kaiser Wilhelm II. die Stellung besuchte und das Schießen
beobachtete.
Bereits
in der 1. Stellung explodierte am 25. März beim Abschuss eines der
drei Geschütze, wobei siebzehn Soldaten der Bedienungsmannschaft starben. Die
verbliebenen Paris-Geschütze feuerten aus den drei verschiedenen Stellungen bis
zum 8. August 1918, zuletzt wieder bei Beaumont-en-Beine, insgesamt etwa
400 Geschosse ab. Die durchschnittliche Feuergeschwindigkeit lag bei
8 Schuss pro Tag. Etwa 180 Granaten trafen Paris verstreut innerhalb der
Altstadt, die restlichen die Außenbezirke. Aufgrund der sich ständig
verschlechternden militärischen Lage und des deutschen Rückzuges war das Ziel
bald nicht mehr zu erreichen. Die zwei verbliebenen Geschütze wurden mit ihren
Ersatzrohren von der Front zurückgezogen und verschrottet. Auch die
Konstruktionspläne wurden von den Deutschen versteckt oder vernichtet. So ließ
sich nach der Kapitulation trotz Suche bei Krupp für die Alliierten nicht mehr
nachvollziehen, wie eine derartige Kanone hatte gebaut werden können. Ein
Relikt blieb die Betonbettung des ersten Geschützes in der Stellung bei Crépy-en-Laonnois. Ein
weiteres Relikt findet sich am Ort der letzten Stellung im Wald von Chatel,
nördlich von Château-Thierry.
Hier wurde eine Metallbettung verwendet. Sie hinterließ ein im Wald bis heute
erhaltenes kreisrundes Loch. Auch finden sich Reste von Erdarbeiten in Form von
Wällen für die Schienenzuführung östlich des Loches im Wald in Richtung der
vorhandenen Bahnlinie.
Die große Reichweite wurde später
von keinem konventionellen Geschütz mehr wesentlich übertroffen. Nach dem
Ersten Weltkrieg baute Frankreich eine etwa gleiche Kanone, das
Eisenbahn-Ferngeschütz Modell 23, mit Kaliber 21 cm, Reichweite
120 km, Geschossgewicht 108 kg und v0 1450 m/s. Im Zuge der
Wiederaufrüstung gab die deutsche Wehrmacht dann dieK 12 in Auftrag. Spätestens zu dieser Zeit
waren derartig weittragende Geschütze überholt, da ihr Einsatzzweck nun
wesentlich einfacher durch Luftangriffe erreichbar war. Die Gipfelhöhe des
Parisgeschützes wurde erst von der V2 übertroffen. Eine späte Fortsetzung
dieses überdimensionalen Geschützbaus fand sich in den sechziger Jahren im
Projekt HARP des
KanadiersGerald Bull.