Alles Chaoten außer Mutti!
von altravita · Donnerstag, 24. Mai 2012 · (35) Kommentare
In
Düsseldorf gab es einen Platzsturm und seitdem drehen weite Teile der Medien
frei. Im ach so sicheren England mit seinen reinen Sitzplatzstadien mit Preisen
für Besserverdiener und zwei Stewards pro Gast gab es anlässlich Manchester
Citys Titelgewinn zwar auch einen solchen, aber Kohärenz soll uns ja nicht
scheren. Aufgrund der bürgerkriegsähnlichen Zustände bescherten uns ARD und ZDF
formidable Sondersendungen zum Thema, in denen auch Experten wie Marijke Amado,
Bernd Stelter (als Ersatzmann für Kai Pflaume!), Johannes B. Kerner oder Oliver
Pocher ihre Sicht auf deutsche Kurven zum besten geben konnten. Soweit man die
von hinter den Lachsschnittchen aus sehen kann, versteht sich. Schließlich hat
der öffentlich-rechtliche Rundfunk ja einen Bildungsauftrag und wird
gebührenfinanziert, um unabhängig von wirtschaftlichen und politischen
Abhängigkeiten objektiv darüber zu berichten, was die Bundesrepublik bewegt.
Ich will mich gar nicht weiter darüber auslassen, wie die Sendungen im Detail
abliefen, die 11 Freunde haben
das deutlich besser und viel lustiger getan, als ich dies vermag.
Und die "11 Freunde" sind sicherlich völlig unverdächtig, besonders
ultrà-affin zu sein, legen aber mit einem Interview
mit Fan-Anwalt Marco Noli nach.
Der weist u.a. darauf hin, dass die Verletztenzahlen rückläufig sind (die
tatsächlichen, nicht die gefühlten) und auf dem Oktoberfest prozentual deutlich
mehr passiere. Aber selbst Krawallmedien wie die Hamburger MoPo, sonst eher ein
Sturmgeschütz der Stadienbefriedung, äußert ein ganz
deutliches Kopfschütteln anhand der Comedy-Sendung im ARD-Programm.
Meine Meinung zum "Warum?" fasst bestens der hervorragende Beitrag
eines Forumisten aus den Spiegel-Online-Kommentaren zusammen, den ich mir
erlaubt habe, hier wiederzugeben:
"Es dürfte doch jedem
Beobachter des Themas, der nicht mit dem Schaum der braven Bürgerlichkeit vor
dem Mund rumläuft, klar sein, dass Seenotrettungsfackeln (denn das sind die so
genannten "Bengalos" ja eigentlich) für beide Seiten dieses
eskalierenden Kulturkampfes nur Symbole sind. Da kann die Putenwurst noch so
viele Puppen abfackeln – fest steht, dass es in deutschen Stadien trotz viel
mehr Zündelei keine Verletzten gab und gibt. Gerade JBK bewies gestern
überdeutlich, auf welcher Seite des Kampfes er steht: Auf der von FIFA, UEFA,
DFB, DFL und FC Bayern München, allesamt honorige, hoch seriöse Institutionen.
Die aber eine Agenda haben: Aus dem Fußballsport das Fußball-Business zu
machen, weil diese Organisationen und deren Protagonisten sowie Medienmenschen
wie eiben Kerner davon in höchstem Maße wirtschaftlich profitieren. Auf der
anderen Seite stehen die – man muss es wirklich so sagen – Bewahrer der
FußballKULTUR. Die leitet sich her aus der Geschichtes des Fußballs als
Proletensport, als befreite Zone für Unterschichtkinder, als Ort, an dem die
emotionale Überwältigkeit Platz hat und in jeder Hinsicht ausgelebt werden
kann. Was seit Mitte der Achtziger in Europa stattgefunden hat, kann man die
Gentrifizierung des Fußballs nennen: die kalte, wie sich herausstellt
feindliche Übernahme durch Besserverdiener. Wer sich als Student so um 1982 in
einen Stehblock verirrte, konnte damit rechnen, von den Fans der eigenen
Mannschaft aufs Maul zu kriegen, weil man Oberschüler und Studenten eben aufs
Maul gibt. Das war für die Betroffenen unschön, aber auch ein Versuch, den
Fußball für sich zu behalten. Und so wie Stadtviertel nach der Gentrifizierung
schön aufgeräumt, clean und harmlos sind, so soll auch der moderne Fußball
werden, denn nur mehr brave Bürger auf den Tribünen und vor allem auf den Sofas
vorm TV konsumieren mehr, spülen also mehr Geld in die Kassen, noch mehr Geld
und immer noch mehr Geld. So wie die Quadratmeterpreise in gentrifizierten
Quartieren steigen und steigen. Dass solche Kerners, Pochers, Rauballs und wie
sie alle heißen, mittlerweile vollkommen abgeschirmt von den Fans existieren,
ist klar. Aber dass in den Fanblocks nicht irgendwelche gewaltbereiten Ultras
und Hooligans stehen, die völlig unreflektiert Krawall und Randale wollen, weiß
ja in der bunten Medienwelt kaum jemand. Da stehen 20-jährige
Fensterputzerlehrlinge immer noch neben der Omma und dem Inhaber einer Wirtschaftsprüferkanzlei,
da wird diskutiert über die Zustände, und da wird sehr genau beobachtet, wer
diesen Fans auf welche Weise die Freude am Fansein nehmen will. Typen wie
Kerner und Pocher sollten mal mit "ihren" Mannschaften zum Auswärtsspiel
reisen, im Fanbus oder Sonderzug. Und sich dann nicht wundern, wenn sie am Ziel
auch schon mal grundlos Knüppel und Pfefferspray abbekommen – das ist die
Realität."
Zitat aus dem SPON-Forum von Rainer. Besucht auch sein Blog zum Thema!
Zitat aus dem SPON-Forum von Rainer. Besucht auch sein Blog zum Thema!
Soweit, so
nachvollziehbar. Interessant ist dabei höchstens noch, mit welcher Nonchalance
bei Maischberger wie "Hart aber Fair" jegliche journalistische
Mindeststandards unterflogen werden, um am großen Ziel mitzuwirken. Ich bin ja
Träumer und messe journalistische Produkte an der Maßgabe, dass diese dem
geneigten Leser, Hörer oder Zuschauer mitzugeben hätten, WAS?, WANN?, WO?,
WARUM? passiert sei und moralische, ethische oder sonstige Bewertungen ins
Feuilleton zu verschieben. Was ARD und ZDF hingegen aufführten, und ja beileibe
nicht als einzige, ist die mediale Hinrichtung größerer Menschengruppen.
Selbstverständlich ohne diesen eine echte Chance zu geben, sich und ihre
Motivationen darzustellen oder gar zu verteidigen. Schon allein weil die, über
die hier gerichtet wird, nicht anwesend sind. Sehen wir des Arguments halber
mal von den Komparsenauftritten des Mitarbeiters des Düsseldorfer Fanprojekts
oder der Dortmunderin einmal ab. Die beiden hätten sicherlich noch eine Menge
Interessantes zu sagen gehabt, aber wenn sie überhaupt zu Wort kamen, wurden
sie von den Profi-Medienvertretern professionell aus dem Spiel genommen. Und
was sind schon abgewogene Worte und Differenzierungen dagegen, dass der
sogenannte Starmoderator JBK mit einem grell leuchtenden Bengalo eine Puppe
abfackelt? Offensichtlich reicht es ja, früher einmal die "Mini Playback
Show" moderiert zu haben, um mehr Redezeit zu erhalten als so Stadionfans.
Dass angesichts dieser tendenziösen sogenannten "Berichterstattung"
die große Mehrheit derjenigen, die sich für Fußball überhaupt nicht oder wenn
nur vom Sofa aus interessieren der Meinung ist, in Fußballstadien würden
regelmäßig Menschen enthäutet und verspeist, ist klar. "Randale",
"Krawalle", "Chaoten", "Blutbad",
"Todesangst", "Gewalttäter", "Hooligans",
"Idioten", "Szenen, die wir in keinem Stadion sehen
wollen", "Schande".
Weniger klar ist, wieso ein Moderator oder eine Moderatorin
einer solchen Sendung, keinerlei Hinweis auf die Rollen der eingeladenen Gäste
gibt, sondern diese unwidersprochen ihrer Agenda nachgehen lässt. Wieder ist es
Fananwalt Noli, der in der Nachbetrachtung auf die offensichtlichste aller
Tatsachen hinweist: Die eingeladenen Vertreter der Polizei sind nicht vor Ort
eingesetzte Beamte oder Einsatzleiter, sondern Vertreter der
Polizeigewerkschaften, die Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Ein irgendwie
gearteter Anspruch von Obiektivität zwingt doch geradezu zu einer Rückfrage auf
die Interessen der eingeladenen Gäste. Oder wollen wir es als Zufall verbuchen,
dass Joachim Lenders, Stellvertretender Bundesvorsitzender der DPolG wieder
einmal das alte Märchen aufkocht, dass Polizeieinsätze im
Fußball "den Steuerzahler" jährlich 100 Millionen Euro
"kosten"? Ich will hier nicht zum hundertsten Mal
nachrechnen, dass der "Steuerzahler" auch nach Abzug der Uniformierten
durch den boomenden Fußballbetrieb deutlich mehr einnimmt, als er ausgibt. Aber
die Frage darf gestattet sein, wieso in den Öffentlich-Rechtlichen völlig
unwidersprochen Lobbyarbeit betrieben werden kann, während die Fanseite … wie
nennen wir es … "unterrepräsentiert" bleibt? Dass Choreografien
ernsthaft als "faschistoide Versammlungsrituale" bezeichnet werden
dürfen? Ultras als "bummsdumm"? Es mag ja sein, dass den vielen
Profiteuren des Profisports Fußball ein Fan vorschwebt, dem die "TicTac
Fanrassel" der höchste denkbare emotionale Ausbruch ist. Es ist aber ebenso klar, dass der
Umbruch eines über Jahrzehnte eher proletarisch geprägten Publikums hin zum
Eventkonsumenten nicht ohne Brüche vonstatten gehen wird, weil Menschen sich
wehren, wenn ihnen etwas weggenommen wird. Ich könnte mir sogar eine
Sondersendung zu ausgeuferten Polizeieinsätzen vorstellen, zu Polizeigewalt, zu
unvorschriftsmäßigem Einsatz von Pfefferspray. Einfach so, der Ausgewogenheit
halber. Selbstverständlich sind nicht alle Polizisten "Bastarde",
aber ich fände es interessant, auch hier einmal über die Minderheit von Beamten
zu sprechen, die im Einsatz eine Spur über das hinaus gehen, was die Situation
erfordert. Es spricht absolut nichts dagegen, auch Fälle von Polizeigewalt im
Einsatz – ausgewogen, objektiv und recherchiert – zu beleuchten. Ein Sender
dafür, der seinen Bildungsauftrag ernst nimmt, sollte sich doch finden lassen,
oder?
Ein Platzsturm vor Spielende ist dumm und vielleicht hätte es
potentiell auch gefährlich werden können. Brennende Seenotfackeln aufs
Spielfeld zu werfen, wie es die Herthaner in Düsseldorf zelebrierten, ist
deutlich dümmer und gefährlicher. Überhaupt ist der Einsatz von Pyrotechnik in
deutschen Stadien verboten und wie immer, wenn etwas verboten ist, muss man
sich über Strafen nicht wundern. Völlig egal, wie ich selbst zum Thema Pyro
stehe ist es auch mir einsichtig, dass auf solches Stadionverbote und
Geldstrafen folgen. Überfälle auf Fanbusse mit Steinen und Flaschen mit teils
schweren Verletzungen sind kriminelle Handlungen und als solche gehören sie
verfolgt und verurteilt. Wohlgemerkt: Die Täter, nicht Stehplatzfans als
solche. Welcher der richtige Weg ist, Gewalt aus Fußballstadien zu verbannen,
soll hier nicht diskutiert werden, die Spirale aus Frust und Radikalisierung exerziert
die Stuttgarter Zeitung durch.
Seiner Freude darüber, trotz Stadionbesuch noch zu leben, gibt der Autor der Publikative Ausdruck. Und
ich selbst hatte mich ja an einerironischen
Analogie zur Sicherheitssituation auf Volksfesten versucht. Auch wie
die immer wieder öffentlichkeitswirksam verkündete
"Dialogbereitschaft" der Vereine und Verbände in der Realität
aussieht, werde ich hier nicht diskutieren können.
Worauf ich hinaus will, ist dass die Darstellung von
Bundesligakurven völlig aus dem Ruder gelaufen ist und aus der kommoden Distanz
der Logenplätze und Pressetribünen (bestenfalls) über zehntausende junger
Menschen geurteilt wird, die Stadionkurven bevölkern. Darunter gibt es
Gewalttäter, illegale Zündler, Psychopathen und Kriminelle. Keinerlei Statistik
belegt jedoch, dass es dort "bürgerkriegsähnliche Zustände" gibt,
"Blutbäder" oder gar "alles immer schlimmer" würde. Nichts
deutet darauf hin, dass diese Elemente dort die Mehrheit oder auch nur einen
großen Teil stellen würden. Gesetzesüberschreitungen sind zu verurteilen und zu
ahnden und aus mancher Kurve würde ich mir deutlich mehr kritische Distanz zu
Fehlverhalten in den eigenen Reihen wünschen. Von den "Taliban der
Fans" zu fabulieren ist allerdings nichts anderes, als eine Verhöhnung der
tausenden Opfer religiöser Fanatiker. Witzigerweise hatte die Reutlinger
"Szene E" Ihre Meinung zum Thema schon viel früher bekanntgegeben:
"Ultras als Staatsfeind Nr.1…Sorry Al-Kaida!"
titelten sie. Sinnvollerweise ist es weitgehend geächtet, Menschengruppen zu
verunglimpfen und zu kriminalisieren, sei es aufgrund ihrer sexuellen
Orientierung, Herkunft oder Glaubensrichtung. In sinnvollen Massenmedien findet
dergleichen nicht statt. Außer in der Berichterstattung aus deutschen Fußballstadien,
die dem geneigten Leser oder Zuschauer das Bild vermitteln, es wäre nur unter
Lebensgefahr möglich Fußballspiele live anzuschauen, weil sich dort
ausschließlich Chaoten herumtreiben, die ihre prekariats-befeuerten
Frustrationen und ihren niedrigen Bildungsstand dadurch abfeiern, dass sie
sinnlos Menschen angreifen und verletzen.
"Die meisten Medien haben
häufiger einen Reflex zu skandalisieren und sind an einer sachlichen Diskussion
gar nicht interessiert. Mittlerweile hat diese Hysterie das Ausmaß einer
Hetzkampagne gegen Fußballfans erreicht. Das halte ich für sehr gefährlich.
Begriffe wie »Randale«, »Krawalle« und »Ausschreitungen« werden völlig
undifferenziert und inflationär verwendet. Die gesamte öffentliche Debatte ist
völlig von der Realität abgedriftet."
Nun, ich habe auf Lesungen, Vorträgen und bei sonstigen Besuchen eine ganze Reihe
Ultràgruppen der ersten drei deutschen Ligen kennenlernen dürfen,
habe mit ihnen diskutiert und in ihrer Kurve gemeinsam Fußballspiele besucht.
Ich hatte das Privileg, in ihre Räumlichkeiten eingeladen zu werden oder auf
ihren Sofas zu nächtigen, mit ihnen die Nacht durch Bier zu trinken, Kicker zu
spielen, zu reden und zu streiten. Ich habe mir die Zeit genommen, ihnen zuzuhören.
Und sie haben mir zugehört. Ich kenne ihre Namen, Gesichter, Telefonnummern und
Wohnorte. Sicher waren wir nicht immer einer Meinung, ich bin ja wirklich nicht
mehr im Altersdurchschnitt. Sicher waren die abgedrehtesten Vertreter bei einer
Buchlesung nicht dabei. Sicherlich habe ich den nicht mehr zugänglichen harten
Kern der Gewaltfanatiker nicht zu Gesicht bekommen und vermutlich hat man
versucht, sich nett zu präsentieren. Aber ich habe Hunderte kennengelernt und
Tausende gesehen. Ich habe unverantwortlicherweise mehr als einmal meinen
zwölfjährigen Sohn dabei gehabt. Im Herzen der Kurve, direkt neben den
Trommeln, genauso wie ich es in Italien jahrelang getan habe, ohne dass auch
nur einmal eine potenziell brenzlige Situation entstanden wäre. Aber ich habe
erlebt, wie vierhundert Berliner Ultràs (jaja, die die Bengalos werfen) an
einem Samstagabend, nach einem verlorenen Heimderby nichts besseres mit ihrer
Freizeit anzufangen wussten, als geschlagene vier Stunden mit italienischen
Ultràs und dem Fanforscher Jonas Gabler über das Woher und Wohin ihrer
Jugendkultur zu diskutieren. Und dafür Eintritt zu bezahlen! Ich war auf demselbstorganisierten
Fankongress im Januar in Berlin eingeladen,
wo – völlig egal, wie man zu Zielen und Ergebnissen dieser Veranstaltung steht
– viele junge Menschen Geld, Zeit und Mühe in Organisation und Durchführung
investiert haben, ohne auf irgendwelche Finanzierungen zurückzugreifen. Ich
habe viele Menschen kennengelernt, die als Mitarbeiter von sozialpädagogischen
Fanprojekten ihre Zeit dem Dialog mit den heißesten der Fans widmen.
Einrichtungen – wie die der Fanbeauftragten”, die eine sinnvolle Möglichkeit
darstellen, mit tatsächlichen Konfliktsituationen umzugehen und Prävention zu
betreiben. Deren Arbeit sich allerdings nicht so schreiend präsentieren lässt,
wie die Parolen der Law&Order-Fanatiker. Ich habe junge Menschen
kennengelernt, die weder rauchen noch Alkohol trinken. Genauso wie solche, die
das Ende der Lesung schon nicht mehr erlebten, weil sie vom Bier dahingerafft
waren. Ich habe Leute kennengelernt, die an verstorbene Freunde erinnern, die
Gelder für wohltätige Zwecke sammeln oder sich gemeinnützig engagieren. Genau wie
solche, die einfach geil darauf waren, wie viele Schals sie abgezogen haben und
täglich darauf trainieren, noch besser zutreten und zuschlagen können.
Man muss
Ultràs und Kurvengänger nicht mögen. Man kann sie kindisch finden, man kann
ihren Männlichkeitskult, ihre Fahnenklauspielchen lächerlich finden. Man darf
daran zweifeln, ob es sinnvoll ist, sein ganzes Leben etwas so schnödem wie
einem Fußballverein zu widmen. Man kann ihre Dauergesänge als störend
empfinden, man mag etwas dagegen haben, dass Fahnen und Rauch die Sicht auf das
Spielfeld stören. Man kann sie aus den Stadien wegwünschen. Man muss Steinwürfe
und Werfen von Bengalos verurteilen und verhindern. Man kann sie aber nicht
ohne Anhörung allesamt zu "Chaoten" und "kriminellen
Gewalttätern" zurechtschreiben. Kein Erfahrungswert und keine Statistik
geben das her. Sie sind eine Realität in deutschen Stadien, die nicht dadurch
abgeschafft wird, dass man sie kriminalisiert und – dadurch – radikalisiert.
Und es darf nicht Aufgabe der Medien – zumal der sogenannten
"Qualitätsmedien" und insbesondere des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks – sein, Meinungen und moralische oder gleich rechtliche Bewertungen
zu liefern. Ansonsten nehme ich mir die Freiheit heraus, meine zu liefern:
Massenmörder bekommen eine fairere Berichterstattung als Kurvengänger. Über
keine Bevölkerungsgruppe wird im Moment derart undifferenziert, tendenziös und
ignorant berichtet, wie über Stadionbesucher. Es mag dem florierenden
Fußballbusiness mit seinen erstaunlicherweise immer vollen Stadien gleichgültig
sein, ob Pyros, Choreografien, Trommeln, Megaphone und Dauergesänge aus dem
Fußball verschwinden. Italien 2012 lehrt aber, dass es nicht egal sein sollte,
wenn viele zehntausende Jugendliche und junge Erwachsene mit einer ausgeprägten
Verweigerungshaltung gegenüber der Medienlandschaft und insbesondere gegenüber
dem Staat und seinen gesetzgebenden und ausführenden Vertretern aufwachsen.
"Nino hingegen ist der Fall für
den Soziologen, den man in den Zeitungen analysieren konnte. Er, freiwilliger
Helfer beim Roten Kreuz, der sich an Sonntagen in einen Mörder verwandelt. Wie
ist das möglich? Woher stammt das soziale Unbehagen dieser Jugendlichen? Und
weiter mit anderen Fragen zu was wir sind, wo wir hingehen, etc. Da gibt es
nichts zu studieren, nichts zu verstehen. Nino und Claudio, Stadionkranke,
widmen einfach einen Teil ihrer Freizeit der freiwilligen Hilfsdiensten."