03.08.2011 - England
Englands Fans wollen Stehplätze zurück
Seit 1994 sind alle Fußballstadien der zwei höchsten englischen Ligen All-Seater-Stadien, also reine Sitzplatzstadien. Die englischen Fans wollen dies nicht länger. Sie vermissen die Atmosphäre der alten Stehplatztribünen und organisieren sich, um die All-Seater-Regelung zu kippen. Als Schlüsselereignis der Stehplatzdebatte ist ein Ereignis zu verstehen, das etwas mehr als 22 Jahre zurückliegt. Am 15. April 1989, als sich Anhänger des FC Liverpool und Nottingham Forests zum FA-Cup-Halbfinale im Hillsborough-Stadion von Sheffield einfanden, kam es zu einer der größten Katastrophen in der Geschichte des Fußballs. Obwohl der Block C der Liverpool-Fans bereits überfüllt war, strömten immer neue Anhänger in diesen Abschnitt, so dass viele der bereits im Block befindlichen Fans niedergetrampelt oder gegen den Zaun gepresst wurden. Insgesamt 96 Menschen verloren auf diese Weise ihr Leben, weitere 766 wurden verletzt. Die damalige britische Premierministerin, Margaret Thatcher, beauftragte den Richter Peter Taylor mit der Untersuchung der Katastrophe. Taylor verfasste daraufhin zwei Berichte. Der erste, ein vorläufiger Bericht, trug Erkenntnisse über die Ursachen zusammen, während der zweite Bericht, der heute als Taylor-Report bekannt ist, zudem auch umfassende Empfehlungen für die Sicherheit in Fußballstadien enthielt. In Übereinstimmung mit dem Taylor-Report wurde im Football Spectators Act 1989 der Beschluss verankert, dass ab dem 1. August 1994 alle Stadien der zwei oberen englischen Fussball-Ligen reine Sitzplatz-Arenen sein müssen. Ferner sah der Football Spectators Act die Gründung einer Behörde, der Football Licensing Authority (FLA), vor, deren Aufgabe es wurde, die Sicherheit in Fußballstadien durch Lizensierungsauflagen zu gewährleisten. Heute, fast 17 Jahre nach Inkrafttreten des Stehplatzverbots, ist die Atmosphäre in den englischen Stadien eine andere als zu Stehplatz-Zeiten. Die Ticket-Preise für Plätze in den All-Seater-Stadien sind inzwischen so hoch, dass viele Club-Anhänger sich den Eintritt kaum mehr leisten können. Zu diesen Anhängern zählen häufig die Fans, die mit ihren Gesängen und Sprechchören der englischen Fankultur zu ihrem einstigen internationalen Renommee verholfen haben. Am deutlichsten manifestiert sich die Gemütslage der Fans in dem Sprechchor „Highbury – Library“, der die Stimmung in dem ehemaligen Stadion von Arsenal London mit der Atmosphäre in einer Bibliothek gleichsetzt. Die wenigen Fans von der Basis, die sich die Tickets für die Spiele ihrer Clubs noch leisten können, verfolgen die Matches trotz der Regelung dann jedoch oft im Stehen und geraten dabei in Konflikt mit den sitzenden Fans und den Sicherheitskräften. Im Jahre 2002 haben sich schließlich Fans und Fan-Clubs zu einer Dachorganisation, der Football Supporters Federation (FSF), zusammengeschlossen. Die FSF ist eine demokratisch organisierte Vereinigung von über 180.000 Fans und Fan-Clubs aus England und Wales, die sich zum Ziel gesetzt hat, gegen das Stehplatz-Verbot vorzugehen. Die Hauptüberzeugung der FSF ist es, dass die Zuschauer die Wahl haben sollten, ob sie in den Stadien lieber stehen oder Sitzen möchten. Die Entscheidungsgewalt diesbezüglich soll daher nicht länger über den Football Spectators Act geregelt, sondern in die Hände der Vereine gegeben werden. Diese sollen dann entscheiden, ob sie in ihren Stadien Stehplatztribünen haben wollen oder nicht. Als Musterbeispiele für „sicheres Stehen“ werden von der FSF vor allem die deutschen Stadien angeführt, deren Tribünen mit sogenannten Varioseats ausgestattet sind. Derartige Sitze sind variabel und ermöglichen es den Clubs, ihre Tribünen je nach Bedarfsfall als Stehplatz- beziehungsweise Sitzplatztribüne zu nutzen. Laut Jon Darch von der FSF genügen derartige Sitze auch den momentan geltenden Sicherheitsansprüchen: „Wenn Leute in Großbritannien an Stehplätze denken, dann denken sie fast ausschließlich an alte „terraces“, wie es sie im Hillsborough-Stadion gab. Heute, mehr als 20 Jahre nach dem Unglück, haben wir jedoch andere Möglichkeiten. Die Installation von Varioseats würde auf einer Tribüne Reihen von Wellenbrechern bilden, hinter denen die Fans sicher stehen könnten“, erklärt Darch. Zudem kritisiert die Vereinigung, dass die All-Seater-Regelung nur für die Stadien in den zwei obersten Fußball-Ligen gültig ist. So dürfen Rugby-Fans ihre Teams im Stehen unterstützen, während die Fußball-Fans in dem selben Stadion die Spiele im Sitzen anschauen müssen. Darüber hinaus gilt die Regelung nicht für Clubs der unteren Fußball-Ligen, was dazu führt, dass viele Anhänger sich fragen, ob die Stadionsicherheit mit dem sportlichen Erfolg ihrer Clubs zusammenhängt. Ein weiteres Argument der FSF für die Wiedereinführung von Stehplätzen ist, dass die ständigen Konflikte zwischen denen, die auf Sitzplätzen stehen und denen die dadurch in ihrer Sicht beeinträchtigt werden, ein Ende hätten, wenn die Fans auswählen könnten, was sie bevorzugen. Eine Umfrage der Organisation Football Fan Census (FFC), an der 2.046 Fans von 159 Clubs teilgenommen haben, hat ergeben, dass 92 Prozent der Fans gerne selbst entscheiden würden, ob sie ein Spiel im Sitzen oder im Stehen verfolgen. Auf die Frage ob sie es ein Spiel lieber im auf einem Steh- oder einem Sitzplatz verfolgen würden, entscheiden sich 69 Prozent für den Stehplatzmöglichkeit. Die Befürworter von reinen Sitzplatzstadien führen ihrerseits als Argument an, dass erst durch Inkrafttreten der Regelung von 1994 die Arenen Großbritanniens zu sicheren Orten geworden sind: „Die Vorteile von All-Seater-Stadien überwiegen klar. Sie haben dazu geführt, dass mehr Kinder und Frauen ins Stadion kommen. Und egal wie sicher Stehplatz-Tribünen gemacht werden können, sie werden nie so sicher sein wie Sitzplatz-Tribünen", erklärt Premier-League-Sprecher Dan Johnson. Dieses Argument halten die Fans von der Basis jedoch für fadenscheinig. Sie sind der Auffassung, dass die Clubs Sitzplätze unbedingt für Familien mit Kindern halten wollen, da sie bei diesen mehr Merchandising-Produkte absetzen können. So verschiebt sich der Fokus der Debatte, in deren Anfängen es um Stadionsicherheit ging, nun in den Bereich wirtschaftlicher Interessen. Am 8. Dezember 2010 brachte der Politiker Don Foster für die FSF mit einer Rede im britischen Unterhaus einen Gesetzesentwurf zur Wiedereinführung der Stehplatzmöglichkeit in britischen Stadien, den Safe Standing Bill, auf den Weg. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Entwurf alle Hürden nimmt und als Gesetz verabschiedet wird, hält aber selbst die FSF für gering. Ihr geht es primär darum, mediale Aufmerksamkeit zu erwecken und sich Gehör für das Anliegen der Fans zu verschaffen, die man immer seltener von den Rängen singen hört. Ob diese ihr Recht zu stehen zurückerhalten werden, lässt sich auf kurze Sicht kaum abschätzen. Sicher ist nur, dass der Streit um die Einführung der Safe Standing Areas längst nicht mehr allein mit Argumenten der Stadionsicherheit geführt wird, sondern bereits stark von finanziellen Interessen geprägt ist. (Stadionwelt / Thomas Söhn, 03.08.2011) Mehr Informationen über die Stehplatzdebatte in englischen Fußballstadien gibt es am kommenden Freitag in einem Interview mit Jon Darch von der Football Supporters Federation.